Erschienen: Dezember 2003 im Schweizer Kunstbulletin

Zürich

Pia Fries in der Galerie Mai 36

„Les aquarelles de Léningrad“ ist der Titel der Ausstellung von Pia Fries (48) in der Galerie Mai 36. Er bezieht sich auf Naturstudien von Maria Sibylla Merian (1647–1717), die in russischem Besitz sind und auch als Faksimilie existieren. Fragmente davon in eine Werkgruppe auf Naturholz integrierend, zieht sich die Annäherung an Gegenständliches in Fries‘ malplastischem Werk fort.

Zahlreiche Faktoren kennzeichnen die modellierte, farbintensive, bühnenhafte Malerei von Pia Fries. Ihrem ersten Katalog (Manor-Preis Luzern 1992) stellte die in Düsseldorf lebende Schweizerin ein Frühwerk von 1981 voran, das einen bunten Papagei zeigt. Wer hat ihm seine Farben gegeben, wozu und wie nutzt er sie? So schien der Künstlerin Fragestellung. Doch die erdhaften, von der Bearbeitung der Farbe als gestaltendem Material geprägten „Landschaften“ hoben noch nicht ab. Erst Mitte der 90er Jahre gelangt die nun auf mehr und mehr Echo stossende Künstlerin (u.a. Museen Aarau, Freiburg, Kleve 1995) zu freien, hellen, sich auf einer weissen „Bühne“ ausbreitenden Bildern, die in einem frei übertragenen Sinn vom Flug des Papageis erzählen. Verführerisch, träumerisch und zugleich sehr sinnlich, sehr materiell in der Bildgegenwart. Das Malmaterial mit allen nur erdenklichen Instrumenten (Rechen, Scheren, Knethaken, Stanzen, Bohrer usw.) bearbeitend, schafft sie Grossformate auf Holz und kleinere Formate auf Papier, die einem abstrakten „Gesang der Natur“ übersetzt ins künstliche Licht einer in den 1990er-Jahren malenden Künstlerin gleichkommen.

Das ist in „Les aquarelles de Léningrad“ nicht anders. Nur dass anstelle des bunten Vogels die Pflanzen- und die Schmetterlingswelt Maria Sibylla Merians getreten ist und dass sie die Bildwelt der ersten malenden Biologin direkt integriert. Florale und ornamentale Strukturen ersetzen die sich zuvor geometrischen Setzungen näherenden „Inszenierungen“ und geben den neuen Werken bisher nie erreichten „erzählerischen“ Gehalt. Dabei bleiben die Erzählungen so geheimnisvoll lustvoll wie die Namen, die sie ihren Bildern in den 90ern gab: „umbrail“, „brousses“, „lumnes“, „safien“. Wortklänge – Bildklänge; in die Fries die multimediale Gleichzeitigkeit von Bildschichten und Erkenntnisfragmenten unterschiedlicher Beschaffenheit eindrücklich einwebt.

Da ist ein weiteres Moment, das in der Rezeption nicht unberücksichtigt bleiben darf. Pia Fries ist in Beromünster aufgewachsen – einem Städtchen, das im Kern von barocker Architektur und (Kirchenraum)-Gestaltung geprägt ist. So muss in Bezug auf die exemplarische Materialität von Fries‘ Bildern der Begriff der Stuckatur fallen, in der zugleich die Luftigkeit und die Ornamentfreudigkeit barocker Deckengemälde mitschwingt. Weder ab- noch nachbildend, doch emotional evozierend. Und bewusster als zunächst sichtbar mit den Natur-Recherchen von Maria Sibylle Merian in Bezug gebracht: Als Moment „Frau“, aber auch als Synthese präziser Recherche – von Merian als Zeichnerin ebenso wie von der Künstlerin als Malerin – und darin letztlich den roten Faden bezeichnend, der Fries‘ Werk durchwirkt: die Natur als bewegende, sinnliche Kraft ohne Anfang und Ende in einer Bildsprache ohne Nostalgie.

Bis 15. Januar 2004

 

Legende:

Pia Fries: O.T.  aus der Reihe „Les aquarelles de Léningrad“, Mischtechnik auf Holz, 80 x 60 cm, 2003,  Bild: Courtesy Galerie Mai 36.