Alois Lichtsteiner Kunstmuseum Luzern: 2001

Schwarz und Weiss oder die Gesetze des Zufalls

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Neue Mittelland Zeitung vom 15. August 2001

Früher sah man die Malerei von Alois Lichtsteiner (51) da und dort in Schweizer Galerien. Jetzt, da Jamileh Weber ihn unter Vertrag hat, muss man nach Zürich oder, aktuell, nach Luzern, um neue Bilder zu sehen.

Vielfältigste Konstellationen pflegen wir als Zufälle zu bezeichnen. Obwohl wir wissen, dass Zufälle eigentlich keine Zufälle, sondern Durchwirkungen verschiedener Energien sind. In seinen neuen, grossformatigen Bildern macht sich Alois Lichtsteiner solche Wechselwirkungen von „ist“ und „ist nicht“ zu eigen. Er malt abstrakte Kompositionen aufgrund von gegenständlichen Vor-Bildern. Er wählt einen Ausschnitt einer Birkenrinde, schält diese gleichsam ab, und legt sie als Malhaut auf die Leinwand. In den Bildern der Jahre 1997/99 ist der gegenständliche und der abstrakte Anteil in etwa ausgewogen. Man erkennt das Vor-Bild und zugleich die Unabhängigkeit der Konstellation von weisser Farbe und dunklen Verdichtungen und Verästelungen. In den jüngsten Birken-Bildern – dem Höhepunkt der Ausstellung im Kunstmuseum Luzern – gelang es ihm, die Basis so weit weg zu treiben, dass die Bilder nichts als „Malerei“ zu sein scheinen. Dennoch ist ihre Wirkung auf die Betrachtenden an die archetypischen Naturkonstanten, wie sich in der Birkenrinde manifestieren, enthalten. Ob wir das wissen oder nicht, ist egal, es überträgt sich als warmes Gefühl auf unsere Wahrnehmung. Und das wiederum ist Ausdruck künstlerischer Qualität.

Dieselbe Vorgehensweise setzt Lichtsteiner in den Bildern frühlingshafter Berghänge ein, indem er „Muster“ schmelzenden Schnees zum Ausgangspunkt für eine weitere Serie von „abstrakten“ Bildern wählt. Obwohl in der formalen Vielfalt faszinierend, ist dieses Negativ/Positiv-Motiv kunstgeschichtlich wesentlich befrachteter, ob es sich nun um Schnee/Erd- oder um Licht/Schattenbilder handle. Die ältesten, bewusst formal gewählten Schnee-Schmelzen stammen wohl vom Luzerner August Babberger (um 1915), sie stehen aber auch am Anfang des bildnerisch-forschenden Schaffens von Hugo Suter (58) und bestimmen, am Beispiel von Licht und Schatten, wesentliche Abschnitte in den Werken von Stefan Gritsch (50), Jürg Moser (51) und Pascal Danz (40).

Lichtsteiners Bergbilder sind deswegen keine Plagiate – eher ist es so, dass Hell/Dunkel-Formationen in der Natur den Menschen eminent treffen, ihn aufgrund verborgener Konstellationen packen und darum Kunstschaffende zu immer neuen Annäherungen verleiten. Hugo Suters Werk wechselt vom Schnee in Untersuchungen von Spiegelungen, für den von plastischem Denken ausgehenden Jürg Moser sind Wechsel von Licht und Schatten Analogien zu hohl und gefüllt. Für Alois Lichtsteiner sind sie Kompositionen für Malerei. Welches Thema der in Murten lebende in den letzten 20 Jahren auch immer aufgriff – „Der Inhalt der Gefässe“ hiess eine bekannte Serie der 80er Jahre – immer ging und geht es um Vorwände für Malerei. Sämige, Handschrift zeigende, sinnliche Ölmalerei, die fliessend und haltend, formend und ziehend Bildkörper schafft. Und so gilt auch sein Interesse am „Berg“ primär der sich im von der Natur anbietenden, „abstrakten“ Komposition. Die Entwicklung wird zeigen, ob es ihm gelingen wird, auch dieses Motiv, analog der Birken, so weit voranzutreiben, dass das Vor-Bild irrelevant wird und nurmehr die Malerei wirkt. So weit ist dieses Motiv noch nicht.

Alois Lichtsteiner signiert seine Bilder mit „Ohmstal“. Neben dem Faktor „Geheimnis“ ist es eine Hommage an die kleine Luzerner Gemeinde, wo er 1950 geboren wurde. Öffentlichkeit bietet dem Maler nach Abschluss der Kunstgewerbeschule Zürich jedoch die Stadt Bern. 1978 stellt er in der Berner Galerie aus, wird dort von Toni Gerber entdeckt und bis 1992 in elf Einzelausstellungen gezeigt. Hinzu kommen bis 1997 unter anderem Ausstellungen bei Severina Teucher in Zürich und Silvia Steiner in Biel. Prägend ist die Berner Atmosphäre der frühen 80er Jahre und insbesondere die Gemeinschaft der Künstlergruppe „Silo“ (1980-1983), zu der u.a. auch Jürg Moser und Uwe Wittwer zählen. Obwohl längst aufgelöst, bildet die Gruppe bis heute eine Art Energiefeld.

So gibt es zum Beispiel zwischen Moser und Lichtsteiner nicht nur Gleichzeitigkeiten bei den Schnee- respektive Schattenbildern, sondern auch den Birkenmotiven. Als Lichtsteiner 1997 in der Schweiz erste Birkenbilder malte, war Moser gerade mit dem Fotoapparat in den Birkenwäldern von Vermont und entwickelte daraus sowohl plastische Arbeiten mit Birkenrinden wie von den Fotografien ausgehende, computergenerierte Birken-Analogien. Beeinflussung ist dabei nicht das richtige Wort, denn konzeptuell haben die Werke der am 9. Juli 1950 in Ohmstal respektive am 10. Juli 1950 in Biel Geborenen nichts miteinander zu tun. Der eine ist Maler, der andere Bildhauer. Der eine schält die Birke, um die „Haut“ zu malen, der andere um der hautdünnen, plastischen Hohlformen willen. Eines Tages entdecken sie die Parallele. Vielleicht ist die Beziehung der beiden eine weitere Analogie zur Malweise Lichtsteiners, der „zufällige“ Konstellationen als Kompositionen unsichtbarer Energiefelder malt.