Skulpturen und Reliefs aus einem einzigen Baum: Ansprache für den Aargauer Künstler Martin Ruf in der Galerie im Gluri-Suter-Huus in Wettingen 2003

Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren

lieber Martin

Ich war traurig. Schaute oft, vom Balkon oder vom Schlafzimmerfenster aus, ins weit ausladende Geäst unserer Platane. Um die Motorsäge wissend, die sie bald einmal fällen – töten – würde, hatten wir den Gärtner nicht mehr gerufen, sie zurückzuschneiden. Darum war sie üppiger denn je. Und auch das Efeu, das sich hochrankte, hatte ich nicht mehr gekappt von unten. An den eingewachsenen Metallringen, die Ueli Schneider einst um einem Seitenast montiert hatte, fürs „Gireitli“ unserer Kinder, konnte ich sehen um wie viel dicker der Ast geworden war in den letzten 25 Jahren. Platanen sind keine Eichen, sie wachsen relativ schnell und werden auch nicht alt wie Lindenbäume auf dem freien Feld.

Eines wusste ich: Wenn die kommen und unsere Platane umlegen, um Platz zu machen für die Lenzburger Kerntangente, dann würde ich nicht zuhause sein. Bitte nicht zuschauen. Vielleicht feige. Denn es hiess ja natürlich auch: alleine sterben lassen. Meine Kinder, längst erwachsen, wussten um die Sensibilität ihrer Mutter, um die „Gespräche“, die sie mit Unkraut führt, wenn sie schweren Herzens am Jäten ist. Darum auch der Schreck am 5. Dezember 2001. Da kamen die Beauftragten mit ihren Werkzeugen und sie wussten, dass ich am selben Tag nach Lenzburg kommen würde (ich bin seit 1999 auch in der Region Biel zuhause). So warnten sie mich. Doch es war nicht mehr halb so schlimm.

Denn da gab es inzwischen eine zweite Geschichte. In den Verhandlungen rund um die Lärmschutzwand, die inzwischen anstelle der Platane vor dem Haus steht, erzählte uns der Lenzburger Stadtbaumeister Christian Brenner, dass sein Pate Bildhauer sei und dass er ihm, wenn sich die Situation ergebe, zuweilen Bäume zuhalte. Was wir meinen würden, fragte er, wenn er ihm vorschlüge, unsere Platane für Holzskulpturen zu verwenden. Die erste Frage, klar: Wer? Martin Ruf. Mir blieb der Mund offen und es durchfuhr mich von Kopf bis Fuss. Kunststück, verbindet mich als Aargauer Kunstkritikerin der 70er, 80er und 90er-Jahre doch eine lange Beziehung mit dem Zeichner, Maler und Bildhauer aus Fahrwangen. Ich habe nachgeschaut – den ersten Text zu seinem Schaffen habe ich 1976 geschrieben, anlässlich einer Ausstellung, hier im Gluri Suter Huus. Und dann wieder und wieder. Auch an einer Vernissage gesprochen habe ich schon einmal, 1986 in Meisterschwanden – das war, als Martin Ruf sich erstmals als Maler präsentierte – doch bleiben wir an der Baum-Geschichte.

„Weiterleben“ jubelte es in mir – und dies quasi in „meiner“ Sprache, der Kunst. Ich hatte nach den ersten Worten von Christian Brenner schon Angst, er könnte so einen Wurzel-Heini ins Spiel bringen. Huch! Doch nein. Martin Ruf. Auch ihn traf die zu-fällige Vernetzung als ein positives Omen für das Material, mit dem er sich in der darauffolgenden Zeit beschäftigen würde. Bald schon trafen wir uns vor Ort, es entstanden Fotos und der Künstler sah vielleicht schon mehr. Ich konnte mir vorläufig überhaupt nicht vorstellen, was entstehen würde. Ich sah nur den riesigen Lastwagen mit Tonnen von Holz von dannen fahren. Und hatte, ehrlich gesagt, auch etwas Angst vor der Menge Material, die sich der Künstler da auflud, obwohl er sich doch gerade nicht übernehmen sollte und dem eigenen Rückgrat, nicht jenem unser Platane, Sorge tragen sollte. Umsomehr als ich wusste, dass das Konzept für die Ausstellung, die ich heute eröffnen darf, in seinem Kopf bereits feststand. Eine ganze Ausstellung aus einem Baum.

Das war vor zwei Jahren. Dann habe ich nichts mehr gehört, das Leben ging seinen Lauf. Erst diesen Sommer kam ein Telefon. Würdest Du an der Vernissage sprechen? Klar. Und so stehe ich eben da, eigentlich nicht als Kunstkritikerin, obwohl ich dann für die MZ auch noch schreibe, doch das ist Medienthema, lassen wir das. Mein Blick ist zwar immer derselbe, aber meine Gefühle nicht. Und ich war schon überwältigt, als ich letzten Donnerstag erstmals hier war. All diese Stelen und Mocken, seltener Hüllen und Schalen aus einem einzigen Baum, aus der Platane, mit der ich 30 Jahre quasi zusammengelebt habe. Ich hörte, dass der Künstler die wesentlichen Entscheide schon vor zwei Jahren fällen musste, nämlich, was wie in Bretter zersägt werden sollte, was kompakt bleiben durfte, denn sonst hätte das Holz nicht den Trockungsgrad erreicht, den es brauchte, um gut ein Jahr später an die künstlerische Arbeit zu gehen. Geradezu blockiert hat das viele Holz den Garten des alten Pfarrhauses in Fahrwangen, wo Martin Ruf und seine Frau wohnen und er auch sein, nein, träfer, seine Ateliers hat.

Natürlich weiss ich, dass Martin Ruf diese Arbeiten nicht für mich gemacht hat,  und das ist auch gut und wichtig so, aber objektiv betrachten kann ich die Arbeiten natürlich nicht. Denn die Wahrnehmung ist geprägt von der Gleichzeitigkeit von Sehen und Erinnern. Erinnern, zum Teil in einem anekdotischen Sinn, vor allem aber emotional. – Ärmel nach hinten strupfen

Na ja, ich hätte mich nicht gewundert, wenn meine Haut im Moment ausgesehen hätte wie eine Platanenrinde, aber es ist ja nicht immer alles sichtbar, was wir in uns tragen.

Martin Ruf hat den Baum, aus dem er diese Arbeiten schuf, nicht gekannt. Es war nicht „sein“ Baum, sondern ein Baum. Mit einer Geschichte. Alle Bäume haben Geschichten. Sie sind ihnen in ihre Form, in ihr Wachstum, in ihren Stamm, in ihre Äste, in ihre Rinde eingeschrie­ben, in Wechselwirkung mit ihrem genetischen Code. Und davon erzählen die Arbeiten, die Martin Ruf in diesem Jahr geschaffen hat. In diesem Jahr! Ich habe schon 1997 einmal eine Rezension mit den Worten begonnen: „Schiergar unglaublich: Der Aargauer Künstler Martin Ruf (geb. 1935) zeigt in der Galerie im Zimmermannshaus in Brugg 56 Holzarbeiten mit Jahrgang 1997!“ Und auch jetzt sind es gemäss Ausstellungsliste 59 und ich weiss, dass manch eine noch zuhause steht. Ich kann es zwar unter handwerklichen Aspekten kaum glauben, aber ich begreife jetzt, warum Martin Ruf in den 70er und frühen 80er Jahren darunter litt, dass seine feinen, Strich um Strich gesetzten Farbstiftzeichnungen so aufwändig waren, dass pro Jahr nur gut ein Dutzend davon entstanden, wo doch eine viel grössere Zahl von Kunstinteressierten Arbeiten kaufen wollten. Die Zeichnung arbeitsaufwändiger als die Skulptur? Wenn man handwerklich so begabt ist wie der einstige Goldschmied Martin Ruf, lang ist es her, offenbar. Wobei früher natürlich die Schule, die Tätigkeit als Zeichenlehrer, zunächst in Wohlen, dann an der Neuen Kantonsschule in Aarau parallel lief. Doch jetzt ist da das Alter – wenn Sie gut aufgepasst haben, haben sie es schon errechnet, Martin Ruf wird in eineinhalb Jahren 70 Jahre alt. Und dann sind da auch, zwischendurch, die Zwangspausen – wenige zur Zeit, die Ausstellung zeigt es, gottseidank. Und trotzdem: 59 Skulpturen.

Wenn wir den Boden unter unseren Füssen betrachten, so denken wir „Holz“. Und wenn wir von einem Holzbildhauer sprechen – mit aargauischem Blick zum Beispiel von Hans Trudel oder von Adrian Fahrländer, von Marcel Leuba, ein bisschen auch von Christian Rothacher, Heiner Richner oder Beat Zoderer – dann denken wir an plastische Arbeiten aus dem Material Holz. Das stimmt hier auch, durchwegs, sieht man einmal ab von den Sockeln, die Ueli Schneider geschmiedet hat. Aber es widerstrebt mir, es so zu sagen. Denn es sind Skulpturen aus einem Baum. Klar, man kann auf jedem Parkettstreifen Jahrringe zählen, aber es gibt da eine viel grössere Distanz zum Baum. Ich hatte meine Füsse auf einem etwa 250-jährigen Parkett als ich diese Rede schrieb und ich muss gestehen, dass ich mich gestern zum ersten Mal fragte, wo wohl die Eiche stand, die das Material lieferte. Aber hier ist es klar, hier ist der Baum und die Skulptur…. was für ein Wort erwarten Sie jetzt?….ja, eins. Baum und Skulptur, eins.

Nein, ich werde nicht pathetisch jetzt, aber ich begnüge mich auch nicht damit, zu sagen: Sie wissen doch, dass jede Platane, da wo sie sich verzweigt einen Wulst bildet und den sehen wir, da und dort. Auch nicht damit, sie darauf hinzuweisen, dass da, wo das Holz faul war und herausgekratzt werden musste, eben Hüllen oder Schalen entstanden. Es reicht mir auch nicht, sie auf die Länge des Stammes respektive der Stelen, auf die faustbildenden Astverdickungen, da wo der Gärtner jeweils zurückschnitt, hinzuweisen. Das ist zwar alles da und wesentlich, aber es ist noch mehr. Das Einssein von Baum und Skulptur gründet in der Übertragung der aus äusseren und inneren Werten zusammengesetzten Wahrnehmung in Darstellung. Ausgehend vom individuellen „Rucksack“ des Künstlers, seinen Erinnerungen, seinen Fantasien, seinen Träumen, seinen Spiegelbildern.

Ich habe mich in den letzten Wochen und Monaten viel mit der Fragestellung „was ist schön?“ auseinandergesetzt. Ich war im Organisationskomitee der zweiten Bieler Philosophietage, die übers letzte Wochenende stattfanden, zu eben diesem Thema in Wechselwirkung mit den Künsten. Ich kam mir dann nach drei Tagen zwar vor wie der Faust bei Goethe, doch im Kern schälte sich doch etwas heraus, zumindest hörte ich das – andere hörten anderes. Nämlich, dass „schön“ kein visuell definierter, sondern ein emotionaler Begriff ist, der sich dann einstellt, wenn eine Vorstellung und ihre Darstellung – also hier die Vorstellung dessen, was ein Baum ist, und die verwandelte Darstellung desselben als Skulptur – auf einmal deckungsgleich sind und in dem Moment zum Erlebnis, zur Erkenntnis von etwas werden, das wir mit „schön“ auszudrücken versuchen und damit eigentlich ein Gefühl, vielleicht ein Glücksmoment meinen. Zumindest teil-unabhängig davon, ob dieses „Schön“ dem Cliché des Begriffs oder gar dem von der Werbung vermarkteten „schönen Schein“ entspricht.

Je nachdem was ich – und das meine ich jetzt als Pluralitantum, also jeder und jede von Ihnen – mit Baum assoziiere, wird die eine oder andere Arbeit in dieser Ausstellung oder auch mehrere, je anders vielleicht ein solches Moment auslösen und sich damit in Ihre Erinnerung an diese Ausstellung, an den Künstler Martin Ruf einschreiben. Das meine ich mit die Skulptur und der Baum sind eins. Der Baum ist sich selbst Thema und Skulptur – in Fragmenten und in Wechselwirkung mit den Vorstellungen, den Ideen und der Gestaltungsart des Künstlers.

 

Ich danke fürs Zuhören und wünsche viel Spass beim Schauen und Horchen.