Den Raum zum Bild machen

Zur Ausstellung von Reto Boller im Museum Allerheiligen in Schaffhausen. bis 20. April 2003

Einen Blick werfen und erfassen, um was es geht – nein – so einfach macht es einem Reto Boller nicht. Aber, warum muss ein Bild eigentlich immer an der Wand hängen?

Reto Boller (37) hat in den letzten sieben Jahren alle Stipendien erhalten, welche die Eidgenossenschaft respektive Stadt und Kanton Zürich maximal zu vergeben haben: dreimal den Preis für Freie Kunst, dreimal das Stadt- und dreimal Kantonsstipendium. Parallel dazu angelte sich Boller schon im letzten Jahren seiner Ausbildung an der Hochschule Gestaltung (1995) mit Mark Müller den für seine Kunst wohl adäquatesten Zürcher Galeristen. Und seit rund zwei Jahren ist er auch im Ausland etabliert.

Eigentlich toll, dass es Markus Stegmann gelungen ist, den so breit geförderten Künstler für seine erste Museums-Einzelausstellung ins Allerheiligen zu locken. Doch bei einem breiten Schaffhauser Publikum stösst die Schau auf wenig Gegenliebe. Ein blauer, aufgeschnittener Rasenteppich am Boden, undefinierbare „Scherenschnitt-Reliefs“ an der Wand, amorphe Silikonmasse auf Aluminium – wer mögen die „Spinner“ sein, die so etwas kaufen? Ausgerechnet bei dieser Ausstellung wurden nämlich mehr Werke verkauft als in anderen. Die einen beirrt das nicht; sie sagen: „Ich wusste schon immer dass der Kunstbetrieb eine Mafia ist“. Andere fragen, was denn dieses Echo über den bekannten Multiplikator-Effekt hinaus eigentlich auslöst.

Markus Stegmann hat im vergangenen Jahr in der Ausstellung „Die Pracht erwacht“ aktuelle Malerei präsentiert. Und dabei eine Position eingenommen, die sich klar auf das Medium – auf die Farbe auf dem Bildträger – konzentrierte. Also nicht auf inhaltliche Momente Wert legte, sondern auf Neuerungen im Bereich von Malerei als Malerei. Unter den vertretenen Künstler/-innen Reto Boller.

So geht es auch jetzt nicht primär um Bilder, die eine Botschaft weitergeben wollen, sondern um die Bilder an sich. Um das, was sie sind und wie sie in dieser Reduktion auf sich selbst wirken. Um die Frage auch, ob es nach Jahrhunderten von Ölmalerei und den vielfältigen Auf- und Ausbrüchen seit Lucio Fontanas berühmten Schnitt in die Leinwand noch unbekanntes Terrain gibt.

Reto Boller ist nicht der Einzige, der hiezu alternative Malmittel wie Leim oder Silikon einsetzt – man denke, in Schaffhausen, an die Schuhwichse-Bilder von Stefan Sulzberger – aber Boller verfolgt seine Recherchen seit Mitte der 90er Jahre so konsequent , dass sie heute bereits Werk-Charakter haben. Und er verbindet die materielle Suche am Rand des noch mit „Malerei“ in Beziehung Stehenden mit der Suche nach Formen am Rand fassbarer Erzählbarkeit. Ist eine unregelmässig gerundete Form ohne Kontext noch das Bild eines Teiches oder ist sie nichts als ein Nichts?

Entwicklungen im Werk eines Künstlers sind nicht immer voraussehbar ( oder die Künstler lassen sich nicht in die Karten schauen). So kommt es, dass sich die im repräsentativen Begleitkatalog im Zentrum stehende Frage nach der Malerei Bollers im Museum Allerheiligen eigentlich auf den Annex-Raum Bezug nimmt, während der Künstler im Vorraum und im Hauptsaal Werke präsentiert, welche in eine deutlich neue Richtung weisen. Die „Teiche“ sind nicht mehr mit was auch immer „gemalt“, sondern Löcher in der Aluminiumplatte und die Mueumswand die farbtragende „Malerei“. Auch die von älteren Werken bekannten Streifen liegen nicht mehr auf einem Träger; sie sind vielmehr in einen Teppich geschnitten, liegen als gerollte Schnecken am Ende des Raumes und geben da, wo sie waren, die Sicht auf den Boden frei. Und die Bildformen an der Wand zeigen sich als rund 2,5 Zentimeter dicke „Scherenschnitte“.

Den Raum, die Architektur als Bildträger zu nutzen, ist nicht gänzlich neu im Werk Bollers; schon letztes Jahr präsentierte er eine gelbe Folie, die von der Wand auf den Boden „auslief“. Doch der Umgang damit radikaler geworden. Wie Markus Stegmann in einem Gespräch richtig bemerkte, scheint die Farbe auf den Boden ausgeflossen zu sein. Dabei hat sie den in unserer Vorstellung grünen Rasenteppich blau gefärbt. Und hat ihn damit zum Bild – zum Boden-Bild – gemacht, das vom Publikum begangen werden kann.

Kunstgeschichtlich ruft Boller damit die berühmten „Zip“ (Reissverschluss)-Bilder von Barnett Newman aus den 50er Jahren aufs Tapet ; er materialisiert sie quasi in der direkten Verbindung von Raum und „Malerei“. Er tut dies konsequent, indem die Werke an den Wänden farblos sind und wie entleerte Reststücke von einstmals prachtvollen Bildern wirken. Gleichzeitig erinnern die weissen und schwarzen Reliefs in ihren Aussenformen an frühere Malerei-Binnenformen. In gewissem Sinn sind sie das ja auch noch, wenn man die ganze Wand als Bildträger anschaut und die Reliefstruktur als Einschnitte da betrachtet, wo im Nebenraum die Silikonmasse vom Malereiträger weg in den Raum stösst.

Kompliziert. Aber man muss die Schritte des Künstlers sezieren, denn nur so wird bewusst, dass da ja einer denkt indem er tut. Und dass ein Bild, das zugleich ein Raum ist, dass ein Bild, das die Betrachter miteinschliesst, ein Bild, das nicht abbildet, sondern der Bilderflut ihre Löcher und Einschnitte, ihre Kehrseite und Nichts-Seite entgegenhält, eigentlich sehr brisant ist. Und damit ist eigentlich gesagt dass die „Kunstmafia“ so dumm und unbedarft nicht ist, sondern den Künstlern, die sie fördert sehr wohl und sehr präzise auf die Finger schaut.

Katalog.