Tate Modern London Neueröffnung 2000

Gut für die Bildung – tödlich für die Kunst

www.annelisezwez.ch      Annelise Zwez in Bieler Tagblatt Juli 2000

Als im Mai 2000 Tate Modern – Londons Museum für neue Kunst – öffnete, war der Focus der Schweizer Presse primär die Umbau-Architektur von Herzog&DeMeuron. Im Folgenden geht es um die Kunst und wie sie da gezeigt wird.

Dieser Artikel erscheint nicht etwa zu spät – Tate Modern öffnete ihre Tore vor zwei Monaten – sondern zu früh. Denn die Engländer setzen auf Event-Kultur. Und haben Tate Modern angesichts der boomenden Präsenz von „Young British Art” in der internationalen Szene zum Ausdruck neuen, englischen Selbstbewusstseins gemacht. Die Folge: In den ersten sechs Wochen nach der Eröffnung strömten 1 Million Besucher in die alte „Power Station” an der Themse. Tendenz: Anhaltend. Schulklassen, geführte und ungeführte Gruppen jeglichen Alters, Familien mit Kinder(wagen), Rollstühle, Gymnasiasten mit Zeichenblocks, Kunstamateure von jung bis alt wälzen sich durch die Räume. Hauptgrund: Die sozialistische, englische Regierung erachtet den Besuch von Tate Modern als Bildungsauftrag; der Eintritt ins Museum ist darum gratis (wobei man allerdings angehalten ist, einen freiwilligen Obolus zu hinterlassen oder im Museums-Shop tüchtig einzukaufen).

So eindrücklich es ist, so viele Menschen zu sehen, die sich für die Kunst des 20. Jahrhunderts interessieren, so „tödlich” ist die Masse für die hochkarätige Kunst selbst. In aller Eile hat man kurz nach der Eröffnung die Bilder und Skulpturen mit dezenten, aber doch klar eingrenzenden Abschrankungen versehen. Was den zur Verfügung stehenden Raum in den Galerien noch enger macht. So ist der Besuch der Tate Modern für ausländische Besuchende, die es gewohnt sind, in den Kunstmuseen ihrer Ländern (fast) allein mit der Kunst zu sein, unter anderem ein stetiger „Kampf” gegen die Lust zu flüchten. Gut, dass die riesige, ehemalige Turbinenhalle offen und frei ist, sodass – was für ein Paradox – wenigstens in den Fängen von Louise Bourgeois grosser „Spinne” Raum zu Atmen gegeben ist. Wer allerdings einen oder alle drei Metall-Treppen-Türme der riesigen Installation der 89jährigen Amerikanerin besteigen möchte, muss sich in englischer Manier im Anstehen üben. Denn „I Do”, “ IUndo” und „I Redo” – so die Namen der drei leuchtturmähnlichen Skulpturen – dürfen nur einzeln oder zu zweit bestiegen werden. Es gilt die psychische Struktur zwischen erschaffen, auslöschen und wiederherstellen am eigenen Leib zu messen. Wenn auch altersbedingt nur noch die Skizzen von der ihr Umfeld nicht mehr verlassenden Künstlerin selbst stammen, so ist Louise Bourgeoises‘ mehrteilige Raum-Skulptur, die fünf Jahre da bleiben soll, doch einer der Höhepunkte von Tate Modern.

Tate Modern versteht sich als Welt-Museum für zeitgenössische Kunst, analog dem Centre Pompidou in Paris und dem Moma in New York. Anders als in Paris, mit dessen Schätzen an klassischer Moderne London nicht konkurrieren kann, steht in der Tate indes nicht das Ausbreiten von Farbe und Form entlang der klassischen Kunstgeschichte im Vordergrund. Sondern der Blick auf die Entwicklung einzelner Themen im Laufe des Jahrhunderts. Damit ist das Schwergewicht nicht auf die Kraft des Bildhaften an sich gelegt, sondern auf die Inhaltlichkeit der künstlerischen Konzeptionen. Als Beispiel: Picassos berühmte „Weeping Woman” (weinende Frau) von 1937 wird zusammen mit Materialien zum spanischen Bürgerkrieg gezeigt und mit Salavdor Dalis „Autumnal Cannibalism” aus demselben Jahr kontextualisiert. Die Gefahr der Illustration ist gegeben – speziell dort, wo es nicht gelingt, inhaltliche und formale Momente zu einer Raum-Einheit zu verbinden (soweit das im Gedränge überhaupt beurteilbar ist).

Die vier Ausstellungsflügel folgen vier schon im 17. Jahrhundert als Hauptthemen der Kunst formulierten Richtungen: Landschaft, Stilleben, Akt und Geschichte. Die Zeit einbindend heissen sie nun: Landschaft/Materialien/Umwelt – Stilleben/Objekt/Realleben – Akt/Aktion/Körper – Geschichte/Erinnerung/Gesellschaft. Und je nach Unterkapitel gilt der Blick dem ganzen Jahrhundert oder nur der Zeit, seit ein Phänomen auftritt. Als Beispiel: Während sich der Raum „Nackt/Bloss” von Rodin über Bonnard und Lucian Freud bis zu Sam Taylor Woods „Brontosaurus” (Slow-Motion-Video eines in sich selbst versunken tanzenden, nackten Mannes) entwickelt, ist „Körper in Aktion” dem Körperkleid, der Körpererfahrung und der Perfomance seit den 60er Jahren gewidmet (Highlight: Die Performance-„Kleider” von Rebecca Horn aus der Zeit um 1970). Die Kunst des Jahrhunderts ist zu vielfältig, um innerhalb der Hauptkapitel ohne Ecken und Kanten gezeigt zu werden. Um gewisse Aspekte miteinzubinden braucht es Eck-Räume; zum Beispiel für die sehr stiefmütterlich behandelte Geometrie, die sich praktisch in Mondrian erschöpft. Es sei denn man zähle den ins Kapitel „Landschaft” eingebetteten One-woman-room von Bridget Riley hinzu. Sie nennt eines ihrer aus der Op-Art entwickelten Rhythmus-Farb-Bilder tatsächlich a „Summer’s Day”.

Gesamthaft gesehen ist das Konzept aber ausgesprochen spannend und bietet sowohl mit Kunst Vertrauten wie neugierigen Einsteigern immer wieder Überraschungen. Dabei sind es nicht nur die Zeitsprünge, die das Denken erweitern – zum Beispiel zwei Skulpturen von Brancusi respektive Barbara Hepworth im Dialog mit einer Leinwand von Brice Marden oder Monets Seerosen im Gespräch mit einem roten Basalt-Steinkreis von Richard Long. Erhellend können auch mehr oder weniger zeitgleiche Kombinationen sein. Da gibt es zum Beispiel eine 50er-Jahr-Linie von einer leicht bräunlichen Mensch und Tier in typischer Weise verbindenden Gips-Skulptur von Henry Moore über deutlich handbearbeitete Schach-Figuren (halb Mensch/halb Tier) aus bemaltem Gips von Germaine Richier hinüber zu einer Gruppe von vertikal-expressiven Figurenstelen von Alberto Giacometti. Und dreht man sich dann um, steht man vor zwei „Zip”-Bildern von Barnett Newmann; dem Amerikaner, der über über vertikale Streifen das Bild (eines der zwei heisst „Adam”) zum Raum hin öffnete. Zwischenbemerkung: Die grossartige, fast surreale Schach-Gruppe von Germaine Richier – die Französin war mit dem Schweizer Bildhauer Charles Bänninger verheiratet und lebte längere Zeit in Zürich – kam dieses Jahr als Geschenk der Nichte der Künstlerin an die Tate; hat da nicht etwa das Kunsthaus Zürich etwas verpasst? Und wenn schon an diesem Thema, hier auch gleich der Vermerk, dass das riesige Hauptwerk von Joseph Beuys in der Ausstellung „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch” Dauer-Leihgabe einer Zürcher Privatsammlung ist.

Die bisher erwähnten Künstler und (zahlreichen!) Künstlerinnen zeigen über ihre künstlerischen Positionen hinweg auch etwas über die Blickrichtung Englands aus. Entgegen ersten Presseberichten kann von einer Rückbindung der englischen Kunst zugunsten eines Internationalismus nicht die Rede sein. Zwar fehlt tatsächlich Ben Nicholson, was schwer verständlich ist, aber im Gesamten sind die bedeutenden englischen Namen – neben den bereits angeführten auch Francis Bacon, Tony Cragg, Mona Hatoum, Sarah Lucas und der Turner-Preis-Träger 2000, Steven McQueen – alle eindrücklich eingebettet. Eine solche Einbindung ist sinnvoll, will man doch in London diesen Aspekt sehen (in der Schweiz würde man sich da wohl in Understatment ergehen). Die Internationalität ist im englischen Blick sehr stark von Amerika geprägt (was angesichts der gemeinsamen Sprache nicht wundert), während es Österreich überhaupt nicht und Italien und Frankreich nur in den klassischen Aspekten gibt . Die Schweiz bietet mit Giacometti ein klassisches und mit dem „Baustellen”-Raum von Fischli/Weiss ein subversiven Highlight (letzeres fängt man am besten über die Gesichtsausdrucke der Besuchenden ein). Erstaunlich ist, dass sich Fischli/Weiss‘ Kopien des Alltäglichsten und völlig aus dem Kontext Fallenden nicht „ausschauen”, das heisst, man kontrolliert zum x-ten Mal, ob es sich bei dieser Schaltafel, diesem Marlboro-Päcklein nicht doch um das handeln könnte, was es vorgibt zu sein. Mit anderen Worten: Es gelingt dem Zürcher Künstlerduo bei jedem Stück von der Kopie zum „Ding an sich” vorzudringen; das ist ihre Qualität – gerade auch im Kontext, in dem sie in der Tate gezeigt werden. Andere Schweizer Aushängeschilder wie Armleder, Fleury, Rist, Hirschhorn respektive Bill, Lohse etc. fehlen in London. Hingegen ist Deutschland zwar nicht üppig, aber mit den meisten Grössen vertreten ( Beuys, Kiefer, Baselitz, Horn, Gursky, Ruff etc.), was sich nicht zuletzt durch die angelsächsische Ausrichtung der deutschen Kunsttheorie erklärt.

In einem Vergleich Centre Pompidou /Tate Modern respektive Paris/London kann mit Freude festgestellt werden, dass sich die beiden grössten Museen zeitgenössischer Kunst in Europa deutlich voneinander unterscheiden. Vom Erlebnis dessen, was Kunst als Ausdruck von Farbe und Form, als Ausdruck der Bild-Erfindung, der formalen Entwicklung an Grossartigem bieten kann, hat Paris die Nase deutlich vorn (vgl. BT vom Januar 2000). Wie die Kunst hingegen mit gesamtgesellschaftlichen Ereignissen und Entwicklungen in faszinierender Wechselwirkung steht, wie Kunst immer auch Spiegel ihrer Zeit und nicht zuletzt politisch ist, das hingegen zeigt London deutlich vertiefter und eindrücklicher. Umsomehr als die Begleitkommentare – in Form von Tafeln in jedem Raum, in Form eines hervorragend konzipierten Audio-Guides – knappe und wesentliche Hilfestellung leistet. Hingegen können die bisher erschienenen Kataloge und Dokumentationen (noch) nicht befriedigen.

Between Cinema and a Hard Place
Die bis Ende 2000 dauernde, temporäre Ausstellung im dritten Ausstellungsgeschoss der Tate Modern ist in gewissem Sinn eine Erlösung. Nach der didaktischen Überfütterung im Gang durch die Sammlungssäle, präsentiert die Ausstellung zwischen materieller Skulptur und virtuellem Film eine Folge von Höhepunkten. Nichts als in sich ruhende, raumgreifende Installationen, die so stark sind, dass sie keiner Erklärungen bedürfen. (Und weil der Eintritt 3 Pfund kostet, ist man plötzlich wieder in gewohnter, stiller Museumsatmosphäre.) Viele Arbeiten sind von grossen internationalen Ausstellungen (Documenta/Venedig etc.) der letzten Jahre bekannt. Der Focus ist die Gegenwart. In der reflektierenden Vernetzung bieten sie eine ausgesprochen spannende Interpretation dessen, was sich in der Kunst der 90er Jahre herauskristallisierte: Nämlich, der Wechsel von der Darstellung eines symbolischen Fensters zur Welt hin zur Repräsentation der Welt selbst. Rachel Whiteread reflektiert nicht über Architektur, sie zeigt mit ihren nachgegossenen Räumen Architektur selbst. Bill Viola denkt nicht mit filmischen Mitteln über Tod und Geburt nach, er zeigt Geburt und Tod 1:1 und so spannend, dass man den Projektions-Raum nicht mehr verlassen kann. In Rebecca Horns verspiegeltem „Ballett der Spechte” tanzen die Besuchenden selbst im Rhythmus der kleinen, klopfenden Hammer. Und bei Juan Munoz Zuschauertribüne gibt’s nicht anderes, als mit den kleinen, grauen Figuren in die Ecke zu schauen und auch nicht zu wissen, was für ein Stück da gegeben wird.

Ganz so Einbahn ist die Thematik allerdings nicht. Da ist auch Ilya Kabakovs „Labyrinth”, in dem er mit sensiblen, fiktiven Texten in Kombination mit offiziellen Fotos aus der Sowjetunion das Leben zweier Mütter zur Zeit des kommunistischen Regimes erzählt. Wobei die Form des Labyrinths Texte und Bilder erst so richtig emotionalisiert, umsomehr als man sich beim Abschreiten nicht vorstellen kann, dass ein so grosses Labyrinth inmitten des Museums überhaupt Platz hat. So ist man am Schluss heilfroh, den Ausgang gefunden zu haben. Weitere, herausragende Arbeiten stammen unter anderem von Mona Hatoum, der in England lebenden, libanesischen Künstlerin von Weltformat; sie ist gleich mehrfach präsent. Ihre Arbeiten, die als Intérieur- und Gegenstands-Installationen in den letzten Jahren näher zu Louise Bourgeois rückten, sind in der Wechselausstellung, in der Sammlung wie, als mehrteilige Rauminstallation, in „Tate Britain” zu sehen. Mona Hatoum ist, unabhängig von der Qualität ihrer Arbeiten, eines der Beispiele für die Vorreiter-Rolle Englands bezüglich des gezielten Einbezugs anderer Kulturen in das eigene Image. Dazu gehört auch die zugleich künstlerisch wie politisch motivierte Auszeichnung von schwarzen Künstlern (z.B. Turner-Preis für Steven McQueen).

Tate Modern/Tate Britain
Die Tate Modern befindet sich auf der anderen, zur Zeit in Erneuerung befindlichen Seite der Themse, unweit von Westminster. Das Museum ist von Sonntag bis Donnerstag 10 bis 18 Uhr, Freitag und Samstag 10 bis 22 Uhr geöffnet. Tate Modern ersetzt nicht die bisherige Tate Gallery, sondern erweitert diese. Das alte, nun „Tate Britain” genannte Museum an der Millbank ist ebenfalls renoviert und analog Tate Modern in Themenbereiche gruppiert. Wobei hier allerdings die Zeitsprünge vom 17. zum 21. Jahrhundert über weite Strecken problematisch sind. So bleibt der Höhepunkt von „Tate Britain” – wie schon immer – die William Turner gewidmete Galerie. Ob es gelingen wird, Tate Britain auch zu einem Zentrum für die zeitgenössische, englische Kunst zu machen, wie es die Wechselausstellung „Intelligence” zur Zeit zu forcieren versucht, ist trotz Arbeiten von Douglas Gordon, Sarah Lucas, Julian Opie etc. fraglich.