Vernissagerede für Marianne Kuhn und Jürg Stäuble

in der Galerie Elisabeth Staffelbach in Aarau

  1. August 2001

 Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Marianne, lieber Jürg

Er ist blond – ich glaube, es ist noch blond – lang und hager, vielleicht zäh. Die Augen sind lebendig, auf Wahrnehmung ausgerichtet. Sie ist dunkelhaarig – das kann ja, bei Frauen insbesondere, täuschen, aber hier war es immer schon so – und von zurückhaltend körperbetonter Ausstrahlung. Die Augen nehmen hinein, was sie sehen.

Es ist eine schwierige Frage, ob man vom Äusseren aufs Innere schliessen darf. Ich wage es zumindest so weit, dass ich behaupte, die beiden Werke, die uns hier und heute in Ausschnitten begegnen, können nicht verwechselt werden. Die sich in bewegten Schichten überlagernden Bleistift-Zeichnungen sind von Marianne Kuhn. Und die präzisen, in ihrer Form nicht auf Anhieb durchschaubaren Reliefs und Skulpturen sind von Jürg Stäuble.

Gegensätze ziehen sich zuweilen an. Es bietet, insbesondere von den Rundformen betonenden Zeichnungen aus, kein Problem in die kurvenden Kreisbewegungen der Skulpturen weiterzuschwingen. Die beiden sagen gar, sie hätten sich in ihren Schaffen noch nie so nahe gefühlt wie heute. Doch was heisst das? Zum einen drückt das Statement indirekt aus, dass die beiden sich und ihre Arbeiten schon lange kennen. Darauf ist zurückzukommen. Es deutet aber auch Bewegung, Veränderung an. Nur ist die Frage, von wo nach wo.

Viele unter Ihnen kennen die Werke von Jürg Stäuble und Marianne Kuhn. Beide sind nirgendwo sonst so bekannt wie im Aargau. Und dies bis zurück in die 70er respektive 80er Jahre. Das heisst im Fall von Jürg Stäuble von den heutigen Arbeiten über geschlossen-kompakte, dunkle Hohlraum-Skulpturen und helle, durchbrochene, zuweilen arabeskenhafte Luftgebilde zurück zu ovalen, manchmal auch flügelhaften Graphit- und Blecharbeiten respektive streng geometrisch rhythmisierten (Land Art)-Feldern. Im Fall von Marianne Kuhn heisst dieser Rückblick die kompakten Zeichnungs-Skulpturen, die Weltkarten mit den literarischen Notaten, die Landschaften aus der Vogelperspektive und die grossformatigen, unterirdischen Architektur-Utopien vor dem inneren Auge heraufholen. Und was nun? Lässt sich das auch anders ausdrücken, so, dass schliesslich spürbar wird, was die beiden meinen, wenn sie ihre Werke selbst in die Nähe voneinander rücken? Vielleicht.

Bei Jürg Stäuble gibt es –immer sehr vereinfacht ausgedrückt – eine strenge, reduzierende Seite, die ihre Lektion bei der amerikanischen Minimal Art gelernt hat, und eine barock drehende, die über eine kurze, körperhafte Zwischenphase, als dem Künstler gar Lippenstift als Malwerkzeug diente, gezeugt wurde. Diese beiden Seiten bilden die Spannung im Werk von Jürg Stäuble. Abwechselnd verdichten sie sich und lassen wieder los.

Bei Marianne Kuhn sucht die Form ihren Ausdruck zunächst über Nähe zur Architektur, zum Bauen, wobei der Treppe besondere Bedeutung zukommt. Architektur als Gefäss zum Auf- und Absteigen, zum Eindringen in unbekannte, oft unterirdische Gefilde. Dann wechselt der Standort; aus Architektur wird Landschaft, von oben betrachtet: Berge, Täler, Krater. Landkarten werden zum Feld für Reisen. Bis die Weite der Welt nach Verdichtung ruft und sich die Zeichnung in sich selbst stülpt und als Material zur Skulptur verdichtet. Um in den neuen Arbeiten nun wieder auszufächern ohne dabei die Abstraktion aufzugeben. Auch hier also zwei Kräfte, die für Entwicklung und Veränderung sorgen: Verdichtung und Form kontra Bewegung und Weite.

Um meine Ansprache zu Erfolg zu führen, gilt es nun die Synthese zu finden. Uff, manchmal ist mein Job als Kunstkritikerin gar nicht so einfach. Versuchen wir es. Allerdings möchte ich zunächst noch etwas ausholen, um klar zu machen, dass hier nicht einfach zwei Werke zufällig miteinander zu sehen sind und die Vergleiche nur eine artistische Übung:

Jürg Stäuble und Marianne Kuhn sind mehr oder weniger gleich alt. Jürg Stäuble ist am 1. Februar 1948 geboren, somit im Luft- respektive Erneuerungszeichen des Wassermanns. Marianne Kuhn ist am 26. November 1949 im Feuer- respektive Winterzeichen des Schützen geboren.  Beide wachsen in Wohlen auf und durchlaufen mit einem Jahr Differenz dieselbe Schule. Sowohl der generationenmässige wie der kulturelle Hintergrund des Freiamtes sind somit vergleichbar und die Familien kennen sich. Dass sie sich schliesslich in der gleichen Zeichenlehrerklasse der Kunstgewerbeschule Basel wiederfinden, ist allerdings nicht abgesprochen. Marianne Kuhn wählt ganz klar Basel, weil (Zitat) „in Zürich immer noch in der Nachfolge Gublers gemalt wurde, während man in Basel zeichnete, und das zog mich stärker an.“ Jürg Stäuble hingegen lässt sich – damals noch – von den Sorgen der Mutter gegenüber dem aufmüpfigen Zürich der 68er Jahre leiten und wählt deshalb Basel. Allerdings erleben sie den Unterricht sehr anders. Zu den charakterlichen Unterschieden kommen die anders strukturierten Möglichkeiten als Mann respektive Frau zum Ausdruck. Während sich Jürg Stäuble als Mann im Mainstream bewegt, sich an den internationalen Kunströmungen orientiert und bald schon an die Öffentlichkeit tritt, Stipendien erhält usw. muss Marianne Kuhn ihren Weg erst langsam abtasten. Sie unterrichtet und ist dann während dreier Jahre mehrheitlich auf Reisen, insbesondere in Nordafrika. Einige Jahre zuvor war schon Heidi Widmer von Wohlen aus in die Welt aufgebrochen – auch sie eine Zeichnerin, damals.

Ebenso ging Jürg Stäuble auf Reisen, nach Kanada zum Beispiel, aber primär „reiste“ er ganz anders. Reisen kann man bekanntlich auf sehr verschiedene Art; in der Aussenwelt ebenso wie in der Innenwelt. Ich kann mich gut erinnern wie wir damals in den 70er Jahren staunten, dass der sich scheinbar so sicher auf dem Kunstparkett Bewegende jeweils im Sommer für mehrere Monate „auf die Alp“ zurückzog, praktisch unerreichbar für die Freunde aus der Stadt.

Reisen sind ein Merkmal für diese Generation – anders als heute ging es dabei nicht um Mobilität in einer vernetzten Welt, sondern um Einblicke in andere Kulturen, andere Lebensformen, andere Weltsichten, um daraus die eigene Identität zu formen.

Marianne Kuhns Reisen respektive die antiken Stätten, denen sie begegnet und das Erlebnis der Unendlichkeit der Wüste finden später Eingang in ihre Zeichnungen. Gleichzeitig sind die Treppen, die Gänge, die Tempel, die Tribünen aber Gänge in die Unendlichkeit des eigenen Inneren. Während sich Jürg Stäubles Rückzug an die Basis einfachster Lebensformen in der formalen Reduktion des zum Aussen hin tendierenden künstlerischen Ausdrucks spiegelt.

Auch in der frühen Phase gibt es also eine Wechselwirkung zwischen dem Schaffen von Marianne Kuhn und Jürg Stäuble.

Dann verlaufen ihre Leben sehr verschieden. Marianne Kuhn muss ihre Zeit zwischen Familienverpflichtungen und Kunst einteilen, Jürg Stäuble zwischen seinen Aufgaben als Lehrer an der Schule für Gestaltung und der freien künstlerischen Arbeit. Für beide wirken sich die Doppelbelastungen als Hemmschuh für eine expansive Karriere aus, etwas, wonach sie eigentlich beide gar keine Lust haben – oder nur in Träumen, aber nicht in der Realität. Dennoch verläuft Stäubles Karriere sehr viel stärker im Aussenraum – sowohl was die Schule anbetrifft wie Ausstellungen und Kunst am Bau-Aufträge. So wie die Karrieren von Mann und Frau meistens, zumindest in dieser Generation. Dennoch kommen beide schliesslich zu wichtigen Ausstellungen im Aargauer Kunsthaus. Marianne Kuhn 1991, Jürg Stäuble 1994.

Und nun kann ich nicht mehr kneifen. Worin, wenn überhaupt, besteht die Annäherung zwischen den beiden Werken von Marianne Kuhn und Jürg Stäuble in den Werken, die sie hier und heute zeigen?

Dazu Folgendes: Marianne Kuhn löst gegen Ende der 90er Jahre von jeglicher „Erzählung“ und stellt das Material Graphit, das Material aus dem die Zeichnung ist, ins Zentrum und modelliert diese Blöcke an ihrer Oberfläche als wäre sie Körper, als wäre sie Skulptur, als wäre sie Landschaft. Minimal und körperhaft. Mmh – die zwei Begriffe könnte ich eigentlich auch für eine Charakterisierung von Arbeiten Jürg Stäubles brauchen, weniger den heutigen als den etwas älteren. Ein Beispiel von Marianne Kuhns Graphit-Skulpturen steht hier in der Ausstellung als Erinnerung. Die Finger sind es, die in dieser Zeit die Form gestalten. Aufgrund dieser Arbeiten wird Marianne Kuhn zum Wettbewerb für die künstlerische Gestaltung des Umbaus des Südflügels des Klosters Muri durch den Kanton Aargau eingeladen und gewinnt diesen Wettbewerb. Eine Herausforderung, aber auch eine eminente Fleissarbeit, die sehr viel Ausdauer und Konzentration fordert. Monatelang legt sie vor Ort Rötel- und Graphitschichten im Wechsel mit Wasserglas auf Gipsplatten, die anschliessend auf die Wand appliziert werden. Um sich zu erholen setzt sich Marianne Kuhn häufig in die barocke Klosterkirche und man kann sich leicht vorstellen, wie die Beschwingtheit des Barocks, die Farben, die Luftigkeit, das Drehen und Wenden sie locken im Vergleich zu ihrer eigenen konzentriert verdichtenden Arbeit. Und tatsächlich, als sie wenig später in London weilt, ist es eine Ausstellung von Caravaggio, die sie vor allem anzieht und in den Kunstgeschichte-Büchern wird unter dem Stichwort „Barock“ geblättert. „Nie zuvor, so Marianne Kuhn, „habe sie realisiert, mit welcher Finesse die Barockmaler – ein Rubens zum Beispiel – die Oberfläche ihrer Bilder, die Malerei an sich vorantrieben“. Die Weiterentwicklung ihres Werkes ergibt sich nun fast von selbst: Zurück zur Zeichnung, zurück aufs Papier auf dem Boden und mit dem Stift Bewegung auskosten, das Papier zur Wand, zur gewölbten Decke machen und dem Auf und Ab, dem Drehen und Weiten nachleben ohne deren Inhaltlichkeit aufzunehmen. Wenn wir uns trotzdem da und dort an Landschaft erinnert fühlen, so weil wir mit unserer Gewohnheit schauen. Grundsätzlich haben wir hier in dieser Ausstellung aber Zeichnungen vor uns, die barocke Lust verströmen und gleichzeitig ganz auf die „Peinture“ der Epoche ausgerichtet sind. Barocke „Wandmalereien“ in gewissem Sinn, die uns als Betrachtende erlauben, einzuschwingen, mitzuschwingen, durchzuatmen. Und plötzlich wird auch klar, warum Marianne Kuhn im Gespräch so nebenbei erzählt, als Kind habe sie Geige gespielt und zeichnen sei eigentlich gar nicht so anders. Ich denke die neuen Bilder sind Musik und wollen dies auch sein. Sie haben richtig gehört, ich sagte „Bilder“ und „Peinture“. Eines Tages ertappte sich Marianne Kuhn nämlich, dass sie nicht mehr von Zeichnen sprach, sondern von Malen, mit Graphit, dem Material, das sie von der Druckerschwärze im elterlichen Druckereibetrieb bis heute so vielfach gewandelt hat und doch immer beibehalten – als Tiefe, als Ernsthaftigkeit, als Erdverbundenheit. Warum sollte man mit Graphit nicht malen können?

Es ist dieses Abstrakte, Offene, von der Kreisbewegung Ausgehende, das sich wie nie zuvor als  organisches Feld für eigenes Durchfliessen anbietet, das wir, anders, aber doch nicht so unähnlich auch in den Reliefs und Skulpturen finden. Ich habe bei Jürg Stäuble schon sehr früh einmal den Begriff „barock“ gebraucht. Bewusst. Indem Strenge und Weite, begrenzte Form respektive Architektur und innere Öffnung durch arabeskenhaftes Drehen, das Stäubles Werk charakterisiert, gleichzeitig auch ein Wesensmerkmal des Barock ist.  Nun werden Sie mir vielleicht entgegnen – schon gut, aber das gilt doch eher für die Hohlformen-Skulpturen, die vor den aktuellen Puzzle-Formen entstanden. Und vielleicht haben Sie damit recht. Und da entsteht auch wieder etwas Distanz zu Marianne Kuhn. Aber die teilweise Arbeit in der Fläche bringt natürlich auch wieder neue Nähe. Ich denke, Jürg Stäubles neue Arbeiten sind seine Antwort auf die aktuellen Strömungen in der Kunst. Stäuble und Fotografie oder Video – nein, das meine ich nicht. Und doch, indem er nun mit Autolack arbeitet, das wie kein anderes Schwarz die Umgebung spiegelt, macht er seine Arbeiten zu Feldern, in die wir einer „Foto“ gleich integriert werden, sobald wir uns vor sie stellen, uns über sie beugen usw. Gleichzeitig ist da aber die Strenge und die Form – schon seit Jahren geht Stäuble von einer Art Schablone aus, die randgefüllt ist mit Kreisen mit eingezeichneten Sechsecken. So, dass der Künstler mit einem Bleistift auf einem Plan-Papier, das er darüberlegt, alle 30 Bogengrade entscheiden kann, in welche Richtung er seine Linie weiterziehen will, wie er den „Kreis“, der nun eine Vielfaches an Kreiskurven beinhaltet, wieder schliessen will. Um die gefundene Form anschliessend in ein Relief umzusetzen, das er flach zeigt oder – wesentlich komplexer – als Wechselwirkung zweier Flächen, die sich quasi im Innern eines Balkens treffen und durch die offene Konstruktion deutlich machen wie Aussen und Innen oft wenig miteinander zu tun haben. Oberflächenspiegelung und Formenreichtum treten in Spannung zueinander.

Da ist aber noch mehr – das Stichwort Puzzle fiel schon – es meint zum einen Teil eines Ganzen – theoretisch könnte man die vier Balken in diesem Raum „zusammensetzen“, aber ebensowichtig erscheint mir der Bezug zur Gegenstandswelt, zur Kinderwelt sogar und dann natürlich die Verwandtschaft zur Formensprache der 60er Jahre, die in der aktuellen Kunst immer wieder auftaucht, die Verwandtschaft zur Sprechblase, ja sogar zum Comic. Ich denke, es gelingt Jürg Stäuble mit seinen neuen Arbeiten, uns in ein Wechselbad zu versetzen, indem er uns von arpschem Surrealismus über Minimal Art bis Comic in Spannung versetzt, je nachdem wo und wer wie ansetzt beim Schauen.

So arbeiten denn sowohl Jürg Stäuble wie Marianne Kuhn mit abstrakten Feldern, in die sich einzudrehen auf ganz verschiedene Art und Weise möglich ist ohne dabei im engeren Sinn zu interpretieren. Was die künstlerische Nähe anbetrifft, so würde ich sie am Schluss dieser Überlegungen nicht im Heute spezifisch sehen, sondern als Zu und Weg quer durch das Werk.

  1. Ich danke fürs Zuhören.