Centre PasquArt Biel zeigt 20 junge Schweizer Positionen 2003

Was brennt unter den Nägeln?

www.annelisezwez.ch      Annelise Zwez in Mittelland Zeitung 4. April 2003

Es dürfe nicht sein, dass man nach Madrid fahren müsse, um junge Schweizer Kunst zu sehen, sagt Dolores Denaro (32), Direktorin des Centre PasquArt in Biel. Und gab 20 Künstler/-innen „carte blanche“, einen Raum in „ihrem“ Haus zu bespielen. Eine spannende Momentaufnahme.

Die Nachhaltigkeit von „Nonchalance“ (Biel, 1997) in Erinnerung und das „Mittelmeer“ (Zürich, 1998) bis auf wenige Anknüpfungspunkte hinter sich lassend, zeigt das Centre PasquArt einen risikofreudigen Blick auf die junge Kunstszene Schweiz. 27 Künstler/-innen, im Schnitt knapp 35 Jahre alt, bespielen einzeln und in Gruppen die 20 kleinen und grossen Räume des Hauses. Dabei spielt Biel seinen Trumpf eine bilingue Stadt zu sein bewusst aus; die Romandie ist so präsent wie die Deutschschweiz und auch der Tessin ist da.

Ist die Ausstellung also, umso mehr als ein Thema fehlt, nichts anderes als die vom Bund fallen gelassene Museums-Präsentation eidgenössischer Kunstpreisträger (in welcher die lateinische Schweiz stets stark vertreten war)? „Jein“. Die Stipendiatslisten (inklusive Kiefer-Hablitzel) waren ein wichtiges Reservoir für die Auswahl, das ist auch nicht verwunderlich, doch das Engagement, mit welchem die Kunstschaffenden die Chance der Einladung gepackt haben, macht aus „In diesen Zeiten…c’est le moment“ mehr.

Hinter der Auswahl steht das berechtigte Ziel, aufzuzeigen, dass die Schweiz, allem Nomadentum zum Trotz, ein wichtiger junger Kunst-Werkplatz ist, mit Zentren von Genf über Bern bis Basel und Zürich (die Ostschweiz ging etwas unter). Um spezifisch Schweizerisches geht es dabei selbstverständlich nicht, sondern eher darum zu beweisen, dass eine offene Haltung einen Atelier-Standort Schweiz nicht ausschliesst. Vor lauter Internationalität geht dies in den hiesigen Kunsthallen- und Museumsprogrammen nämlich zuweilen unter (vielleicht ist das typisch schweizerisch).

Kulturpolitisches ist bedeutungslos, wenn keine Qualität da ist. Und die gibt es. Der Medienmix ist zeitgemäss, geht von Wandzeichnung über Malerei und Video bis zur aufwändigen Raum-Installation und bringt auch das Performative ein. Während die gerade mal 25-jährige Geneviève Favre (ein welsches Versprechen), die Requisiten ihrer Performance (26. April) während der Ausstellung zur Lichtbühne drapiert, integriert San Keller (32) seine Aktion in eine Installation, die beispielhaft zeigt wie Aussen und Innen kombinierbar sind. Er ging vorab mit einem Kameramann in Biel und Zürich von Tür zu Tür, fragte, ob er seine Kunst vorstellen dürfe. Und blitzte dabei (meist) ab. Denn die Schweizer, das zeigt die Wohnstube, ziehen es vor die Welt via TV zu sich zu holen und dem Lebendigen (San Kellers Aktion) den Rücken zuzukehren. Drastischer noch weist Reto Leibundgut auf dasselbe Phänomen. Er stellt seine monumentalen „Papierflieger“ aus Holz neben Ledersofas, die er in „Hunde“ verwandelte und diese auf Perser-Teppiche, die er zerschnitt und neu zusammensetzte. Das Politische bringen indes „Relax“ (Chiarenza/Hauser/Croptier) auf den Punkt, indem sie entleerten TV-Bildern die (Börsen)kurve der „Wut“ entgegenstellen.

Die Ausstellung hat kein Thema – man kann das offen nennen, aber auch kritisieren – doch unverhofft, zeigt sich ein vieles verbindender, roter Faden: Die Fiktion der Realität. Keine Generation zuvor brannte der Verlust verbindlicher Realität so sehr unter den Nägeln. Nicht nur anklagend, sondern auch hinterfragend und zuweilen lustvoll ausspielend. Dabei ist nicht nur der Kontrast das Thema, sondern viel stärker noch das Selbstverständnis, dass Fiktion und Realität, so absurd das klingen mag, in unserer Medienwelt ein und dasselbe sind.
Nur so können die Genfer Nathalie Novarino und Marcel Croubalian (beide 36) ihr Video-Märchen von den kleinen Föten in den Pillen-Kapseln, die so gerne Menschlein würden, derart liebevoll und schauerlich zugleich inszenieren. Nur so greift die Ironie des „Allesfressers“ von Franz Gratwohl (36), der sich – im Video-Bild auf Mund und Hals beschränkt – in ununterbrochenem Schnappen und Schlucken durch das Nichts frisst.

Doch die Medien sind nicht nur die „bösen“, sie rufen auch auf den Plan, was sich in Hirnwindungen des Menschen schon immer abspielte. Rébecca Sauvin (28) zum Beispiel nutzt den digitalen Schnitt, um dem Absurden des Traums auf die Spur zu kommen und Andreas Dobler (40) greift die Fäden des Surrealen, um als Maler und Zeichner Urbanes in (filmische) Visionen zu verwandeln. Während Pascale Favre (33) in der Realität der Wandzeichnung dem Fluiden der Erinnerung habhaft zu werden versucht.
Auffallend ist hier und dort und immer wieder, wie sehr die Bühne den Künstler/-innen als Ort für ihre fiktiv-realen Inszenierungen dient.

M.S. Bastian, Valentin Carron, Jonathan Delachaux, Andreas Dobler, Geneviève Favre, Pascale Favre, Fabrizio Giannini, Franz Gratwohl, San Keller, Jörg Köppl/Peter Zacek, Hannah Külling, Reto Leibundgut, Zilla Leutenegger, Andreas Lutz/Anders Guggisberg, Nathalie Novarino/Marcel Croubalian, Kotscha Reist, RELAX, Silvano Repetto, Rébecca S., Bodhan Stehlik, Gerda Steiner/Jörg Lenzlinger.
Künstlerbuch und Textheft.