Albert Anker in Ins 2000

Der Meister im verlorenen Paradies

www.annelisezwez.ch  Annelise Zwez in Bieler Tagblatt 15. September 2000

 

Während dreier Jahre hat sich Ins im Bieler Seeland auf die dritte grosse Ausstellung „ihres“ Albert Anker vorbereitet. Die Sporthalle ist (fast) ein Museum geworden und fast scheint es, der Meister sei persönlich anwesend.

Mit einem beispiellosen Engagement, wie es immer dann ertsteht, wenn kulturelle und wirtschaftliche Interessen zusammenfinden, haben die Inser „ihrem“ grossen Maler Albert Anker (1831 – 1910) zum dritten Mal eine umfangreiche Ausstellung eingerichtet. Und eine Logistik aufgebaut, welche die erwarteten 100 000 Besucher den Bildern entlang zu schleusen vermag. Das 37 x 29 Zentimeter grosse Oelbild „Maurice mit Huhn“ aus dem Jahr 1877 wirbt als Weltformat-Plakat landauf, landab für die Ausstellung des populärsten aller Schweizer Maler. Dass das lichterfüllte Porträt des Malersohnes im Alter von vielleicht vier Jahren als Aushängeschild gewählt wurde, ist Programm. Sekundarlehrer Rudolf Wirz – ein Zugezogener, wie er sagt – hat, von Therese Battacharia vom Kunstmuseum Bern beratend begleitet, eine sehr persönliche, über Strecken fast biografische Ausstellung konzipiert. Die von einem ebenso auf die Person Albert Ankers ausgerichteten Rahmenprogramm begleitet ist. Das ist nicht ohne Tücken, aber möglicherweise die richtige Entscheidung für eine Ausstellung im Dorf, das Albert Anker zeitlebens für seine Malerei Modell stand. Wo der Nachlass des Künstlers im einstigen Atelier des Künstlers selbst aufbewahrt wird und, so Matthias Brefin, „immer noch unbekannte Kostbarkeiten zu Tage fördert“. Da ist in der Ausstellung zum Beispiel eine blau-rote Skizze, die in anderem Kontext nie und nimmer als Anker wiedererkennbar wäre. Sie zeigt, mit eiligen Stiften festgehalten, einen Mann, der einen Knaben übers Knie legt und ihm eine Tracht Prügel erteilt; unklar ist, auf wessen Seite der am Hosenbein des Knaben ziehende Hund steht. Auch das ist also Anker; bevor das künstlerische Gewissen die Dinge in seine Bahnen lenkt.

Die Zusammenarbeit mit der Anker-Haus Stiftung ist ein nicht unwesentlicher Aspekt der Ausstellung. Denn neben Oelbildern, Aquarellen und Zeichnungen aus öffentlichem und privatem Besitz zeigt diese auch zahlreiche Skizzen, Fotos, Briefe und – in speziellen Wand-Nischen – Gegenstände, die, vor allem in den Stillleben in gemalter Form erscheinen. Albert Anker hat, dem 19. Jahrhundert entsprechend, seine Bilder frei komponiert – er hat zuweilen Bergkuppen da eingesetzt, wo es für die Komposition wichtig war, Gesichter aus verschiedenen Menschen, Räume aus verschiedenen Orten zusammengesetzt – aber alle Teile hat er nach Modell gezeichnet respektive gemalt. Hier wurzelt die Idee, die Ausstellung „Wege zum Werk“ zu nennen, das heisst die gültigen, oft bekannten Werke ins Umfeld ihrer Modelle und Vorstufen zu stellen. Schliesslich wurde dieser Aspekt allerdings ungenügend ausgearbeitet. Zwar gibt es da die Kannen, Teller und Tassen und auch Figurenstudien, Bildskizzen oder Landschaftsaquarelle, die in direktem Kontext zu Oelbildern stehen, aber ausstellungsbestimmend sind sie nicht.

Aufschlussreicher ist es, den Titel als Wege zum Verständnis des Werkes oder Hintergründe zum Werk zu interpretieren. Und dies in doppeltem Sinn; malerisch zum einen, biografisch zum andern. Die nicht chronologisch, sondern über weite Strecken thematisch aufgebaute Ausstellung stellt zum Beispiel ähnliche Bildsujets zueinander in Beziehung und zeigt so, wie Anker dasselbe Motiv im Laufe der Zeit immer wieder variierte. Da ist zum Beispiel eine Aquarell-Reihe: „Strickender Alter“, „Strickendes Mädchen“, „Strickende Alte“ und „Alte Frau strickend“. Oder: „Alter Wein u. Bretzeln“ und „Der neue Wein“. Oder „Rotkäppchen“ und „Mädchen mit Katze“. Oder: „Der Wucherer“ und „Der Zinstag“. Oder: „Die Genesende“, „Die kleine Freundin“ und das „Kinderbegräbnis“. Der Blick des Kurators ist dabei nicht ein kunstwissenschaftlicher, das heisst, nicht auf Formales oder die „Peinture“ Betreffendes ausgerichtet, sondern sehr viel mehr auf den erzählerischen, inhaltlichen Aspekt. Das ist zuweilen schade, denn es ist die Malerei als Malerei, welche die besten Bilder Ankers zu etwas Besonderem machen. Die Bilder sind – mit Ausnahme der grossen Figurenkompositionen – ja oft sehr einfach: Ein Mädchen, das sich die Zöpfe flicht und fertig. Dass dieses Mädchen schliesslich für mehr steht, dass es zum Sinnbild für Licht und Mensch wird, geschieht über das Medium der Malerei. Ist das Bild so gut, wie es das Herz wollte, fragte sich Anker oft und suchte weiter – in der Malerei. Das kommt in der Ausstellung nicht ganz zum Tragen – da hat die Anker-Ausstellung, die letztes Jahr in der Fondation Saner in Studen stattfand, in der Erinnerung die Nase vorn.

Die Inser Schau betont Anderes: Sie stellt zum Beispiel im ersten, ganz betont biografischen Kabinett eine Foto des Ehepaars Anna und Albert Anker neben das in historisierendem Stil gemalte Frühwerk „Hiob und seine Freunde“ und den ebenfalls im Banne von Ankers Lehrer Charles Gleyre (1806 – 1874) stehenden „Verlorenen Sohn“. Und schliesst ab mit einem kleinen Selbstbildnis aus dem Jahre 1891 (also gut 30 Jahre später). Da wird das bürgerliche Leben Ankers, die Prüfungen seines Lebens, der Konflikt mit seinem Vater und gleichzeitig sein eigener mit Sohn Maurice aus dem Blick des alternden Künstlers thematisiert. Geht man noch weiter und nimmt den erstmaligen Besuch des erst kürzlich wiedergefundenen Enkels des nach Amerika ausgewanderten Maurice dazu, wird die Geschichte so privat, dass sie – im Kunstkontext ausgebreitet – fast peinlich wird. Ähnlich wie den einzelnen Wänden oder Kabinetten überschriebene Anker-Zitate zum Teil moralisierende Momente einbringen, die dem malerischen Werk mehr schaden als nützen. Völlig überflüssige Konstrukte sind ferner die Mondrian-, Klee- und Picasso-Zitate im Foyer.

Viel eindrücklicher ist Anderes: Zum Beispiel wie Anker seine überreichen Erfahrungen mit dem Tod – insbesondere dem Tod von Kindern – in Malerei umgesetzt hat. Die Reihe der „Genesenden“, der „Kleinen Freundin“ (auf dem Totenbett) und dem „Kinderbegräbnis“ gehört nicht nur zum Schönsten in der Ausstellung. Sie zeigt auch, wo Anker nicht – wie im Formalen – seiner Zeit hintennachhinkte (seine Bilder entstanden parallel zum Impressionismus), sondern seiner Zeit voraus war. Nämlich in der Fähigkeit, Gefühle visuell umzusetzen. „Die kleine Freundin“ von 1862 thematisiert den Tod – für den Anker immer die Farbe Weiss einsetzte – in einer durch Haltung und Licht eingefangenen Dichte, die den entsprechenden Werken von Edvard Munch und Ferdinand Hodler eindrücklich vorausgeht. Und das grossformatige „Kinderbegräbnis“ von 1863, das kompositionell Bezug nimmt zu einem ähnlichen Bild von Gustave Courbet aus dem Jahre 1850, zeigt nachhaltig, wie Anker – im Gegensatz zu Courbet – die Figuren nicht nur als Kompositionselemente einsetzt, sondern jede einzelne Figur als vom Ereignis betroffenes Individuum zeigt. Dadurch wird die Trauer sichtbar.

Es zeigt sich an diesen beiden Bildern aus den 60er Jahren – noch vor seiner Heirat – wie früh Ankers beste Zeit anzusetzen ist. Schon in den 80er Jahren werden herausragende Werke selten und die Entwicklung bleibt stehen. Was dem Künstler nicht verborgen bleibt und worunter er auch litt. Nur wenige Spätwerke deuten auf neue Einflüsse, etwa Ferdinand Hodlers. Die grosse „Kinderschule auf der Kirchenfeldbrücke“ von 1900, die ein Beispiel dafür ist, fehlt in der Ausstellung – „wir wollen nicht die bekanntesten Werke zum xten Mal ausstellen“, sagte sich Rudolf Wirz beim Zusammenstellen der Wunschliste sinnvollerweise. Deutlich erkennbar ist der reduzierende, geometrische Form betonende Einfluss jedoch in den in Ins ausgestellten „Konfirmandinnen“ von 1901, einem Werk, das Anker nicht mehr fertig malen konnte, da er während des Malens einen Schlaganfall erlitt, von dem er sich nie mehr ganz erholte. Hier zeigt auch eine Oelstudie sehr eindrücklich, wie Anker seine Figuren – einem Choreograph gleich – in vorbereitete „Bühnenbilder“ – hier eine Landschaft, andernorts eine Bauernstube – hineinkomponierte, jede auf ihre Art Mensch.

Der gute Onkel Albert Anker (Kommentar)

Er lebe so sehr mit Leib und Seele in Paris, schrieb der 24jährige Albert Anker 1855 an seine Tante, dass er riskiere ganz ein Pariser zu werden. Doch am Schnitt seiner Hosen und am Inser Rock errate das geübte Auge wohl seine Herkunft aus der Provinz. Die Gegensätzlichkeit, die im Brief des jungen Studenten anklingt, prägte Ankers Leben; als Zwiespalt. Dass er sich zuweilen selbst widersprach, ist Ausdruck davon. In seinen Bildern versuchte er die beiden Pole zu befrieden; er wollte ein Maler auf der Weltbühne sein und seine provinzielle Herkunft nicht verleugnen, Künstler und Bürger im Geist des 19. Jahrhunderts zugleich sein. Ins war ihm Bühne für seine Vision. Zufrieden war er nie und je älter er wurde, desto mehr plagte ihn, keine Kraft zum Aufbruch mehr zu haben.

Umgekehrt dazu verlief die Rezeption seines Werkes, gespickt mit ebenso viel Ambivalentem wie Albert Anker selbst in sich trug. Je mehr er zum Inser wurde, weil ihm das Hin und Her zwischen Paris und der Schweiz zu anstrengend wurde, desto mehr feierte man ihn; gegen seinen Willen und über seinen Tod hinaus. Dabei machte man den einstigen Theologiestudenten zum Pfarrer und den Künstler zum Illustrator für christliche Moralvorstellungen. Sätze aus Briefen Ankers wurden zu künstlerischen Konzepten erhoben. Anker wurde zum Symbol, das sich für Widerständigkeit gegenüber gesellschaftlichen Zerfallserscheinungen, gegenüber technischen Neuerungen, gegenüber der Abstrakten Kunst, oder – umgekehrt – für die Idealisierung schweizerischen Bauerntums, für die Würde des Menschen in Armut, für die Gnade Gottes im Bild des Menschen instrumentalisieren liess. Eine fatale Entwicklung, die in den letzten Jahren durch die Gleichschaltung Ankers mit der Ideologie von Christoph Blocher (dem grössten Privatsammler von Werken Ankers) noch verstärkt wurde. Anker ist nicht mehr nur ein Künstler, sondern ebensosehr ein Markenartikel. Und erst noch einer, der sich ausgezeichnet verkaufen lässt.

Dass die Inser am Mehrwert „ihres“ Malers teilhaben wollen, ist ihnen nicht zu verargen. Sie können sich darauf berufen, dass schon Anker gewissenhaft darauf bedacht war, genügend Einkünfte für seine Familie zu erwirtschaften. So hätte der Künstler vielleicht sogar seine Freude daran, als guter Onkel die Finanzen für die geplante kulturelle Begnungsstätte zu sponsern. Doch da bleibt der kleine Kobold, der uns im Traum erschien und sagte, er habe im „Bären“ eine „Alte Dame“ bei einem Glas Wein sitzen sehen, die – entfernt zwar nur – dürrenmattsche Züge gehabt habe. Was meinte er wohl damit?

Die Ausstellung, welche die Inser für Albert Anker eingerichtet haben, ist nicht einseitig auf eine weitere Popularisierung Ankers ausgerichtet. Sie gilt dem Künstler und seiner Suche nach dem Besten. Das ist ihre Qualität und ihre Integrität. Dass wohl an die hundert Tausend mit ihren Brieftaschen nach Ins pilgern werden, beruht aber dennoch auf dem Cliché des „heiligen“ Ankers, des grossen Überschweizers selig. Das kann die Ausstellung nicht ändern. Das mag des Kobolden „Alte Dame“ bei ihrem Besuch in Ins gespürt haben; sie habe zum Fenster hinaus geschaut und gelächelt, sagte er.