Mary Ellen Mark im Photoforum PasquArt in Biel 2003

Menschen ins Gesicht schauen

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 08.Oktober .2003

In den USA gelten ihre klassisch schwarz-weissen Reportage-Fotografien als Ikonen. Jetzt ist Mary Ellen Marks „American Odyssee“ erstmals in der Schweiz zu sehen, im Photoforum in Biel.

Bei amerikanischen Künstlern respektive Fotografen, die ein finanziell gut dotiertes Management hinter sich haben, sind Superlative mit Vorsicht zu geniessen. Amerika ist grosszügig mit grossen Worten. Mary Ellen Mark (63) ist ein solches Beispiel. Sie ist eine herausragende Fotografin. Die zahlreich angereisten Kollegen waren sich am Samstag an der Vernissage einig: Die fotografische Qualität der unmittelbar mit dem Betrachter Kontakt aufnehmenden Bilder ist herausragend. Wenn Mary Ellen Mark dennoch fehlt in europäischen Kompendien zur Fotografie des 20. Jahrhunderts, so vermutlich weil sie stilistisch keine eigentliche Erneuerin ist. Wenn sie in einem Atemzug mit Henri Cartier Bresson (geb. 1908) und, vor allem, Diane Arbus (geb. 1923) genannt wird, so dokumentiert das ihre Qualität, aber auch die Art und Weise ihrer Auffassung von Bild und Motiv.

„… ihre Bilder sind also keine Schnappschüsse oder heimliche Aufnahmen mit ‚versteckter Kamera‘, sondern Gemeinschaftsarbeiten, die die Beziehung zwischen Fotografin, Kamera und Modell mit reflektieren“. Nein, das ist kein Zitat aus einem Buch über Mary Ellen Mark, obwohl es das trefflich sein könnte, sondern über Diane Arbus („Fotografie! Das 20. Jahrhundert“/Prestel 1999). Auch das Stichwort „diese Zeit“ (und keine andere), das zu Cartier Bresson gehört, trifft auf Mary Ellen Marks Fotografie trefflich zu. Es ist die Kombination, welche ihre Eigenart innerhalb der „Schule“ Bresson/Arbus ausmacht; der präzise inszenierte Moment bei grösstmöglicher Nähe zum Vis-à-Vis.

Aber das ist nicht alles. Mary Ellen Mark, geboren 1940, besucht in den 60er Jahren eine der ersten Schulen, die auf Fotografie und Printmedien ausgerichtet sind. Das lenkt ihren Blick auf den Faktor „Information“ oder „Aussage“. Sie will mit jedem Quadratzentimeter Fotografie etwas ganz Konkretes sagen. Und sie ist eine Meisterin darin. Da ist zum Beispiel aus einer neuen Serie, die eben als Buch erschien, ein Zwillingspaar. Zwei ältere, faltig und dünn gewordene Frauen in weissen Spitzenkleidern, mit Glamour-Schmuck und Zigarette, die eine wie die andere. Mark schaut so nahe (der Flash-Technik sei Dank), dass selbst jedes dunkle, lange, feine Haar auf der hellen Haut ihrer Arme sichtbar ist. Die Fotografie könnte auch für ein Buch mit dem Titel „Schönheitsköniginnen“ ausgewählt sein – ein Thema, das Mary Ellen Mark immer und immer wieder fasziniert hat. Der Wunsch, von Frauen traditionellerweise, schön zu sein – wenigstens im Widerschein der Kamera; egal ob in der Gosse, auf Männerfang oder als 130kg-„Landschaft“ in Kissen drapiert. Die betont inszenierten Aufnahmen finden gerade hier eine eindrückliche Steigerung im Sinne von Rollenspielen, vielleicht gar Theater im Theater. Ad absurdum geführt in den Aufnahmen eines Baby-Schönheitswettbewerbes. Und lustvoll weitergesponnen in zahlreichen Aufnahmen rund um Halloween.

Die Ausstellung in Biel trägt den Titel „American Odyssee“. Das ist auch der Titel eines 1999 erschienenen Buches von Mary Ellen Mark und wahrlich träf. In doppeltem Sinn. Zum einen schreckt die Ausstellung nicht davor zurück, breite erzählerische Stränge, eine Vielzahl von Aufnahmen (aus 25 Jahren!) zu zeigen. Quasi ein Buch an den Wänden. Das ist nicht zuletzt möglich, weil die absolut homogene, klassische Rahmung keine zusätzlich Unruhe bringt. Zum andern ist es wirklich eine amerikanische Odyssee, die sich da in „manchmal beängstigenden, manchmal belustigenden und manchmal pathetischen Facetten“ zeigt.

Typisch für die Generation von Mary Ellen Mark ist die fast durchgehende Ausrichtung auf Randgruppen. In den späten 60er Jahren, in welchen Marks Werk einsetzt, sind „sex, drugs und rock’n roll“ allgegenwärtig und es setzt, in Amerika ebenso wie in Europa, eine Hinwendung zu „Outsidern“ aller Art ein. Seien es Prostiuierte, Transvestiten, auf der Strasse (oder in ausrangierten Autos) Lebende, psychisch oder physisch Kranke usw.

So wie sich der fotografische Stil von Mary Ellen Mark nicht grundsätzlich verändert, so lotet sie auch das Thema des Abseits, im weitesten Sinn des Wortes, bis heute aus, und dies ohne die Grenzen des Perversen anzutasten. Im Gegenteil, es sind die „anderen Menschen“, die sie interessieren, die Würde in der Armut, die Menschlichkeit der Strasse, die Integrität der Menschen in Krankenheimen und Spitälern, die Schönheit des Alters; selbst die Rituale des Kuklux-Clans und den Hang zur Kriminalität zeichnet sie betont menschlich. Mark ist da nicht allein, viele habe diese Themen einzufangen versucht. So kehrt die Diskussion immer wieder zur Fotografie selbst zurück, zum stupenden Umgang der Fotografin mit „ihrem“ Medium, den heute noch aktuellen Möglichkeiten der klassischen Fotografie, die von der digitalen Aufnahmetechnik immer noch nicht erreicht sind. Darüber hinaus ist es aber auch das typisch Amerikanische, das die Ausstellung ausserordentlich macht, die Beschränkung auf die „American Odyssee“.