Bricht mit Traditionen und nutzt sie

Ai Weiwei in der Kunsthalle Bern. Bis 30.05.2004

Er soll unter den zeitgenössischen einer der bekanntesten chinesischen Künstler sein: Ai Weiwei (47). Trotzdem ist die Ausstellung in Bern seine erste museale. Das hat Hintergründe; schweizerische.

Wer – freiwillig oder unfreiwillig – beide Systeme kenne, sei unweigerlich ein Doppelagent, sagte Ai Weiwei kürzlich in einem Interview mit Michael Schindhelm. Gemeint ist im konkreten Fall China und die USA. Ai (das ist der Nachname) lebte als Kind mit seinen Eltern in der Verbannung, später in New York und seit 1994 wieder in Peking. Den „Doppelagenten“ nutzt er meisterlich. Nicht nur indem er sein künstlerisches Werk zwischen Duchamp, Dada und Konfuzius ansiedelt, sondern auch indem er, zum Beispiel, beim Bau des Olympia-Stadions in Peking als Vermittler zwischen den Schweizer Architekten Herzog & De Meuron und den chinesischen Behörden fungiert.

Die Schweiz. Was der Berner Diplomat Paul Jolles einst für die russischen Künstler war, ist der ehemalige Botschafter in Peking, Uli Sigg, für die chinesischen Künstler; ein unermüdlicher Vermittler. Kein Wunder setzt ihn Ai Weiwei als Zeitung lesende Wachsfigur auf die Treppe ins Soussol der Kunsthalle; auf drei dicke Bücher: Bern im 19./20. Jahrhundert, Kunst-Welten und „Alors, la Chine“. Diese Verbindung führt auf direktem Weg zur Galerie Urs Meile in Luzern, der rund 50 zeitgenössische chinesische Künstler exklusiv vertritt; die besten sagt man. Ob Harald Szeemann, Bernhard Fibicher oder welcher Kurator auch immer – niemand kommt um Meile herum und die Preise werden von da diktiert; keineswegs zimperlich. So 60’000 bis 100’000 Dollar muss man schon hinblättern für die grossen Skulpturen von Ai Weiwei.

Zu meinen Meile habe die Ausstellung in Bern quasi organisiert, ist allerdings falsch. Kunsthalle-Direktor Bernhard Fibicher ist dank zahlreichen Aufenthalten in China einer der besten Kenner der Szene und hat in der Kunsthalle schon mehrfach Künstler aus China gezeigt. Man erinnere sich zum Beispiel der „Grossschwanz-Elefanten“ (1998). So entstand auch die aktuelle Schau von Ai Weiwei in direkter Zusammenarbeit mit dem Künstler.
Kernstücke der Ausstellung sind vier grosse Skulpturen aus sogenanntem Eisenholz. Dieses asiatische Holz enthält Eisen und ist darum ausgesprochen schwer, dicht und schwierig zu bearbeiten. Doch das tatsächlich metallen wirkende Material ist nur ein Nebenschauplatz. Brisanter ist, dass es von einem zerstörten chinesischen Tempel aus der Ming-Dynastie (1368-1644) stammt.

Die handwerklich aufwändige Umsetzung in ein funktionell nicht nutzbares „Bett“, einen „Tisch“, eine „Bank“ respektive eine als Sitzplatz gekennzeichnete Landkarte Chinas bündelt verschiedenste Denkwelten. Da ist die chinesische Geschichte mit ihrer uralten Hochkultur, die vom Kommunismus wie von der aktuellen Verwestlichung geförderte Zerstörung alter Werte, aber auch die Kraft der Rekonstruktion in neuem Kontext. Geschickt agiert Ai Weiwei als Doppel-, vielleicht sogar als Tripelagent, indem er eine dem Westen vertraute Skulpturensprache aufnimmt, fernöstlich Exotisches einbindet und Chinas heutigen Anspruch auf Präsenz in Szene setzt.

Dadurch, dass er die alten Säulen in eine Vielzahl von Längsleisten „schneidet“, auf Hochglanz poliert und puzzleartig in kannelierte Wellenformen einbringt, erinnert er an die chinesische Hochkultur des Handwerks und nimmt zugleich Formen auf, die uns an die europäische Gotik erinnern. Und zugleich fokussiert er letztlich das Absurde der westlichen Kunst des 20. Jahrhunderts, die zwischen Sein und Nichtsein oszilliert, Fragen stellt und Zwecklosigkeit als Denkmotor betrachtet. Er macht dies so raffiniert, dass es schwer ist, sich der Faszination zu entziehen.

Allerdings wäre es kurzsichtig, Ai Weiwei aufgrund der vier Eisenholz-Arbeiten als klassischen Bildhauer zu bezeichnen. Dazu ist er zu sehr Konzept-Künstler. Der in Bern ausgestellte Übereck-Tisch aus der Qing-Dynastie (1644-1911), der zwei Beine auf dem Boden und zwei Beine an der Wand hat, ist geradezu ein Bild dafür. So sorgte er im Westen erstmals 1995 für Aufsehen, als er in einer Performance eine Urne aus der Han-Dynastie zu Boden fallen liess. Sein Kommentar: „Zerstörung ist Kreativität“ und „Wir haben in China viel zu viele Altertümer, als dass man alle bewahren könnte“. Was in unserem Empfinden Provokation ist (und vom Künstler auch als solche inszeniert wurde), schaut chinesische Mentalität anders an. Und wer weiss mit Gewissheit zu sagen, was richtig ist?

Dass auch ein Ai Weiwei nicht vor Fehlgriffen gefeit ist, zeigt die Arbeit „Still Life“ im Soussol, wo der Künstler Hunderte von steinernen Artekfakten aus der Altsteinzeit (vor allem Lochsteine und Beile) ausgelegt hat. Das kann in der Schweiz, wo Tausende von ähnlichen Steinen in öffentlichen und privaten Pfahlbau-Depots lagern (freilich überwiegend aus der Jung-Steinzeit), eigentlich niemanden so richtig beeindrucken.

Die Ausstellung ist von einem vom Künstler konzipierten Katalog in englischer Sprache begleitet.