Entzückt den Menschen durchdringen

Johann Caspar Lavater (1741-1801) im Kunsthaus Zürich. Bieler Tagblatt vom 12. Feb. 2001

Gesichter waren Johann Caspar Lavater eine Obsession. 30 000 Abbildungen nannte er sein eigen. Das Kunsthaus Zürich zeigt Leben und Werk des „homme de lettres“ in einer grossen „Bibliothek”.

Als Pfarrer Johann Caspar Lavater in den Wirren des Einmarschs der Franzosen in die Schweiz zwei Soldaten helfen wollte, traf den 57jährigen vor seiner Kirche in Zürich eine feindliche Kugel. An den Folgen der Verletzung starb er am 2. Januar 1801. Zum 200. Todestag zeichnet das Kunsthaus Zürich Leben und Werk des europäisch bekannten „Kommunikationsgenies“ nach. Alles dreht sich dabei um das Gesicht, um das Porträt. Nicht die Theaterstücke und Predigten des mit Goethe und vielen anderen Grössen des 18. Jahrhundert befreundeten „homme de lettres“ haben über seinen Tod hinaus gewirkt, sondern seine Studien des menschlichen Antlitzes.

„Mit geheimer Entzückung durchdringt der menschenfreundliche Physiognomist das Innere des Menschen, und erblickt die erhabendsten Anlagen, die sich vielleicht erst in der Ewigikeit entwickeln werden“, schreibt Lavater in seinem ersten Buch zur Physiognomik (1772). So edel seine Suche nach dem Gottesbild im Menschen im Spiegel seines Antlitzes gewesen sein mag, so handfest kommen gewisse „Regeln“ daher und so rücksichtslos wurden sie in der Folge für diskriminierende Zwecke missbraucht. Lavater wurde zum Feinbild; nicht ganz unverschuldet, findet man doch in den „100 Regeln zur Physiognomie“ ziemlich Deftiges. „Jedes Gesicht ist dumm, was vom Augwinkel an, bis mitten an den Nasenflügel, kürzer ist, als von dort bis zur Mundspitze“ oder „Weiber mit braunen, behaarten oder borstigen Warzen am Kinn … muss man … immer drey Schritte vom Leib halten“.

Solche Sätze sucht man in dem zur Bibliothek mit Studierzimmer und Kirchenschiff umgebauten Bührle-Saal des Zürcher Kunsthauses vergebens. Political correctness führte zu einem Konzept, das Vorurteile abzubauen sucht und stattdessen ein Gesamtbild Lavaters in seiner Zeit zeichnet. Dabei werden neben Biographischem – von Lavater sind 22 000 Briefe erhalten – vor allem die Querverbindungen zur Historienmalerei, zur Porträtkunst, aber auch zur Philosophie und zur Literatur des 18. Jahrhunderts herauschält.

Ausgangspunkt der Ausstellung respektive der Grund, warum sich das Projekt in der Vorbereitungszeit vom Graphischen Kabinett in den Hauptsaal ausweitete, ist das fast komplett erhaltene „Kunstkabinett“ Lavaters. Das einzige Medium, das in der Zeit vor der Erfindung der Fotografie Gesichter festzuhalten vermochte, waren, eventuell kolorierte, Zeichnungen und Kupferstiche. Lavater sammelte nicht nur solche Blätter, er betrieb – etwas salopp ausgedrückt – so etwas wie eine „Factory“. Das heisst, er gab Künstlern, darunter seinem Schulfreund Johann Heinrich Füssli, Daniel Niklaus Chodowiecki, den Zürchern Schellenberg, Pfenninger und Schmoll Porträt- und Kopieraufträge. Für alle Blätter liess er kostbare Passepartouts schneiden und kommentierte sie nach seinen Erkenntnissen. Zu einem Selbstbildnis Pfenningers notierte er u.a.: „Welche klare Stirn und welche verständige Nase!“ Aufschlussreich die Kommentare zu eigenen Abbildern: „Kennt‘ ich, Freünd, dich nicht“,schreibt er 1789 unter ein anonymes Abbild seiner selbst,“… Könnt’ es nicht begreifen – dass du so gehasst und geliebt wirst!“
Lavater war ein Leidenschaftlicher und zuweilen Massloser. So kam es, dass er einen Schuldenberg hinterliess, der die Nachkommen zwang, das Kunstkabinett zu verkaufen. Das Glück wollte es, dass es in Besitz der österreichischen Kaiserfamilie kam und von da schliesslich in die Wiener Nationalbibliothek, wo es bis vor fünf Jahren ruhte. Seither wird es in einer österreichisch-schweizerischen Kooperation aufgearbeitet und nun erstmals in der Schweiz in Ausschnitten gezeigt. Ein Fundus!

Die massvoll konzipierte Ausstellung zeigt Kapitel: Zum Beispiel die „Dominanz des Auges“ oder auch – sich dem Kern von Lavaters Motivation nähernd – eine „Christus“-Wand, in welcher letztlich das Scheitern erkennbar wird. Lavater findet das Idealbild nicht, umsoweniger als er ja immer „second hand“, das heisst die Zeichner und Stecher interpretiert.

Der strukturierte Fassettenreichtum ist eines der Erfolgsrezepte der Projektes. Massgeblich hiefür ist last but not least die Austellungsarchitektur, die für einmal gar den Begriff des „Bühnenbildes“ auf den Plan ruft. Durch und durch geometrisch-modern erlaubt es die Zeit in der Zeit wahrzunehmen (Silvio Schmed). Ausserordentlich, und möglicherweise zukunftsweisend, ist das in den letzten Jahren nur selten erprobte Crossover zwischen Philologie und Kunst; der Mut, nicht einen Künstler im Kunsthaus zu zeigen, sondern ein in Lavater verkörpertes Zeitphänomen, das sich in der Kunst Der Epoche und weit darüber hinaus (man denke hier in der Region zum Beispiel an den Einfluss Lavaters auf Albert Anker) spiegelt. Lavater sprengte Grenzen, fühlte sich als Europäer, reiste viel und kommunzierte mit Prominenten von Leipzig bis London, träumte von Idealen und suchte ihnen, der Aufklärungszeit entsprechend, Wissenschaftlichkeit zu geben. Und scheiterte, als Patrizier der alten Garde ebenso wie an der Kluft zwischen Intuition und Fassbarkeit.

„Das Gesicht“, so spannte Kurator Guido Magnaguagno an der Pressekonferenz den Bogen von Lavater zur Gegenwart, „sei gerade heute, in Zeiten virtueller Formbarkeit erneut ein Thema“. Schade, dass man das nicht real aufgegriffen hat und mit der grossen Bedeutung des Porträts in der aktuellen Foto- und Cyber-Kunst (von Thomas Ruff bis Inez van Lamswerde) dokumentiert hat.

Kunsthaus Zürich: Johann Caspar Lavater. Das Antlitz – eine Obsession. Bis 22. April.
Begleit-Vorträge jeden Donnerstag, 17.30 Uhr. Führungen: Mi 18.30, So 11 Uhr. Katalog: Werkverzeichnis mit Textangaben. Am 1. April erscheint der 2. von 10 Bänden der Reihe „Johann Caspar Lavater. Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe“ (NZZ-Verlag). Informationen zum Rahmenprogramm sowie der Link zu den „Physiognomischen Regeln“ auf www.kunsthaus.ch/ausstellungen/lavater respektive http://vhs-ge.gelsen-net.de/cdrom/gutenb/autoren/lavater.htm