Christian Indermühle Chantal Michel Esther van der Bie Fotografie Kunsthalle Bern 2000

Wenn Bilder die Realität auf den Kopf stellen

www.annelisezwez.ch   Annelise Zwez in Solothurner Zeitung Juli 2000

Die traditionelle „Berner Ausstellung” nicht mehr regional zu benennen, sondern Kunst aus der Region in den internationalen Kontext des Kunsthallenprogramms zu stellen, ist zweifellos richtig.

Im Vorstand des Vereins Kunsthalle Bern, der Trägerschaft des renommierten Berner Ausstellungsinstituts, gibt es eine spezielle Kommission mit dem Auftrag, in Zusammenarbeit mit dem Kunsthallenleiter (Bernhard Fibicher), die jährliche „Berner Ausstellung” zu konzipieren. Wenn sie nun auch nicht mehr so heisst und jedes Jahr ein anderes Gesicht hat (1999 hiess sie „I never promised you a rose garden”), so ist sie nichtsdestotrotz für die Region kulturpolitisch bedeutsam. Widerlegt sie doch zum Beispiel den Eindruck, den man heuer bei der Vergabe der Eidgenössischen Preise für freie Kunst hatte, nämlich dass in Bern nichts los sei.

Die diesjährige Ausstellung mit Fotografien von Christian Indermühle, Esther van der Bie und Chantal Michel (die auch eine Videoinstallation zeigt) spannt, nicht zuletzt durch die Spannweite der Generationen, ein eindrückliches Spektrum des Mediums aus. Gemeinsam ist den drei indes nicht nur das primäre Medium Fotografie, sondern auch die Auseinandersetzung mit dem Real- respektive dem Bild-Raum, den sie mit unterschiedlichen Mitteln aufladen und damit ihn ihrer Wirkung über das Abbild hinausheben.

Bei Christian Indermühle ist es der Architektur-Raum, der im Zentrum steht, bei Esther van der Bie der Lebens-Raum und bei Chantal Michel der Bühnen- oder Film-Raum, wobei sich die Zuordnungen zugleich vermischen. So könnte man sich Chantal Michels Aufnahmen, die zuweilen wie Performance-Stills wirken, durchaus in einem der Bild-Räume Indermühles vorstellen. Kontrastreicher sind paradoxerweise die Arbeiten der beiden deutlich jüngeren Künstlerinnen, obwohl sie beide in der Berner Ausstellung zeigen wie die Welt aussieht, wenn sie Kopf steht und beide mit den Mitteln der Inszenierung arbeiten. Doch der Ansatz, den Esther van der Bie (1962) mit ihrer Installation „Sturzhang” verfolgt, ist ein ganz anderer als jener, den die im Raum „hängende” Chantal Michel (1968) evoziert.

Während die in Arbon geborene van der Bie das Alltägliche mit präzisen und zugleich überraschenden Mitteln aus den Angeln hebt, wählt Chantal Michel die theatralische Verwandlung, die aus einem Bild ganze Geschichten aufsteigen lässt. Während Esther van der Bie Alltag auch im Sinne gesellschaftlicher Verknüpfungen einbezieht, begibt sich die Thunerin Michel mit sich selbst als Rollenträgerin auf die Reise. Van der Bie realisierte die im Hauptsaal eingerichtete Installation zusammen mit Mitgliedern mehrerer Berner Turnvereine, die in ihren Turnhallen im „Sturzhang” (das heisst an den Ringen kopfüber hängend) für die Künstlerin posierten. Indem van der Bie die Fotos verkehrt – oder eben scheinbar richtig – in den Saal hing, scheint es als stünden die Männer und Frauen und Kinder im Raum, ohne den Boden zu berühren. Dass sie nicht im Turndress erscheinen, sondern möglichst alltäglich, steigert die Wirkung. Wobei die klare Verortung der Vertikal-„Skulpturen” im Bild- und im Ausstellungsraum eine weitere Komponente hinzufügt. Die scheinbare Aufhebung der Schwerkraft wird beinahe real.

Auffallend, dass all drei Künstler/-innen nur mit den Mitteln der Kamera arbeiten. Wobei Christian Indermühles Evokation von Raum und Licht am Beispiel gegensätzlicher Architekturen – vom Festsaal zur ausgedienten Fabrik bis hin zum leeren Kunstmuseum – die Technik brillant, aber eigentlich traditionell einsetzt. Esther van der Bie und Chantal Michel arbeiten im Vergleich weniger raffiniert, setzen aber unsere heutige Selbstverständlichkeit digitaler Bildumkehrungsmöglichkeiten ganz bewusst ein, ja kippen sie sogar durch die Auslotung körperlicher Möglichkeiten wieder zurück in den Real-Raum. Gerade das macht die Arbeiten der beiden Frauen in gewissem Sinn „jünger” als jene Indermühles, dessen eindrückliche Hommage an die Architektur als Zeit-, Licht- und Lebensraum eher in den Kontext der grossen internationalen Fotografie gehört. Im Gegensatz zur Ausstellung von 1996 im Centre PasquArt in Biel, steht nicht das „Begehen” der Räume im Vordergrund, sondern eine Steigerung durch Kombination von Gegensätzen – Festsaal kontra ausgediente Fabrik zum Beispiel. Emotionell erreicht Indermühle dadurch indes nicht die Wirkung der Grossformate, durch die er bekannt wurde.

Die Emotionalität gehört in dieser Ausstellung wohl primär Chantal Michel. Obwohl erst seit drei Jahren im Ausstellungsbusiness ist es der Berner Oberländerin gelungen, mit ihren Bildern, die zugleich real wirken wie Sinnbilder für Gefühlswelten sind, zum Shooting Star zu werden. Dass ihre Aufnahmen der Eidgenössischen Kunstkommission bisher keinen Preis wert waren, ist unverständlich. Es hat seinen Grund aber wohl darin, dass sich in Chantal Michels Foto- und Videowelt tatsächlich alles vermischt, was diese Medien in den letzten Jahren und bis zurück zu den Körperbildern der 70er Jahre hervorgebracht haben. Insofern sind sie Mainstream, aber darin von solcher Dichte, Eigenwilligkeit und Schönheit, dass Querassoziationen (von Abramovic bis Pipilotti) hinfällig werden.

Drei brochierte Kataloge (zusammen 32 Franken).

Neue Aera im Projektraum
Der Projektraum im Soussol der Kunsthalle wird neu von Evelyne Jouanne kuratiert. Die französische Kunsthistorikerin startet ihre mit „Sous la Terre, il y a le Ciel” betitelte Ausstellungsreihe mit einer überzeugenden Installation. Die in Paris lebende Chinesin Shen Yuan (geb. 1959) zeigt eine dörfliche Wohn- und Lebenssituation, wie sie ihre Kindheit prägte. Wie sie aber durch den Aufbruch Chinas zur Marktwirtschaft mit grossem Tempo verschwindet. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass es kein Problem war, 3,5 Tonnen nicht mehr benötigter Ton-Ziegel nach Bern zu verschiffen… sie vermitteln der als Blick von den Dächern konzipierten „Erinnerung” nicht zuletzt den richtigen Geruch. Shen Yuan ist eine der wenigen Frauen im China-Boom der aktuellen Kunstszene. Und wie im Westen setzt sie als Frau das persönliche Erleben als treibende Kraft ein.