Der Zweck heiligt die Mittel oder umgekehrt?
Konstruktion Dekonstruktion: Jürg Hugentobler im Kunstmuseum Solothurn. Bis 23.05.2004
In einem „früheren Leben“ konstruierte Jürg Hugentobler (49) Maschinen. Jetzt dekonstruiert er und schafft neue (Kunst)-Räume. In seiner ersten Museums-Einzelausstellung im Kunstmuseum Solothurn.
Als er noch Maschinen konstruierte und deswegen aus dem Thurgau ins Solothurnische zog hatte der Zweck, die Funktionalität oberste Priorität. Sie „heiligte“ Form und Mittel. Jetzt, viele Jahre später, macht Jürg Hugentobler (1955 in Weinfelden geboren) das Gegenteil: Er „entheiligt“ seine Konstruktionen, befreit sie von jeglichem Zweck-Auftrag und schafft mit nicht unähnlichen Mitteln Gebäude, Räume, Landschaften gar, die keine sind. Die deswegen aber mitnichten keinen Sinn haben. Denn in ihrer Disfunktionalität machen sie uns ihre Formen, ihre Architektur, unsere Welt erst bewusst. Sei es verführerisch in der Übersetzung in Fotografie, ziemlich nüchtern in den Raum-Skulpturen und überraschend, auch irritierend, in den „umbauten“ Räumen mit Video-Projektionen.
Beim Eintritt in den ersten grossen Raum des Kunstmuseums Solothurn sieht man sich mit einer monumentalen Skulptur konfrontiert, die den Raum verstellt und zugleich Raum thematisiert. Ein Modell? „Jein“, sagt der Künstler. Er arbeitet wohl modellhaft, aber ausgerichtet sind seine Sperrholz-Arbeiten nicht auf etwas anderes als das, was sie sind: Eine Art industriell wirkende „Architektur-Landschaft“, die ihre Zweck-Formen (Kuben, Rampen, Lager) der „Skulptur“ zur Verfügung stellt, samt Sozio-Kontext in Form von Stehen-Gebliebenem, Zufälligem, Halb-Zerfallenem usw. So ensteht eine konstruktive Skulptur, die weder wie einst die Ordnung und die Technik feiert, noch „Trash“ ist (das Material ist neu), sondern in ihrer Billigkeit, Sperrigkeit und Stillosigkeit dem Heute abgeschaute und für die eigenen Zwecke übersetzte Realität. Wobei der Ansatz des Künstlers nicht ein architektur- oder gesellschaftskritischer ist, im Gegenteil; er hat da vielmehr einen Formenreichtum gefunden, den bisher nie jemand positiv geschaut hat. Dass es eine ganze Weile dauert, bis man als „Spaziergänger“ den Wandel mitgemacht hat, ist indes in seinem Sinn.
Denn, dass seine falsche Proportionen suggerierenden Raum-Fotografien mit Styropor-Verpackungen, mit denen er vor rund fünf Jahren erstmals überregional bekannt wurde, primär als ästhetische Verführung, als Spiel um Realität und Fiktion wahrgenommen wurden, passte dem Künstler eigentlich nie. Jetzt hängen sie in Solothurn bewusst an den Wänden um die raumgreifende Industrie-Skulptur. Denn nie ging es ihm (nur) darum, mit den Rundungen einer styroporenen PC-Schutzhülle eine unterirdische Garageneinfahrt oder Ähnliches zu simulieren, sondern ebenso darum das Potenzial von Form und Raum und (Bild)-Wirkung aufzuzeigen, sobald man etwas seiner Funktionalität enthebt und, in diesem Fall, mit Hilfe der Optik der Kamera visuell in seinen Proportionen verändert.
So macht denn diese erste Museums-Einzelausstellung des Künstlers stärker denn je bewusst, dass es um Architektur geht und viel weniger um Inhalt. Und gerade das macht seine Schaffen hochaktuell, denn die Spatzen pfeifen es schon seit einiger Zeit von den Dächern: Nach den Denkmälern, die sich die Architektur in Form von Museumsbauten setzte, geistert sie nun auch als Inspirationsquelle in den Köpfen der Kunstschaffenden. Bei Hugentobler schon seit langem.
Und er setzt die Linie fort. Zum Beispiel in einer spannenden Installation, in dem er einen Standort als Bild- und Konstruktionspunkt konsequent durchzieht. Erster Blick: Das Lichtbild eines durchschnittlichen Mehrfamilienhauses. Kein Standbild, sondern ein Video das merkt man spätestens, wenn unverhofft eine Figur auf einen der Balkone tritt. Die Projektion findet ihre Ergänzung im eigenartig verzerrt gebauten Kubus, auf den sich ausgerichtet ist. Und in einer weiteren Schicht, paradoxerweise scheinbar und real, im Museumsraum, in dem sie gezeigt wird. Davor, dahinter, hinauf, hinunter, gerade, schräg die Optik gerät in unseren Augen ins Wanken. Dabei ist es so einfach, die Kamera schaut und misst die Winkel. Es gibt nicht nur unsere Augen, somit auch nicht nur unsere Formen, unsere Gewohnheiten, vielleicht nicht einmal nur unsere Räume!
Die Ausstellung ist von einer illustrativen Publikation mit Texten von Christoph Vögele und Simon Baur (edition fink) begleitet.