Bice Curigers Hypermental im Kunsthaus Zürich 2001

Die Realität zwischen Wahn oder Wirklichkeit

annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 22. November 2000

Einmal mehr straft Bice Curiger die Kunstgeschichte Lügen. Im grossen Saal des Zürcher Kunsthauses zeigt sie Kunst als Collage von Wahn und Wirklichkeit, Fantasie und Cyberspace: „Hypermental“.

Bice Curiger hat 1982 als junge Kunsthistorikerin die bis heute gültigste Monographie zum Werk von Meret Oppenheim geschrieben. Komplexe surreale Vorstellungswelten sind Teil des „Rucksacks“ der Gastkuratorin am Kunsthaus Zürich. Diese Prägung und die intensive Beschäftigung mit Gegenwartskunst haben sie erkennen lassen, dass „Surreales, das nicht dem Surrealismus entspricht, die Kunst massgeblich prägt“, wie sie an der Pressekonferenz sagte. Daraus entstand in mehrjähriger Arbeit das ebenso spannende wie unorthodoxe Projekt „Hypermental“. Es umschreibt ausgehend von Salvador Dali und frühen Pop-Artisten wie Richard Hamilton und James Rosenquist einen „exaltierten“ Mentalraum, in dem sich Rationales und Irrationales, Objektives und Subjektives frei durchdringen … in dem sich Lebenswirklichkeit mit Virtuellem, Reflexivem und Instinktivem kurzschliesst“.

Die Ausstellung zeigt in einer ebenso sinnlichen wie eindringlichen Schau, wie sehr die Gleichzeitigkeit von medialen und wirklichkeitsbezogenen Bildern unsere Vorstellungswelt, und damit unser Denken, prägt. Eindrücklich wird dargestellt, wie die Kunst früh begonnen hat diese Doppelbödigkeit von virtuellen und realen Bildern collageartig zu überlagern und wie sie dies bis heute quer durch Themen, Medien und Stilrichtungen tut. Zwei konträre Schlüsselwerke mögen dies erläutern: Eine Art „Logo“ der Ausstellung ist eine effektvoll ausgeleuchtete und vielversprechend reflektierende rosarote Schlaufe, wie sie demnächst Tausende von Weihnachtspäckchen zieren wird. Die „Pink Bow“ von Jeff Koons (1996) zeigt auf der einen Seite des Spektrums wie die Konsumwelt mentale Vorstellungen emotional nutzt, wie die Kunstwelt diese Struktur wiederum übernimmt (Jeff Koons gehört zu den höchstdotierten Künstlern Amerikas) und wie sie – im Kontext von „Hypermental“ – gleichzeitig auch entlarvt wird. Ein Werk von Sigmar Polke, das in mehr oder weniger aufgelösten Raster-Schichten die Levitation einer Schere durch einen Priester zeigt, markiert auf der anderen Seite des Spektrums gleichberechtigt die Unergründlichkeit von Wahn und Wirklichkeit.

Bice Curiger geht im Aufbau der Ausstellung nicht von der Chronologie der Entwicklung aus, sondern postuliert eine durchgehende Prägung hypermentaler Strukturen, die sich in verschiedensten Themenbereichen quer durch die Zeit manifestieren. Wie die ersten Kritiken zeigen, stehen Formalisten dabei die Haare zu Berge. Denn da wird unter vielem anderem einem grossformatigen Op-Art Bild von Bridget Riley aus den 60er Jahren eine Fotografie von Damien Hirst gegenübergestellt, die den Kopf des jungen Briten mit dem abgetrennten Schädel eines Winston Churchill ähnelnden Toten zeigt. Curiger dazu: Liest man Rileys Werk für einmal nicht als optische Täuschung, sondern als Angriff auf den Körper, da es einem beim Betrachten „schlecht“ wird, ergeben sich ungeahnte Beziehungen.

Spannend ist wie die Ausstellung den in letzten Jahren eher verfemten Salvador Dali durch eine neue Optik quasi rehabilitiert. Zum Beispiel durch die bisher nie in so spannendem Zusammenhang gezeigte Studie mit dem Titel „Fünfzig abstrakte Gemälde, die aus der Entfernung von zwei Yards zu dreimal Lenin als Chinese verkleidet werden und aus sechs Yards Entfernung wie der Kopf eines Königstiegers aussehen“ (1963). Durch neue Zusammenhänge neue Sichtweisen zu schaffen, zieht sich wie ein roter Faden durch Bice Curigers Konzept. Etwa indem sie Valie Exports längst zu Allgemeingut degradierte Performance mit dem als Hund durch die Gassen geführten Peter Weibel (1968) durch die Kombination mit den sadomasochistischen Verschnürungen des weiblichen Körpers durch Hans Bellmer (1958/59) im Trieb-Kabinett auflädt. Und den Spannungsbogen von Bruce Naumans Audio-Installation „Get out of my mind, get out of my room“ überschallen lässt. Oder indem sie Duane Hansons plastisch in Szene gestellten Angriff eines weissen US-Polizisten auf einen Schwarzen aus dem Kontext des „Hyperrealismus“ nimmt und die Arbeit von 1967 in den Rahmen von „Hypermental“ stellt.

Um die grossangelegte Schau nicht einfach zu einem Plädoyer für die „Realität im Kopf“ verkommen zu lassen, ist sie in sechs Themen unterteilt: „Begehrte Objekte – objekthaftes Begehren“, „Kunst und (Lebens)Wirklichkeit“, „Rrose Sélavy (Eros c’est la vie … et le malheur)“, „Der kollektiv neurotisierte Blick“, „Vexierwelten, Psychedelik, Cybermystik“, „Strahlungen und Atome, Kosmisches“. Ausser dem letztgenannten Kapitel, das in vielerlei Hinsicht abfällt, sind Bice Curiger mehrheitlich eindrückliche Konstellationen gelungen, die von Katharina Fritschs „Geld und Herz“ (eine Herzform aus Münzen) über Barbara Krugers „I shop therefore I am“ (Schriftbild) bis zu Olaf Breunings medial-realen Ritterträumen (Video) reicht oder von Meret Oppenheims „Couple“ über Louise Bourgeois‘ „Fillette“ bis Yayoi Kusamas „Phallus-Boat“.

Zu den herausragenden, neuen Werken der Ausstellung gehört unter anderem das Video „I couldn‘t agree with you more“ von Pipilotti Rist. Vordergründig zeigt es eine im Anblick gereifte Künstlerin in direktem Blickkontakt, wie sie mit eingeblendeten Menschenbildern im Kopf durch die Früchteabteilung der Migros geht und plötzlich doch zuhause aus einem Traum erwacht und dann in ihr Atelier geht. Es ist ein Selbstbildnis zwischen Real-, Traum-, Wunsch-,und Cyberwelt, das sich im durchdringenden Blick auf die Betrachtenden zugleich in deren Mentalraum eindreht.

Die NZZ wirft der Ausstellung unter anderem vor, sie sei kunstgeschichtlich zu wenig kohärent, Alltags-Wissen reiche, um die Ausstellung zu erfassen. Selten ist eine Kritik ein so schönes Kompliment. Zumal Lebensnähe eines der Postulate der jungen Kunst ist. Und zumal die Ausstellung genügend Räume für mentale Vertiefungen bereit hält, wo – das sei nicht verschwiegen – kritische Anmerkungen durchaus Platz haben.