Neuinterpretation eines (fast) Vergessenen

Kunsthaus Zug zeigt Walter Kurt Wiemken (1907-1940). Bis 16.02.2003

Kurz nach Erscheinen der gültigen Werkmonographie von Walter Kurt Wiemken 1979 versank das Werk des Basler Surrealisten in der Vergessenheit. Es schien alles gesagt. Nun wagt das Kunsthaus Zug eine Neuinterpretation.

Die Präsentation des Werkes von Walter Kurt Wiemken (1907-1940) durch das Kunsthaus Zug könnte nicht besser terminiert sein. Denn das Hauptwerk des früh verstorbenen Basler Surrealisten thematisiert ein Lebensgefühl zwischen Engels- und Teufelskräften, zwischen Überlebensträumen und Kriegsschrecken. Was uns in diesen Tagen besonders nahe geht. Als viele Schweizer Künstler sich ins „Réduit“ zurückzogen und die Landschaftsmalerei Urständ feierte, malte er die „Sphinx“ des Lebens und schuf Bilder für die Abgründe des Bedrohlichen. Mit den Form- und Stilmitteln des Surrealismus, die ihm, zeitbedingt und mit der Basler Fasnacht im Blut, besonders nahe lagen. Die Bedeutung seines Schaffens wurde früh erkannt, was sich daran zeigt, dass es 1955 an der allerersten Documenta in Kassel gezeigt wurde. Doch in den letzten 20 Jahren sprach niemand mehr davon.

Der Künstler litt zeitlebens an den Folgen von Kinderlähmung. Und das Rätsel um seinen frühen Tod wurde nie gelöst. Er war in den letzten Dezembertagen des Jahres 1940 von einem Spaziergang im Mendrisiotto nicht zurückgekehrt und wurde später im Bachbett der Breggia-Schlucht tot aufgefunden. Das machte ihn zur tragischen Figur und so wurde sein Werk, speziell in den 70er Jahren als Aussenseiter „in“ waren, unter dem Aspekt des persönlichen Dramas betrachtet. Man sah seine Auseinandersetzung mit dem deutschen Expressionisten Georges Grosz oder den Dramen August Strindbergs als Identifikationsmuster, die sich über seine Prägungen durch die Basler Gruppe „Rot-Blau“ (mit Kirchner als Leitfigur) und die Pariser Surrealismus-Erfahrungen legten.

Stephan E. Hauser wirft dieser Haltung in seinem ausführlichen Katalogtext zur Zuger Ausstellung nun vor, sie habe mit der persönlichkeitsfixierten Interpretation von Walter Kurt Wiemkens Werk eine weitergehende Forschung abgeblockt und darum die Beschäftigung mit dem Künstler in die Schublade versenkt. Mit einem geradezu oppositionellen Ansatz sucht Hauser diese Blockade zu sprengen. Die Thematik seiner Bilder, so schreibt er, habe Wiemken nur insofern interessiert als sie ihm Anlass zur Auseinandersetzung mit den Darstellungsmöglichkeiten des Bildlichen gewesen seien, seine Bilder seien von der Frage motiviert, was denn ein Bild überhaupt sei.

Hauser gibt zu, dass eine solcherart „abstrakte“ Interpretation angesichts des figürlichen Charakters der Bilder möglicherweise „gewöhnungsbedürftig“ sei. Wahrlich, doch eine These muss radikal sein, um Wirkung zu erzielen. Und so ist es denn spannend, Wiemkens Werk nicht einseitig inhaltlich zu betrachten – Nacherzählungen sind sowieso nur mit eigener Phantasie möglich – sondern auch als wagemutige Inszenierungen zwischen Nah- und Fernsichten, zwischen Zwei- und Dreidimensionalität zu sehen. Hauser fusst seine These auf Erzählungen, wonach Wiemken mit seinen Basler Malerfreunden (Hugo Abt, Walter Bodmer u.a.) nächtelang über Bildprobleme diskutiert und sich überdies stets geweigert habe, seine Bilder erzählerisch zu deuten.

Wenn Hauser auch zweifellos übers Ziel hinausschiesst, so lenkt er doch den Blick neu auf die Gleichzeitigkeit von Maler, Thema und Bildlösung. Ein gutes Exempel hiefür ist zum Beispiel das skizzenhafte Bild „Friede und Kanonen (Friedensengel)“ von 1934. Es zeigt gleichzeitig eine Landschafts- wie eine Ateliersituation und darüber, in luftiger Höhe, ein Denk- und Lenk-Tablett, das über feine Fäden mit einer Friedhofzeichnung auf dem Atelier-Wandbild sowie einem Teller mit einer als „Hirn“ beschrifteten Masse auf dem Boden verbunden ist. Wie ist das Thema als Bild darstellbar, ist somit als Frage geradezu exemplarisch visualisiert.

Wiemkens Bilder sind meist auf Gegensätzen aufgebaut, so stehen sich auch hier Kanonen und ein Friedensengel gegenüber, zugleich aber auch eine räumliche und eine bildhaft flache Ebene. Die Frage, wie kann ich als Maler zwischen Vision und Bildauftrag dies alles miteinander verbinden, ist in dieser Arbeit wie kaum in einer zweiten fassbar und stützt so Hausers Theorie nachhaltig. Und sagt auch, warum der Surrealismus, der sich nicht um physisch Gegebenes kümmert, für Wiemken das richtige Stilmittel ist, um so Gegensätzliches wie den Wahnsinn eines Krieges einerseits und eine gegebene Bild-Realität andererseits zu verschmelzen. Wiemken nutzt hiezu immer wieder die surrealistische Ungleichung von Grössenordnungen, von klein und gross, was sowohl inhaltlich deutbar ist, wie auch die Utopie von Realität als Bild betreffend.

Wiemkens Werke wurden, speziell in den 50er und 60er Jahren, als Vorahnungen des 2. Weltkrieges interpretiert. Das ist indes eine zu enge Sicht, denn die Werke der frühen 30er Jahre entlarven vor allem die Gegensätze zwischen Lug und Trug, Satten und Notleidenden, um sich dann Mitte der 30er Jahre Krieg und Frieden als irrwitzigem Zeitenrad zuzuwenden. Die Werke zwischen 1936 und 1938 beziehen sich klar auf den spanischen Bürgerkrieg. Erst 1939 wird der 2. Weltkrieg im engeren Sinn bildmanifest, wobei „Versinkende Gerechtigkeit“ oder „Die Nacht“ (beide von 1940) – vielleicht bezeichnenderweise – eher Ohnmachts- und Trauerbilder sind denn Bilderzählungen.