Sprache ist mehr als ein Medium der Verständigung

Interview mit mit Jürg Dreier

Im Rahmen des Solothurner Jahresportrait 1999 (Austellung/Katalog Kunstverein Solothurn) geführtes Gespräch mit Jürg Dreier in seiner Atelier-Wohnung in einem kinderfreundlichen Altbau in Rüttenen, 02.06.1999

Einerseits habe ich das Gefühl, Sie seien schon immer Teil der Solothurner Kunstszene, andererseits kann ich mich kaum erinnern, wo und wann ich bildnerische Arbeiten von Ihnen gesehen habe. In welchem Verhältnis stehen Sie zur Kunstszene, zum Kunstbetrieb?
Seit 1983 bin ich Mitarbeiter des Kunstmuseums Solothurn, das ist eine lange Zeit. Aber auf die Kunst bin ich nicht via Museum gestossen; eher hat die Arbeit im Kunstmuseum mein eigenes Schaffen verändert; mir die Augen geöffnet. Nach der Schule war ich auf der Suche. Ohne eine grosse Ahnung von Kunst zu haben, begann ich für mich selbst zu arbeiten und nebenher zu „jobben“. Ich beschäftigte mich damals unter anderem mit Fotografie und erwog auch eine Ausbildung in diese Richtung, doch schon im Eignungsgespräch an der Schule für Gestaltung in Zürich merkte ich, dass die Fotofachklasse nicht das war, was ich suchte. Bezeichnenderweise ging dann mein Fotoapparat kaputt – das heisst ,der Auslöser funktionierte nicht mehr und so wandte ich mich Anderem zu.

Gab es denn in der Zeit um 1980 schon Ausstellungen, an denen sSe sich beteiligten; gab es da eine klare Zielsetzung „Kunst“ und „Künstler“?
Ich bin nicht die Person, die sich gerne in den Vordergrund stellt, aber Träume gab es damals natürlich schon und erste kleine Ausstellungsbeteiligungen auch, zum Beispiel 1982 im Restaurant „Esel“. Die entscheidende Wende kam indes erst 1984.

Da arbeiteten Sie bereits im Museum, da müssen – fast logischerweise &shyp; wesentliche Erfahrungen stattgefunden haben. Können Sie diese umschreiben?
Ich arbeitete damals als „Aufsicht“ im Museum. Da hatte ich viel Zeit zu schauen, auch hinter die Kulissen. Plötzlich war da auch die ganze Kunstgeschichte, der ganze Kunstbetrieb wie ein offenes Buch vor mir. Das hat mir einerseits die Realität des Kunstbetriebs vorgeführt, mich andererseits aber auch inspiriert. Ich begann Vieles zu hinterfragen; auch, ob ich, angesichts der Heerscharen von Kunstschaffenden, da wirklich hinterherrennen wollte. Ich bin kein guter Verkäufer meiner selbst; so musste ich lernen mit dem Zwiespalt zu leben.

Die frühesten Schriftbilder in ihrem Werk datieren von 1984; und von Anfang an waren sie dadurch charakterisiert, dass sie sich mitteilten und verweigerten zugleich. Die Schrift war da, aber ihre Sprache war nicht leserlich. Sie als Reaktion auf die Arbeit im Museum zu bezeichnen , ist da eigentlich naheliegend, doch wie fanden Sie dazu?
Durch Zufall. Ich beteiligte mich an einer Gruppenausstellung in der Schopfgalerie in Solothurn. Als ich eines Abends die Ausstellung hütete und niemand kam, begann ich die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, aufzuschreiben und als das Blatt voll war, drehte ich es um 90 Grad und schrieb weiter. Plötzlich hatte ich ein Papier vor mir, das vollgeschrieben war und gleichzeitig schwieg.

War das so etwas wie eine Initialzündung, die von da an ihr gesamtes Werk bestimmt?
So schnell ging es nicht; anfänglich blieb das Papier einfach liegen; erst als es mich quasi nicht losliess, begann ich die Idee weiterzuverfolgen und es entstand eine Art Konzept daraus.

Die zentrale Frage, die sich stellt, ist: Kann man soviel denken, dass man über Jahre hinweg immer Neues zu schreiben hat ,oder wurden die Arbeiten zu einer Art Tagebuch ,oder gibt es auch Arbeiten mit abgeschriebenen Texten?
Es sind immer eigene Gedanken, die ich notiere, aber es ging bald einmal nicht mehr darum, etwas Fortlaufendes zu formulieren, sondern um den Prozess des Schreibens an sich. Das heisst, es ist durchaus möglich, dass ich Sätze repetiere, fliessen lasse, ohne sie im Detail auf ihren Inhalt hin aufzuschreiben.

Das heisst, ihre Arbeiten sind nicht mit Robert Walsers Mikrogrammen vergleichbar?
Nein, würde jemand versuchen, die Blätter zu entziffern, wäre er wohl enttäuscht, denn ich bin kein Literat; es geht mir um das Phänomen der Sprache, die mehr ist als ein Medium der Kommunikation. Ich habe manchmal Mühe, die Dinge der Welt zusammenzubekommen, da ist Schrift wie ein Gefäss, das aufnimmt. Das Schreiben selbst ist Sprache – Körpersprache.

Inwieweit haben Ihre Arbeiten – so betrachtet – kalligrafischen Charakter, sind sie eine Art stumme und zugleich beredte Meditationsübung fernöstlicher Qualität, ansatzweise vergleichbar mit dem Schaffen eines Mark Tobey, eines Jan Hubertus?
Mit Kalligrafie haben meine Arbeiten meiner Ansicht nach nichts zu tun. Kalligrafie ist eine Art „Schauschreiben“ mit einer ästhetischen Zielsetzung. Um das geht es mir überhaupt nicht; ich schreibe sehr schnell; es geht eher um Menge und Fülle als um das Erscheinungsbild. Ich mag es, wenn ich höre, wie die Feder kratzt und sich bewegt und bewegt. Ich will schreiben, nicht „schönschreiben“.

Nun bringen Sie ja dieses Schreiben oft auch in eine Form – eine konstruktive oder geometrische – oder Sie wählen eine materialgegebene Form als Basis. In welcher Beziehung stehen Form und Schrift?
Die Form ist mir eigentlich sehr wichtig. Sie trägt und gestaltet die Schrift im Bild. Sie schafft Beziehungen zwischen Material, Schrift und oft auch Farbe. Sie ist das „Gesicht“ des Bildes. Sie wirkt auf den Betrachter; die Form schafft – paradoxerweise – Kommunikation. Oft ist es ja nicht die Schrift, welche die Form bestimmt, sondern umgekehrt. Das Beschriebene wird zum Element in einer gestalteten oder vorgegebenen Formstruktur. Wenn ich Papiersäcke oder Kaffeefilter oder Ähnliches als Basis nehme und ganz oder teilweise beschreibe, dann sind das zwei verschiedene Ebenen, die sich aber im Bild treffen und Spannung erzeugen. Es ist, als würde das Geschriebene zur „Geschichte“ des Bildgesichtes. Dabei ist mir auch das Moment des Alltags wichtig – das gewöhnliche Packpapier, der Sack, der auch für Äpfel oder Tomaten gebraucht werden könnte, der Filter, der normalerweise nach einmaligem Gebrauch auf dem Misthaufen endet. Die Schrift, die Sprache gehören hier dazu; ich will ja nicht Philosophisches verschlüsseln, sondern die Sprache, die uns ständig begleitet, als Fülle ohne Worte zeigen. Nicht das Lesen ist wichtig, sondern die Sprache.

Ich sehe die Bedeutung der Form, die zuweilen auch spannende Transparenz miteinbezieht, doch das, was mich an Ihren Arbeiten fasziniert, ist schon primär dieses Erzählen und dann wieder Zurücknehmen. Eine Art Zwiespalt – ein Begriff, den Sie gleich zu Beginn gebraucht haben, als Sie von ihrer Arbeit im Museum erzählten. Wie ist dieses Verhältnis zwischen Kunst-Ort für Künstler, die es – mehr oder weniger – „geschafft“ haben und ihrem eigenen, nur selten Öffentlichkeit erreichendem Werk heute?
Seit langem bin ich ja als Museumstechniker angestellt; wobei ich auch die Bibliothek betreue. Da ist der direkte Austausch mit den Künstlern natürlich sehr viel grösser, direkter auch. Das ist spannend, umsomehr als man die Künstler beim Hängen von einer anderen Seite kennenlernt als nur vom Werk her. Den Aufbau der Ausstellung Ben Vautier zum Beispiel werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Gleichzeitig ist der Zwiespalt zwischen meiner äusseren Museumstätigkeit und meiner innerer Kunst-Welt , der materiellen und der ideellen Seite des Lebens, aber schon immer ein Thema. Im Museum bin ich der Dienende, der hilft, dass Kunst adäquat gezeigt wird. Da bin ich nicht Künstler &shyp; und bin es gleichzeitig doch. Ich beteilige mich zum Beispiel auch nur selten an den Jahresausstellungen; ich kann ja nicht der Jury – wenn ich Arbeiten in den Räumen vorbereite und wieder wegstelle – meine eigenen Bilder präsentieren.

Ich kann mir vorstellen, dass das zuweilen schmerzhaft ist. Wie ist es dann, wenn – wie kürzlich – eine Lucia Coray im Graphischen Kabinett in Solothurn ausstellt, zu deren Werk es ja in Ihrem Schaffen gewisse Bezüge gibt? Ich denke an das Repetitive ihrer Köpfe, die ja auch in gewissem Sinn „Schriftzeichen“ sind, an das Rituelle des Unablässigen, an das Form bis an die Grenze Füllende.
Gewiss gibt es da eine Verwandtschaft und ich finde es schön, jemanden zu treffen, der mit dem eigenen Schaffen in Beziehung steht. Ich muss mich da nicht abgrenzen, zumal ich denke, dass es zwar vergleichbare Ansätze gibt – das Dranbleiben, das nicht Aufhören, immer Dichterwerden–aber letztlich gibt es auch grosse Unterschiede.

Ist es, dass die Schrift trotz allem immer näher am Geschehen ist? Dass unleserliche Schrift immer latent ein Moment der Kritik, des Misstrauens – vielleicht auch des Unterdrückens oder des Unterdrücktseins – mitbeinhaltet, ob man das will oder nicht. Da ist doch immer die Neugierde, was es dann heissen würde, wenn man es lesen könnte.
Eigentlich hat diese Seite mehr mit dem Publikum zu tun als mit mir. Ich bin kein gewandter Redner oder Schreiber. Aber es ist schon so, dass ich denke, dass zu wenig überlegt mit Sprache umgegangen wird; dass die riesigen Mengen von Sprache, die wir täglich produzieren, sich oft schon am nächsten Tag als unwesentlich erweisen und darum wieder neue Formulierungen fordern. Sprache hat nichts mit Wahrheit zu tun, man kann sie für alles brauchen, auch für Lügen. Da ist mir eine Sprache, die ich spüre, eine Sprache, die in mir wirkt, eine Sprache, die nicht darauf ausgerichtet ist, gelesen zu werden, als offene Struktur näher.

Gibt es da etwa eine Parallele dazu, dass sie am liebsten Altpapier verwenden?
Vielleicht, denn wir können ja heutzutage nichts grundsätzlich Neues mehr machen in der Kunst. Und überdies gibt es soviel Kunst wie nie zuvor. Warum also Neues für den Abfall produzieren? Besser man nimmt gleich das Gebrauchte, das bereits eine Geschichte hat und wandelt es weiter.

Wenn ich mich in Ihrem Wohnatelier umschaue, sehe ich da neben künstlerischen Arbeiten und dazugehörende Materialien jede Menge Schallplatten, CD-Ständer, Stereoanlage … was verbindet Sie mit der Musik?
Auch Musik ist Sprache ohne Worte. Musik bedeutet mir sehr viel; ich brauche Musik; ich höre auch Musik, wenn ich arbeite. Eine Zeit lang habe ich im Kreuz in Solothurn Konzerte veranstaltet. In der Musik ist der Kontrast zwischen Kommerz und freiem Musizieren viel grösser als in der Kunst. Das hat den Vorteil, dass es viele Nischen gibt, wo Spannendes jenseits der Musikindustrie entsteht. Ich liebe Musik in vielfältigster Form, Jazz bis Dub, Experimentelles, zeitgenössische E-Musik usw.

Gibt es in ihrer Schallplattensammlung etwas, das unmittelbar auf die bildende, künstlerische Arbeit hinweist?
Das ist schwer zu sagen. Doch ich habe eine Platte, da ist jede der 250 Rillen in sich geschlossen. Die Musik, die auf einer Umdrehung Platz hat läuft unendlich weiter. Vielleicht spielt da etwas hin und her. Und dann ist da natürlich die Verbindung von „Laut“ und „Sprache“; auch Geschriebenes klingt. Ich habe einmal eine Arbeit gemacht, die geschriebene und musikalische Sprache direkt verband. Das war 1994, als ich ein Werkjahr des Kantons Solothurn erhielt und dann eingeladen war, im Stadthaus in Olten auszustellen. Da machte ich zusammen mit Pedro Haldemann eine Art Glaskabine, deren Wände in Formstrukturen beschriftet waren, während man im Innern mit Kopfhörern die Kompositionen von Pedro hören konnte. Beide Ausdrucksformen thematisierten die vier Windrichtungen. Im Nachhinein empfinde ich meinen Teil der Duo-Arbeit indes als zu wenig persönlich, zu wenig von Innen heraus.

Das heisst mit anderen Worten aber klar, dass das Schreiben nicht nur „automatische Sprache“ ist, sondern ganz klar Ihr Sprachrohr, dass Sie persönlich viel stärker in ihrem Schreiben drin sind als das bisher zum Ausdruck kam. Müssten wir da etwa über die Nähe Ihres Schaffens mit jenem eines Cy Twombly nachdenken?
Gewiss gibt es Nähen da und dort, aber sie sind alle anders –Mumprecht, Vautier, das hat nichts mit mir zu tun und auch bei Cy Twombly ist es Schrift, nicht Sprache, die den Ausdruck ausmacht.

Wenn ich Ihr Palmares anschaue, so kommt immer wieder diese Verblüffung; ihr Selbstverständnis als Künstler und ihre Stummheit im Kunstbetrieb; in den letzten Jahren gab es nicht eine einzige Einzelausstellung. Die Parallele zu dem, was Ihr Werk ausmacht, ist offensichtlich.
Ich mag halt einfach nicht rennen und dann habe ich auch nicht immer Zeit, lange genug an der Arbeit zu sein. Da liegen grossformatige Papiere bereit, aber das braucht Tage, um da ganz in den Rhythmus zu kommen. Oft merke ich, dass wenn ich aufhöre, wenn ich gehen muss, dass dann die Arbeit eigentlich erst beginnen würde. Darum bin ich auch daran, für das Solothurner Portrait einen Zyklus aus Kleinformaten vorzubereiten.

Sie arbeiten mit Postkarten von Cuno Amiet – ein Kunstgespräch, das ist etwas Neues, wie kam es dazu?
Es sind Fehldrucke. Das heisst beim Druck einer Postkartenserie des „Paradies“ von Cuno Amiet geschah ein Fehler; die Serie sollte eingestampft werden. Für mich sind sie in gewissem Sinn wie die Kaffeefilter oder Papiersäcke – etwas Vorgegebenes, das zur Kommunikation einlädt. Um Amiet geht es dabei nicht, sondern lediglich um die Formen und Farben, die als Basis da sind. Dabei entstehen die verschiedensten Zustände. Je mehr Bild weggeht, desto mehr Schrift ist da. Je mehr Transparenz ich lasse, desto mehr tritt der Hintergrund dazu. Oft sind das mehrere Schichten, das heisst, ich be-schreibe die Karte, schmirgle die Schicht wieder ab, manchmal bis auf den Grund des Papiers. Alles ist da möglich.

Ich finde das sehr spannend, denn im Kern ist es ja wieder ein Spiegel Ihrer eigenen Situation, Ihres ständig um sogenannt gültige Kunst herum Seins und gleichzeitig als Künstler im Hintergrund Stehens. Wieder ist es das Schweigen, das dahinter Wirkende, das sich schliesslich vom anderen ins eigene Bild wandelt. Auch wenn Sie sagen, dass es nicht um Amiet geht, so scheint mir doch die Kunstpostkarte eine wesentliche Basis, welche die Art der Sprache, die Sie in Schriftrhythmen umsetzen, bestimmt.
Wichtig ist mir hier auch zu zeigen, dass Wiederholung nichts Langweiliges ist, sondern dass in der Wiederholung, das ja eine Art additives Prinzip ist, ganz viel passiert. Die Wiederholung ist ein langsames Weggehen, um etwas Verselbständigtem Raum zu geben.