Gérard Lüthi Photoforum Biel 2001

Mit der Kamera auf der Spur von Nähe und Ferne

www.annelisezwez.ch   Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 15. Januar 2001

Das Bieler Photoforum im Centre PasquArt startet das Jahr mit zwei sehr unterschiedlichen Ausstellungen. Mit Menschen am „Herd“ (Francis Boillat) und Fotos zwischen Schärfe und Unschärfe (Gérard Lüthi). Um letztere geht es im Folgenden.

Charles Henri Favrod, früherer Leiter des Fotomuseums Lausanne, sagte einmal, es gebe zwei Sorten von Fotografen: Jäger und Fischer. Die schwarz-weissen Bilder, die der Bernjurassier Gérard Lüthi (Moutier) im Photoforum PasquArt zeigt, weisen den 43jährigen eher den Fischern zu. Aufnahmen, die ihre Schärfe in der Weite des Unscharfen, im Nahen die Dimension der Ferne suchen. Fotografien, die sich dem anbieten, der sie nehmen wolle, Bilder ohne grosse Worte, bescheiden, sagte Pascal Rebetez an der Vernissage; eine Bescheidenheit im Sinne von Georges Brassens freilich, eine anspruchsvolle.

Die Fotografien zeigen meist Naturmotive – mit und ohne Figuren, näher und ferner der Zivilisation. Charakteristisch ist die schmale Schärfebandbreite: Wiedererkennbar ist oft nur die Wegwarte am Strassenrand, die blühende Seerose im Teich, der mit Flechten überzogene Baumstamm auf dem Dorfplatz. Alles andere entzieht sich dem analytischen Blick, reduziert sich auf Erraten und freie Interpretation. Gespiegelt ist weder das Bild des Kurz- noch des Weitsichtigen, der die Brille abnimmt und die Welt unscharf sieht. Es ist die Gleichzeitigkeit von Schärfe und Unschärfe, welche die Betrachtenden vom Sehen zum Ahnen, zuweilen auch zum Staunen, führt. „Meine Verführungskunst besteht darin, Geheimnisvolles aufzuzeigen, Verstecktes aus den Winkeln zu holen, an dem sonst der Blick nur vorüberstreift“, notierte der Künstler einmal. Zum Beispiel eine Frau im Laufschritt, in unbestimmbarem Feld nur dunkel und vage erkennbar, in dem Moment aufgenommen, da in der Frontalität nur ein Bein sichtbar ist. Woher – Wohin?

Gérard Lüthi ist als Fotograf Autodidakt. Hauptberuflich als Lehrer tätig, zeigt er seine Aufnahmen primär im Kontext von Fotoausstellungen. Seine Aufnahmen finden sich sowohl in der Sammlung des „Elysée“ in Lausanne wie der „Stiftung für Photographie“ in Zürich. Seine allererste Einzelausstellung hatte Lüthi 1986 im Photoforum PasquArt. Wie ein Katalog von 1993 zeigt, verfolgt Lüthi die Arbeitsweise zwischen Schärfe und Unschärfe seit mehr als 10 Jahren konsequent. Dass Lüthi nicht im Kunstkontext rezipiert wird – die Trennung gibt es nach wie vor – ist wohl einer der Gründe, warum er in der Ausstellung zum Thema im Kunstmuseum Solothurn vor zwei Jahren fehlte.

War früher das ortsbezogene Umfeld oft noch erkennbar, so ist es heute gerade die Ortlosigkeit, welche die meisten Bilder auszeichnet. Dementsprechend findet man in der Ausstellung auch keine Liste mit ergänzenden Angaben. Sie würde auch nichts besagen, denn selbst, wenn man weiss, welche Aufnahmen Lüthi in China gemacht hat, man findet darin nichts, was China illustrieren würde. Blüten und Parkanlagen, Lichtreflexe und vorbeihuschende Gestalten gibt es überall auf der Welt. Genauso wie Einöden, verlassene Strassen, Wiesen und sogar Fussballfelder. Fragt der Fotograf, ob es das Unscheinbare ist, das die Welt im Innersten zusammenhält?

Pascal Rebetez bezeichnet Lüthis Bilder als Haikus und anderer Stelle als „fragil und stark“. Er benennt damit ihre Qualität. An was die Ausstellung trotzdem krankt, ist ihre Uniformität –da werden nicht durch Gegensätze Eigenarten herausgeholt, da wird nicht mit Formaten gespielt, sondern in klassischer Zweier- und Dreiergruppierung den Wänden entlang Bild um Bild gehängt. Mit dem Resultat, dass das Auge mit der Zeit müde wird und sich die Unschärfe auf die Ausstellungsgänger/-innen überträgt. Schnell ist dann das Wort „Langeweile“ zur Stelle, obwohl im Einzelnen (fast) jede Fotografie ihr ganz eigenes Gesicht hat.

Lüthi verändert seine Aufnahmen im Labor kaum. Er versucht seinen Bildvisionen vor Ort Gestalt zu geben. Dementsprechend ist die Ausstellung auch nicht eine Auswahl aus Tausenden von Motiven und Versuchen. Viel lieber ist ihm das Schauen sur place, das Beobachten von Formen und Gegenformen, hellen und dunklen Zonen, Rundungen, Ecken und Diagonalen, Ruhendem und Bewegtem; in der Natur und unter den Menschen, auf der Strasse und in der Wüste, auf der Wiese und im Dorf. Er kennt seine „Nikon“, weiss, dass sie alles zeigt, was er im Sucher sieht. Und weiss, wie Film und Kameraeinstellung das, was er vor Ort dreidimensional und scharf sieht, in räumliche Illusion und Zonen von festen Form und weicher Auflösung verwandeln wird. Das Auge und die Kamera bilden zusammen die „Bildmaschine“.