Macht die Ghettoisierung noch Sinn?

CentrePasquArt/Biel: Weihnachtsausstellung des Photoforums. Bieler Tagblatt 12. Dezember 2003

Es gibt die Weihnachtsausstellung und dann noch die Weihnachtsausstellung des Photoforums. Beide im CentrePasquArt in Biel. Ist die Ghettoisierung der Fotografie überhaupt noch sinnvoll?

Ob sich das Jurieren von Kunst und das Jurieren von Fotografie im Vorfeld einer Weihnachtsausstellung voneinander unterscheide, fragten wir Photoforum-Jurymitglied Ruedi Schwyn. „Nein, eigentlich nicht“ ist seine Antwort, doch, die Konzentration auf ein einziges Medium bringe es mit sich, dass man sehr genau hinschaue wie sich Methodik und Inhalt miteinander verschränkten. Und das sei, so Schwyn, im Vergleich mit einer multimedialen Ausstellung ausgesprochen spannend.

Die Fotoszene wird von der Kunstszene zuweilen angegriffen, sie sei zu technikverliebt, zu sehr auf medienspezifische Raffinesse und Effekte ausgerichtet, statt auf Inhalte. Um dies zu prüfen, entschloss sich das neu von Daniel Müller geleitete Bieler Photoforum heuer, einen die bildende Kunst sehr breit fassenden Experten beizuziehen, den auch als Lehrer an der Schule für Gestaltung tätigen Ruedi Schwyn. Und prompt ist das Leitmotiv der diesjährigen Jurierung: Inhalt. Das heisst, eine makellose Reportage wurde möglicherweise zurückgewiesen, während eine fototechnisch nicht gleichwertige, aber von einem (emotionalen) Ausdruckswillen geprägte Serie drin blieb. Mit dieser Optik fiel die Jurierung heuer strenger aus als andere Jahre. Die um gut 20 Prozent erhöhte Gesamtbeteiligung spiegelt sich nicht in der Zahl der 30 in die Ausstellung angenommenen Fotoschaffenden aus der Region, dem Kanton und der übrigen Schweiz. Sich bewerben kann ja beim Photoforum seit jeher und im Gegensatz zum Kunstverein wer immer will (sofern er Mitglied des Vereins ist). Das gibt Breite und ist gut so.

Wie ist dieses inhaltsbezogene Konzept in der Ausstellung nachvollziehbar? Nicht so einfach. Mit Fotografie Inhalte generieren ist anspruchsvoller als die Realität dokumentieren und parallel dazu ist für die Betrachtenden das Erkennen der Inhalte schwieriger als das Registrieren des oberflächlich Abgebildeten. Es kommt hinzu, dass auf Inhalt ausgerichtete Fotografie oft im multimedialen Kunstkontext rezipiert wird und nicht im fotospezifischen. So ist die Fotografie auch in der Kunstvereins-Weihnachtsausstellung vertreten (z.B. Raphael Hefti). Und da stellt sich denn auch die Frage, ob Photoforum und Kunstverein bei der ausstellungsmässigen Inszenierung der Weihnachtsausstellungen nicht neue Formen der Zusammenarbeit suchen müssten, ob eine Ghettoisierung der Fotografie innerhalb des Hauses überhaupt Sinn macht.

Man muss also sehr genau hinschauen, sich auf den Grat zwischen Abbild und Ausdruck konzentrieren. Und wird da zum Beispiel bei der Bielerin Mirei Lehmann (37) fündig. Ihre Reihe „Love me or leave me alone“ gehört mit zum Besten der Ausstellung, gelingt es ihr doch die emotionale Ambivalenz im Empfinden von Mädchen und Buben zwischen Kindheit und Pubertät trefflich einzufangen; dieses unsichere Hin- und Hergerissensein zwischen Sehnsucht nach Beachtung und Angst vor Liebesentzug. Da trifft sich brillante Fotografie mit Arbeit am Bild, Arbeit am Ausdruck. Anders als bei der Malerei kann die Fotografin nicht frei gestalten, sie muss warten bis sich ihr das Bild zeigt. Sie kann den Boden bereiten gewiss, doch anders als, bei einer Rineke Dijkstra, einer Roni Horn oder einer Katrin Freisager, geht es Lehmann nicht nur um das inszenierte Porträt, sondern um die Visualisierung eines kollektiven Gefühls: „Love or leave me alone“.

Ähnliches könnte man von der mit dem diesjährigen „Prix Photoforum“ ausgezeichneten Hélène Darwish (31) sagen, die ihre Grossmutter in anteilnehmender, die Autonomie und den Lebensausdruck der alten Frau jederzeit respektierender, ja sogar bewundernder Art und Weise porträtierte. So, dass sich die Beziehung zwischen Fotografin und Modell auf die Betrachtenden überträgt. Dazu gehört als Methode der Mut zum Bildschnitt, zu einer sehr persönlichen Nähe. Die Frage, ob die erst seit kurzem fotografierende Zürcherin die hier gezeigte Intensität in andere Themen wird übertragen können (was uns eine Voraussetzung für einen Preis scheint) bleibt im Moment jedoch unbeantwortet.

Ein anderes, gutes Beispiel ist die ebenso in Neu-Seeland wie in der Schweiz entstandene „Boring TV corner“ – Serie des Waadtländers Tangi Zahn. Wie es dem 31-jährigen gelingt, aus Intérieurs beklemmende Gesellschaftsbilder zu machen, ist beeindruckend. Die ebenso vertrauten wie seelenlosen Fernseh-Ecken sind dermassen Inbegriff des „Billigen“ (zumal jegliche kontrastierende Lebens-Zeichen eliminiert sind), dass man die Fotos am liebsten packen und zum Fenster hinaus werfen würde.

Und wiederum anders, die vielteilige „unendliche Reise“ von Anna Halm Schudel (58), deren kleinformatige „lichtechte Pigment Inkjet Prints“ das Thema des „Reisens“ eindrücklich in vorbeiziehendes Leben umzusetzen vermögen. Dabei fotografiert Anna Halm nicht sich Bewegendes, sondern setzt die Kamera als Bewegungsinstrument ein, was eine ganz andere Unschärfe ergibt und im Verbund mit der intensiven und zugleich unbunten Farbigkeit zu Qualität gerinnt.

Qualität heisst Synthese von Medium und Ausdruck. Wenn Stefan Kohler (52) osteuropäische Prostituierte in der Manier des berühmten (Basler) Christus von Hans Holbein nackt auf einem horizontalen Untergrund fotografiert und die Aufnahmen „Horizontales Gewebe“ nennt, so spickt er die Bilder derart platt mit Inhalt, dass sie in sich zusammenfallen, umsomehr als die fotografische Qualität kein Gegengewicht gibt. Es gäbe mehr Beispiele der positiven wie der eher kritischen Art.