Sechehaye Henriette Text Monographie 2005

Die Vision Paul Klee

Buchtext von Annelise Zwez (www.annelisezwez.ch)

Monographie Henriette Sechehaye Verlag ArchivArte Bern. Herausgeberin: Inga Vatter Jensen. 2005

Henriette Sechehayes Leben und Werk sind spannende Mosaiksteine in der kollektiven Biografie der Frauen und ihres bildkünstlerischen Schaffens im 20. Jahrhundert. Noch immer ist diese Biografie nicht zu Ende geschrieben. Denn die ungleichen Chancen von Mann und Frau haben ungezählte Strategien der Frauen hervorgebracht, um trotz allem sich selbst zu leben. Henriette Sechehaye – wohlerzogen, intelligent und gut ausgebildet, zugleich aber im Dilemma zwischen Anpassung und Freiheit – ist Beispiel für eines dieser spannenden Lebensmuster. Bescheidenheit, Unauffälligkeit und mässig bezahlte Berufstätigkeit stehen auf der einen, idealistische Vergötterung kultureller Leistungen als «wahrer» Reichtum auf der anderen.

Der Begegnung mit Paul Klee, dessen letzte Schülerin Henriette Sechehaye war, und dem fortdauernden Kontakt mit Lily Klee und später mit Felix Klee kommt in ihrem Leben und in ihrem Œuvre eine zentrale Bedeutung zu. In der – weitgehend unsichtbaren – Tätigkeit als Malerin sucht Henriette Sechehaye ihre Ideale am Beispiel Paul KIees zu fassen und zu spiegeln. Ihr Schaffen ähnelt jenem Klees, ist aber nie Plagiat. Das Werk Paul Klees ist ihr, was anderen Künstlern etwa die Landschaft: Ort der Inspiration und der eigenen Vision. Bereits in den frühen 40er-Jahren, also lange vor der grossen Nachahmungswelle, sucht sie nach dem Wesen seines Werkes. Nie interessiert sie dabei der idyllische Klee, wie er in den 60er Jahren populär wird, sondern immer faszinieren sie der Rhythmus, die Linie, die Form und vor allem die Transparenz zu den Räumen vor, in und hinter der Malerei. Somit das Abstrakte, das Geistige und nicht das Gegenständliche.

Henriette Sechehaye wurde am 3. April 1907 als zweites Kind von Gustave Léon Sechehaye (1873–1911) und Rose Sechehaye geborene Doutrebande (1876–1918) in La Chaux-de-Fonds im Neuenburger Jura geboren. Beide Familien haben ihre Wurzeln in Genf. Überlieferungen zufolge soll der Vater Weinhändler gewesen sein. In einem Lebenslauf betont Henriette Sechehaye später das kulturelle Engagement ihres Vaters in La Chaux-de-Fonds. Nicht aus eigener Erinnerung, denn der Vater stirbt bereits 1911 an den Folgen von Diabetes. Auch ihre Mutter, die Tochter der Genfer Musikerin Caroline Rosier (1840–1911) verlieren die beiden Kinder François-Léon (geb. 1903) und Henriette früh, 1918 im Jahr der grossen Grippe-Epidemie in Europa.

Leider ist nichts aus dieser Zeit erhalten. Einzig ein Brief von 1944 von Léon, längst Chirurg in Genf, an «Minon» (wie er seine Schwester nannte) in Merligen lässt Rückschlüsse zu, wenn auch nur spekulativ. Weil sich die Gräber der Eltern, so schreibt er, in schlechtem Zustand befänden, schlage er vor, sie in ein neues, gemeinsames Grab zu legen und bei der Mutter den Namen «Gutknecht», an den er nur schlechte Erinnerungen habe, wegzulassen. Offenbar hatte Rose Sechehaye noch einmal geheiratet. Die Schwester ist nicht begeistert, antwortet, sie wisse wohl, was er meine, aber jetzt während des Krieges gebe es wahrlich andere Probleme. Neben der typisch verhaltenen und zugleich dezidierten Antwort ist wesentlich, dass die Korrespondenz auf eine nach 1911 schwierige Kindheit verweist, was möglicherweise eine Spur zu späteren emotionalen Entwicklungen legt.

Nach dem Tod der Mutter nehmen Verwandte in Genf die 11-jährige Henriette und den 15-jährigen Léon-François zu sich und vermitteln ihnen eine gutbürgerliche Ausbildung. Ob es sich dabei um die Familie Sechehaye oder die Familie Doutrebande handelt, ist leider unbekannt. Aus späteren Ereignissen geht jedoch hervor, dass es Beziehungen zu beiden Familien gibt, ohne dass diese jedoch familiären Charakter gehabt hätten. Léon-François studiert Medizin und wird später eine Kapazität der chirurgischen Urologie am Kantonsspital Genf. Die sprachbegabte Henriette schliesst die Schulzeit mit dem Diplom der «Ecole supérieure» ab und geht 1924, das heisst mit 17 Jahren, nach Bern, wo sie Kurse in deutscher Sprache und Literatur sowie Vorlesungen in Kunstgeschichte an der Universität Bern besucht. Wo und bei wem sie in dieser Zeit lebt, ist nicht bekannt.

Weitere Sprachstudien führen sie 1926 für ein Jahr zur Familie von «Dottore» Enrico Bianchi, Professor an der Universität Florenz. Er attestiert ihr im Zeugnis vom 18. November 1926, die italienische Sprache nun «assolutamente perfetto» zu sprechen und zu schreiben. Welcher Art der darauf folgende Aufenthalt in England ist, geht aus keinen Dokumenten hervor. Die Tatsache, dass weder die englische Sprache noch England im späteren Leben je wieder auftauchen und Henriette Sechehaye abrupt nach Genf zurückkehrt, lässt indes auf negative Erfahrungen schliessen. Stattdessen reist sie noch einmal für sechs Monate nach Florenz, «dessen kultureller Reichtum sie mehr und mehr fasziniert», wie sie später schreibt, und wo sie auch Freunde findet, mit denen sie bis ins hohe Alter verbunden bleibt.

Sie hat nun einen reichen kulturellen Hintergrund und fundierte Sprachkenntnisse, aber, wie oft bei Frauen, keinen offiziellen Berufsabschluss. Sie nimmt Wohnsitz in Bern und ist ab1932 (und bis 1983!) als Übersetzerin für die Schweizerische Ärztegesellschaft tätig. In dieser Zeit lernt sie die als Musikerin und Lehrerin am Berner Konservatorium tätige Violinistin Clara Goebeler (1882–1968) kennen, mit welcher sie fortan eine Lebensgemeinschaft führt. Goebeler ist im Raum Zürich aufgewachsen und hat in den 1910er Jahren am Konservatorium in München studiert. Auch sie hat ihren – wie sie später sagt «hoch verehrten» – Vater früh verloren. Und sie ist erst 17 Jahre alt, als auch ihre Mutter erkrankt. Die Tochter pflegt sie bis zu ihrem Tod 1901. Eine befreundete Familie nimmt die 19-Jährige daraufhin bei sich auf und ermöglicht ihr die Fortsetzung ihrer Ausbildung zur Musikerin.

Zweifellos haben die vergleichbaren Schicksale, gekoppelt mit einer aus dem Verlust gewachsenen Idealisierung des Vaterprinzips, die beiden Frauen miteinander verbunden. 25 Jahre älter, verkörpert Clara Goebeler für Henriette Sechehaye aber auch Mütterliches. In einem Brief beschreibt sie ihre Freundin später als «vielseitige Künstlernatur» und betont das Gemeinschaftliche ihres «von ethischen Werten geleiteten» Kulturverständnisses. Aktiv nehmen sie am Berner Kunst- und Musikleben teil, besuchen Ausstellungen, Konzerte und literarische Abende. Wohl eine glückliche Zeit. Ihr Augenmerk gilt dabei klar dem zeitgenössischen Ausdruck, was in den 30er Jahren (noch) nicht selbstverständlich ist.
Auch die persönliche Entdeckung von Paul Klee ist ein Gemeinschaftserlebnis.

Als Henriette Sechehaye im Januar 1940 Paul Klee in einem Schreiben bittet, seine Schülerin werden zu dürfen, hat sie nie ein Orginalbild gesehen. «Ich besass nur ein kleines Büchlein mit Reproduktionen seiner Werke», hält sie später in ihren «Erinnerungen an Klee» fest . Es handelt sich dabei um ein 1930 in der Librairie Gallimard erschienenes Taschenbüchlein in der von René Crevel herausgegebenen Reihe «Peintres Allemands». In Bezug auf Henriette Sechehayes späteres Kunstschaffen lässt sich feststellen, dass sie keine andere Publikation stilistisch mehr beeinflusst hat. «Im ersten Augenblick», schreibt sie weiter, «erschrak ich fast ein wenig ob dieser Kunstform, zugleich aber empfand ich deren Anziehungskraft und das Unvergleichliche von Klees Persönlichkeit, die für mich eine kosmische Dimension hatte….Alles Irdische – Menschen, Tier-, Pflanzen-, Mineralwelt – aber ebenso die Geistes- und die Geisterwelt hat er durch und durch erforscht, erfühlt und dargestellt.»

Dem Brief an Paul Klee von 1940 gehen einschneidende Veränderungen voraus. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre muss Clara Goebeler aus Gesundheitsgründen ihre Berufstätigkeit aufgeben. Bereits früher waren lange Kuraufenthalte unumgänglich. Um sich neue Perspektiven zu verschaffen, schreibt Clara Goebeler das Kinderbuch «Musik in Katzingen», in das sie Erinnerungen an die Studienzeit in München verwebt. Auf der Suche nach einem Verlag sendet sie das Manuskript 1939 mit einem Begleitschreiben an Thomas Mann, der ihr erstaunlicherweise antwortet. Er kann ihr zwar nicht helfen, äussert sich aber doch positiv. Das heisst, dem Schreiben von Henriette Sechehaye an Paul Klee geht ein vom Anspruch an den Adressaten her analoges Schreiben von Clara Goebeler an Thomas Mann voraus. In beiden Fällen haftet den Schritten zugleich etwas Naives an, wie darin auch die Wunschvorstellung wirkt, sich mit etwas «Grossem» ( = Männlichem) zu verbinden.1

Die unfreiwillige Pensionärin macht in der Folge ihre Freundin zu ihrer Schülerin, animiert sie, ihre kulturellen Veranlagungen zu entwickeln und zum Ausdruck zu bringen. Ohne frühere sichtbare Zeichen, aber mit kunstgeschichtlichem Hintergrund aus der ersten Zeit in Bern und den Aufenthalten in Florenz sowie von Ausstellungsbesuchen (u. a. Kirchner im Kunsthaus Zürich), beginnt Henriette Sechehaye 1937 zu zeichnen. «Als diese autodidaktischen Bemühungen ernsthafter wurden», schreibt sie in ihrem Lebenslauf, «beschloss ich – noch etwas zögernd – meine Tätigkeit als Übersetzerin um die Hälfte zu reduzieren.»
 
Was sie nicht sagt, ist, dass auch Clara Goebeler Ansprüche stellt. So lernt Henriette Sechehaye unter anderem Klavier spielen, um mit ihrer Freundin in privatem Rahmen musizieren zu können. Auch ein Nebensatz, dass die «praktischen Dinge» nicht Clara Goebelers Sache waren, spricht Bände. Nichtsdestotrotz fühlen sich die beiden einander nahe. «Wir leben sehr bescheiden, aber reich in allem, was uns verbindet», heisst es in einem Briefentwurf.

Bereits 1939 drängte sich ein Wegzug aus dem teuren Bern auf. Ab September leben die beiden im Chalet Seeblick im «Vorderdorf» in Merligen am Thunersee, wo sie, abgesehen von einem Abstecher nach Sigriswil, bis zum Tod von Clara Goebeler, Henriette Sechehaye bis anfangs 70er-Jahre, bleiben. Das Thunersee-Nordufer ist dank seiner touristischen Attraktivität und den «Grand Hôtels» gut erschlossen. Die Strassenbahn Steffisburg–Thun–Interlaken verbindet die Dörfer am See mit den Zentren.

Von Merligen aus schreibt Henriette Sechehaye – in fehlerlosem Deutsch notabene – am 26. Januar 1940 an Paul Klee nach Bern: «Sehr geehrter Herr Professor. Vor Allem möchte ich um Entschuldigung bitten, dass ich mir die Freiheit nehme, an Sie zu gelangen. Ein ernsthaftes Ringen und Suchen nach einer Richtung in der heutigen Malerei gibt mir aber den Mut zu diesem Schritt. Vor ca. 2 Jahren habe ich angefangen, in meiner freien Zeit für die Malerei zu arbeiten und ich habe seit einigen Monaten die Möglichkeit, mich fast ausschliesslich der Kunst zu widmen. Bisher habe ich allein gearbeitet. Nun möchte und brauche ich den Rat eines grossen Künstlers. Darf ich Sie anfragen, sehr verehrter Herr Professor, ob sie mir eine kurze Besprechung gewähren würden, bei der ich Gelegenheit hätte, Ihnen einige Bilder und Zeichnungen zu zeigen? Ein Rat von Ihnen würde für mich von unendlicher Bedeutung sein, und ich hege deshalb die Hoffnung, dass Sie meiner Bitte entsprechen können. Ich hätte an einem der nächsten Samstag-Nachmittage – oder Sonntage – die Möglichkeit mit meinen Arbeiten nach Bern zu kommen und wage es zu hoffen, dass Sie mich an einem dieser, Ihnen passenden Tage empfangen könnten. Für Ihre Bemühungen, mir zu antworten, spreche ich Ihnen zum voraus meinen ergebensten Dank aus. In Verehrung, Henriette Sechehaye.»

Lily KIee, die für ihren Mann alles Organisatorische erledigt, antwortet bereits am 30. Januar und lädt die Schreiberin ein «am 3. februar Nachmittags 4 Uhr zu kommen». Paul Klee ist zu diesem Zeitpunkt bereits schwer krank, doch Lily Klee schreibt nur: «Herr Klee fühlt sich momentan nicht ganz wohl u. ist erkältet u. muss sich noch schonen.» «Der 3. Februar 1940», so hält Henriette Sechehaye viele Jahrzehnte später fest, «wurde für mich ein aufregendes und richtunggebendes Erlebnis. Klee öffnete selber die Türe, und der Empfang war sehr freundlich. Auffallend waren sein durchdringender und gleichzeitig wohlwollender Blick und seine durchgeistigten Züge.» Sie zeigt ihm ihre Arbeiten, worauf Paul Klee meint: «Sie wollen etwas mit Farbe ausdrücken und können es auch. Wenn wir in Paris wären, würde ich Sie zu Julian schicken». (Anmerkung:Mit Julian ist die Académie Julien in Paris gemeint). Er gibt ihr ferner den Rat, viel zu zeichnen und Werke grosser Meister zu kopieren, was Henriette Sechehaye indes, wie sie sogleich notiert, nicht interessiert. Dem kurzen Unterricht folgt das Gespräch zu dritt bei einer Tasse Tee. «Das Gespräch war sehr lebhaft. Vom Krieg wollte Klee nicht sprechen, die ganze Entwicklung schmerzte ihn zu sehr.» Zum Abschied lädt er sie ein, wieder zu kommen.

Auf die Euphorie der Begegnung mit dem Mann, mit dem Künstler ihrer Träume folgt jedoch sogleich die Depression. Im Bemühen, so hält sie rückblickend fest, das Erlebte in eigenes Tun umzusetzen, kamen die Ohnmacht und daraufhin die Ratlosigkeit. Dennoch macht sich Henriette Sechehaye Ende März erneut zu ihrem Lehrer auf. «Unter den mitgebrachten Arbeiten befand sich eine Kohlenzeichnung von aufeinander gestapelten Büchern und eine zweite Ausführung davon in Oel, sehr farbig. Paul Klee sagte: ‹Formal ist das Farbige besser›. Ich antwortete, das Farbige sei formal genau dasselbe, ich hätte es durchgepaust. So erfuhr ich, wie sehr die Farbe auch die Form zu beeinflussen vermag. Auf meine ängstliche Frage, ob das Durchpausen zu verurteilen sei, erwiderte er: ‹Das Resultat allein zählt, nicht die angewandten Mittel›».

Mitte Mai fährt Henriette Sechehaye ein drittes Mal an den Kistlerweg nach Bern. «Diesmal freute er sich über das Mitgebrachte – grossformatige Kohlenzeichnungen und ein grosses noch unfertiges Stilleben in Oel. Bei letzterem unterstrich er die gut gesetzten Akzente, wozu ich bemerkte, dass ich es, nach dem, was er mir das vorige Mal gesagt hatte, bewusst so gemacht hätte. ‹Das ist das Richtige›, sagte er, ‹das Bewusste ist unentbehrlich›. Dann verabschiedete er mich mit den Worten: ‹Nach den Ferien machen wir weiter!›»

Doch es gibt kein «nach den Ferien»; am 30. Juni 1940 stirbt Paul Klee in Orselina. Henriette Sechehaye wird telefonisch benachrichtigt und, wie einem Brief von Lily Klee zu entnehmen ist, schafft sie es, dass ihre Blumen die ersten sind, die im Atelier von Paul Klee stehen. Der Kontakt mit Lily Klee bricht nicht ab bis einige Monate vor deren Tod 1946.

In zahlreichen Briefen geht es um Höflichkeiten, um mögliche Besuche, um die Vorfreude auf gemeinsames Musizieren mit Clara Goebeler, doch dazwischen ist auch mehr. So schreibt ihr Lily Klee bereits am 16. Juli 1940 unter anderem: «Lassen sie uns den gewonnenen Kontakt nicht verlieren. Später, wenn es ruhiger um mich wird, kann ich Ihnen so nach und nach noch sein Werk zeigen und wir wollen gemeinsam in seinem Geiste um ihn trauern und ihm nachleben.»

Diese Zeilen deuten auf etwas vom Grundlegendsten, immer wieder zu Beobachtenden, und Ergreifendsten der Persönlichkeit Henriette Sechehayes: Sie kann durch ihre Präsenz, ihre ausserordentliche Fähigkeit, Anteil zu nehmen, zuzuhören, mitzudenken und dies auch mündlich und schriftlich in Worte zu fassen, in kürzester Zeit nachhaltige Beziehungen schaffen. Sie vermag die Sprache der Menschen zu verstehen – nicht zufällig ist sie eine hervorragende Übersetzerin – sie kann gleichsam in die Seele der anderen hineinhorchen und das «Gehörte» zum Ausdruck bringen. Sofern man auf sie zugeht. Nur so ist es erklärbar, dass wenige Begegnungen mit Lily Klee ausreichen, um eine Art Freundschaft entstehen zu lassen.

Diese Freundschaft schliesst, wie im Nachlass Felix Klee erhaltene Briefe dokumentieren, Clara Goebeler von Anfang an mit ein. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass die Motivation auch im Wunsch gründet, das eigene Schaffen dort rezipiert zu wissen, wohin es die stärksten Beziehungen hat. «Auch ich», so schreibt Henriette Sechehaye am 28. Juni 1942 an Lily Klee, «habe eine Art Erbe Klees zu wahren, indem ich alles für eine Entwicklung einsetze, die in seinem Sinne ist, und ich werde es auch dazu bringen». Tatsächlich gelingen Henriette Sechehaye ab 1941 wichtige Arbeiten, die auf dem Studium Klees beruhen, zugleich aber autonom sind und im Vergleich zur Kunst in der Schweiz in dieser Zeit von einer ganz persönlichen, zeitgenössischen Vision beseelt sind. Darum sind sie kunstgeschichtlich auch die Höhepunkte im Œuvre von Henriette Sechehaye.

Als früheste Arbeit dieser Phase kann die Lokomotive von 1941 bezeichnet werden, ein Motiv, das es auch bei Klee gibt, inklusive die richtungsweisenden Pfeile und die Eigenart, eine Form aus einer einzigen Linie heraus zu entwickeln. Dennoch ist hier und später stets spürbar, dass es Henriette Sechehaye um eigene Bilder in der «Sprache» Klees geht. Zu nennen ist auch die Arbeitervorstadt (1942) mit Häusergruppen, die sich in Rotbraun-Tönen dynamisch von der Zentralstrasse her ausfächern. Die Auseinandersetzung mit dem «Meister» zeigt sich hier weniger in der Form3 als vielmehr im scheinbar durchleuchteten «Aquarell»-Charakter, der die Bedeutung der Malhaut bei Klee spiegelt. Wesentlich lyrischer gibt sich die Pantomime auf Teppich (1943), die zwei aus Linien geschwungene, leicht fernöstlich anmutende Figuren auf einem «kleeschen» Schachbrettmuster zeigt. Ausserordentlich ist auch eine Unterwasser-Landschaft von 1943. Bereits zuvor bearbeitet Henriette Sechehaye das Thema «Aquarium», nicht zuletzt Bezug nehmend auf Klees Fischzauber von 1925 und den Unterwassergarten von 1939. Doch in diesem Werk von 1943 findet Henriette Sechehaye eine ganz eigene, fast surreal anmutende Form.

  Henriette Sechehaye, Masken, 1944, Oel auf Leinwand 45 x 55 cm

Es zeigt sich in den genannten Beispielen, dass Henriette Sechehaye jedes einzelne Werk wie ein autonomes Kapitel betrachtet. Jedem Werk gehen Zeichnungen voraus, die sie zum Teil durchpaust und weiterbearbeitet und sich so Schicht um Schicht an die endgültige Fassung in Öl auf Leinwand oder Pavatex vortastet. Dabei kann es vorkommen, dass die Versionen auf Papier künstlerisch überzeugender sind als das Endresultat in Oel. Anders ausgedrückt: Sie sucht nicht ihrer eigenen Seele im Visuellen Ausdruck zu geben – das wird erst die 1968er-Entwicklung ins Zentrum stellen. Sie will vielmehr die abstrakte, ihr von ihrer Berufstätigkeit als Übersetzerin vertraute, Umsetzung des kleeschen Vokabulars in ihr bildnerisches Vermögen erreichen. Wozu sie ihr «Alphabet» freilich erst erfinden muss. Als Grundlage dienen ihr Studien des kleeschen Werkes anhand von Publikationen, sowohl zeichnerisch wie intellektuell. Aus dem zu einer Ausstellung Klees in New York erschienenen Katalog, den sie als eine der wenigen Schweizerinnen bestellt (wie sich Lily Klee in einem Brief freut), schreibt sie folgenden Satz von Johnson Sweeney heraus: «His work was a calligraphic expression sensitive to the most delicate suggestions of the nervous system, responsive to the most subtle inconscious associations».

In einem Brief vom Mai 1943 schlägt Lily Klee der Malerin vor, doch eine Ausstellung vorzusehen. Doch Henriette Sechehaye winkt in ihrem Antwortschreiben ab, sie nehme ihre Kunst viel zu ernst, als dass ihr ein baldiges an die Öffentlichkeit treten das Wichtigste wäre. Gleichzeitig sagt sie aber auch, wenn schon ausstellen, dann eher in Zürich als in Bern, was versteckt auf den Anspruch anspielt, den sie trotz äusserer Zurückhaltung in sich trägt. Zugleich sagt sie aber, sie brauche noch mindestens zwei Jahre, um dahin zu gelangen. Was sie hingegen bräuchte wäre die «Anteilnahme an meiner Entwicklung von Menschen, die dem Verehrten Meister nahe gestanden haben». Im Juni 1943 kommt es zum ersehnten Besuch von Lily Klee in Merligen. Doch kann er logischerweise nicht bringen, wovon das Paar Sechehaye/Goebeler träumt, nämlich Anerkennung und Wertschätzung im engeren Sinn. Mit der Folge, dass Henriette Sechehaye für rund sieben Jahre den Weg Klees verlässt, sich stilistisch neu zu orientieren sucht und erst in den 50er Jahren wieder den Anschluss an Klee wagt – nicht ohne die erworbenen zeichnerischen und malerischen Fähigkeiten der Zwischenjahre mitzunehmen.

Ausgesprochen typisch für die Schweiz ist, dass die Schrecken und die Dimensionen des Zweiten Weltkrieges der Bevölkerung erst gegen Ende der Kriegszeit bewusst werden. Henriette Sechehaye malt – in die damals weit verbreitete Orientierungslosigkeit katapultiert – plötzlich Bilder wie das Flüchtlingskind (1945) – eine expressiv vereinfachte Kindgestalt mit übergrossen Händen vor einer Grossstadtkulisse in verhalten kleescher Aperspektive. Oder eine schreiend durch eine Friedhof-Stadt eilende weibliche Pestgestalt. Das für Gegenwart und Zukunft aussagekräftigste Bild der Zeit ist aber ein kleines Friedhofbild, das vermutlich von Paul Klees erster Grabstätte ausgeht und eine seltsame Mondlicht-Situation zeigt, in der sich zwei blühende Bäume mit einem gelben Halbmond zu einem Lichtbogen spannen. Trauer, Sehnsucht und Hoffnung sind darin.

Henriette Sechehaye lässt in der Folge jedoch die Trauer hinter sich und wendet sich – völllig überraschend – malerischer Beschaulichkeit zu. Sie übt zeichnen. Stapelweise finden sich im Nachlass akademische Porträt-Studien auf billigem, sogenanntem «Kriegspapier». Vergleiche mit Fotografien zeigen, aufgrund des Haaransatzes zum Beispiel, dass es sich um Selbstbildnisse handeln muss, wobei unerklärlich bleibt, wie sich die Künstlerin auf dem Sofa liegend, im Stuhl sitzend zu porträtieren vermochte. Wenige Beispiele zeigen ihre Freundin Clara Goebeler (zu diesem Zeitpunkt bereits um 65 Jahre alt). Die Zeichnungen münden in eine relativ kleine Zahl von stilllebenhaften Figurenbildern zwischen Matisse und Gauguin. Wären sie nicht signiert, würde man möglicherweise an der Autorschaft zweifeln, denn in das 1989 erstellte Werkverzeichnis nimmt sie Henriette Sechehaye nicht auf. Aus heutiger Sicht wirken sie als Ausdruck der Verzweiflung, Klee nicht zu erreichen, aber auch des Nachkriegs-Bedürfnisses, dem Elend Hoffnung und Schönheit entgegenzustellen.

Kleine Nachtlandschaft, 1956, Oel auf Papier, 22,5 x 29,5 cm

Um 1952 wendet sich das Blatt wieder. Henriette Sechehaye kehrt zu Klee zurück. Auffällig ist die Zeitgleichheit mit der Beilegung der Unklarheiten um die Berner Klee-Stiftung nach der Rückkehr von Felix Klee, dem Sechehaye und Goebeler schon 1940 erstmals begegneten. Die Stiftung kann nun ihre eigentliche Arbeit aufnehmen und ist ab 1952 in Bern stark präsent. Das gibt Henriette Sechehaye offenbar die Tragkraft, ihre Sicht weiterzuentwickeln. Sicherer im Zeichnen, kann sie sich nun freier im Werk Klees bewegen; sie nimmt sowohl linear-konstruktive wie figürliche Themen auf ihre Art auf. Die in der Schweizer Kunst in den 50er-Jahren geführte Diskussion um Gegenständlichkeit und Abstraktion ist kein Thema; sie bewegt sich mit Klee im Bewusstsein längst frei zwischen den Richtungen. Inhaltlich signifikant ist eine Oel-auf-Papier-Arbeit von Allerseelen 1955. Sie zeigt drei auratische Liniengestalten (ähnlich jenen auf dem Pantomimen-Teppich von 1943) im Links-Rechts-Profil in einem abstrahierten Kreuz-Garten. Zuvorderst Paul Klee selbst. Dahinter eine knieende, weiblich wirkende (trauernde, betende?) Figur und als Drittes eine die Hände in die Luft streckende, fröhliche Gestalt. Eine Art Auferstehungsbild, das wohl ebenso die Künstlerin mitdenkt wie die gesteigerte Wahrnehmung des Werkes von Paul Klee.

Zum Privatleben Henriette Sechehayes gibt es wenig Informationen. Mehrfach schreibt sie von einem «kleinen, treuen Freundeskreis». Auch, dass sie alljährlich zu ihren Freunden nach Florenz reise. Aber zur Familie gibt es wenig Bande. Im bereits zitierten Brief an ihren Bruder Léon von 1944 stellt sie fest, dass sie in zwei Welten lebten und beklagt sich bitter, dass er keinerlei Interesse für ihre künstlerische Tätigkeit zeige und ihrer Gemeinschaft mit Clara Goebeler feindlich gegenüberstehe. Léon Sechehaye heiratete 1927 ein erstes Mal, liess sich aber bald wieder scheiden. 1935 verbindet er sich mit Suzanne Monod. Als auch diese Ehe bricht, bleibt die Schwester ihrer Schwägerin «Isa» verbunden und weigert sich später, mit der dritten Frau ihres Bruders und den 1959 und 1963 geborenen Töchtern in Kontakt zu treten. Die Eiszeit, der im Innern sehr viel Wärme respektive Schmerz entgegenstehen, schmilzt erst 1971, als Léon Sechehaye die erste Ausstellung Henriette Sechehayes in Bern besucht, gar ein Bild kauft, und seiner Schwester in der Folge verzweifelt von seinem erneuten, privaten Scheitern erzählt. Die Geschwister kommen sich daraufhin wieder näher. Auf eine Postkarte schreibt sie ein Jahr vor seinem Tod (1982): «A la Gemmi avec Léon; c’était si beau».
 
In den 60er Jahren gewinnt Henriette Sechehayes Werk an Leichtigkeit. Dabei sind grob drei Richtungen feststellbar: eine stark auf die Linie ausgerichtete, vorwiegend konstruktive, eine zweite, die Form als Fläche oder Volumen greift und sowohl abstrakter wie andeutungsweise gegenständlicher Art ist. Als drittes tritt eine erzählerisch-poetische Richtung auf, die zugleich Lineares wie Formbetontes, Konstruktives wie Organisches miteinschliesst. Alle drei Facetten gibt es auch bei Paul Klee. Den vielleicht eigenwilligsten Ausdruck findet sie in Bildern wie Beratung der Tiere, wo es ihr gelingt, Erzählerisches, Formbetontes und Lineares zu einem konstruktiven Ganzen im offenen Raum zu verbinden. Eine Kompositionsweise, die es so bei Klee nicht gibt. Trotz gewisser Gruppen, entsteht nach wie vor jedes Bild als Einzelkomposition; man hat den Eindruck, die Bilder entstünden zunächst im Kopf, würden dann in Skizzen geübt und schliesslich gemalt.

Zweifellos spielen hierbei Unterbrüche eine wichtige Rolle. Es steht ihr nicht unbeschränkt Zeit zur Verfügung, muss sie doch neben der Malerei ihren beruflichen Verpflichtungen als Übersetzerin nachkommen. Ausgesprochen belastend wird in den 60er Jahren auch die Pflege ihrer mittlerweile betagten Freundin, die nach einem Oberschenkelhalsbruch nicht mehr gehen kann, sodass Henriette Sechehaye in aller Eile Auto fahren lernen muss, um mit ihr aus dem Haus zu kommen. Wohl nicht zuletzt, um aus der Isolation auszubrechen, entschliesst sie sich 1965 Felix Klee zu kontaktieren. «Ich weiss nicht, ob Sie sich an uns erinnern», schreibt sie, «kurz nach Paul Klees Tod kam Frau Lily Klee mit Ihnen zu uns nach Merligen und bald darauf trafen wir uns alle zu einem Nachtessen bei Bürgis in Belp.» Felix Klee schreibt hocherfreut zurück und besucht «die Damen» schon bald in Merligen.

Der Kontakt wird zu einem roten Faden in Henriette Sechehayes Leben. Felix Klee findet in ihr eine vorbehaltlose Mitverehrerin für Paul Klee und sie in ihm einem Gesprächs- respektive Korrespondenzpartner für diese ihre Verehrung und einen Förderer in Bezug auf ihre eigene Malerei. Die Menge an Briefen und Karten von Felix Klee im Nachlass ist enorm. Doch es gilt zu wissen, dass Felix Klee sehr viel schrieb, respektive sich auf diese Weise mit den für ihn wichtigen Personen vernetzte. Insbesondere nach 1972, das heisst nach seiner Pensionierung beim Radio Studio Bern, wo er seit 1949, seit seiner Einreise in die Schweiz, als Regisseur und «Mädchen für alles» tätig gewesen war. Denn er hasste das Telefon, das schon sein Vater als «Teufelskasten» bezeichnet hatte. So handelt es sich bei der Korrespondenz denn auch nur zum Teil um persönliche Briefe im eigentlichen Sinn, sondern sehr oft um eine Art kommentie¬rende Rapporte seines weitverzweigten Tuns im Zusammenhang mit dem Nachlass seines Vaters.

Es steht ausser Zweifel, dass der erneuerte Kontakt mit Felix Klee Henriette Sechehaye eminent motiviert. Schon immer hatte sie aus Zeitungen und Zeitschriften alles ausgeschnitten und aufbewahrt, was sie zu Paul Klee entdecken konnte. Aber nun verfolgt sie jeden Schritt der sich immer weiter verzweigenden Rezeption Paul Klees und fühlt sich in gewissem Sinn als Teil davon. In einem Brief von Felix Klee von 1966 findet sich auch der einzige Verweis auf die wenigen – indes qualitativ ausserordentlichen – Gedichte Clara Goebelers zu Werken von Paul Klee.

Im Juni 1968 stirbt Clara Goebeler im Alter von 86 Jahren. Der Tod ist Erlösung. Henriette Sechehaye ist Alleinerbin, ohne dass da allerdings grosse Güter vorhanden gewesen wären. Immerhin weist ihre Steuererklärung von 1971 ein Vermögen von 80’000 Franken aus. Ihr bildnerisches Werk ist nun so gross, dass sie sich mehr und mehr auch nach aussen als Künstlerin definiert. Im Frühling 1969 bewirbt sich die inzwischen 62-Jährige um die Aufnahme in die Gesellschaft Schweizer Malerinnen, Bildhauerinnen und Kunstgewerblerinnen (GSBK) in Bern. Felix Klee hilft ihr bei der Auswahl der einzureichenden Arbeiten. Dennoch ist das Resultat negativ, sie wird nicht akzeptiert. Vermutlich gab sie keine Werke aus den 40er Jahren ein und wurde damit von der Jury fälschlicherweise in die Ende der 60er Jahre boomende Klee-Nachfolge eingereiht.

Der Tod von Clara Goebeler bringt nicht nur eine Entwicklung nach aussen, sondern auch nach innen. Im Abschiedsbild für ihre Freundin – das Kleinformat von Juli 1968 öffnet sich aus einer wolkigen grün-braunen Farbigkeit nach hinten in eine Lichtzone – nimmt sie die Bedeutung der Malhaut als Schichtung von Zeit-Zuständen, wie sie bei Klee so wichtig ist, wieder auf. Sie tut dies in einem Verfahren, das sie indirekt immer anwandte, nämlich das Pausen, macht es jetzt mit Seidenglanzpapier als gültigem Bildträger aber neu zu einer wichtigen Methode ihres künstlerischen Ausdrucks. Die Vorgehensweise erlaubt ihr die kleinteiligen Bildbauelemente – vielfach weich geformte Architekturzeichen wie Blöcke, Fenster, Türen – in eine Art schwebenden Zustand zu versetzen, der das Dahinter zu einem immateriell tragenden Untergrund macht und den Arbeiten in dieser Technik eine zukunftsweisende Leichtigkeit gibt.
 
1969 tritt eine entscheidende Wende im Leben von Henriette Sechehaye ein. Als sie erfährt, dass in unmittelbarer Nähe ihres Hauses in Merligen ein kleiner, französischsprachiger Bub in den Ferien weilt, steckt sie ihm ihren (geliebten) «Petit Prince» in den Briefkasten. Tags darauf kommen Jean-Paul Roth (geb. 1960) und seine Patin Jeanne Riotte (geb. 5. 3. 1903), um sich zu bedanken, wobei sich die beiden Frauen, so erinnert sich Roth 2003, auf Anhieb bestens verstehen. Er spricht sogar von einem «Coup de foudre». Jeanne Riotte stammt aus Ste Marie aux Mines im Elsass, wo sie als Kindergärtnerin und später als Lehrerin für angehende Kindergärtnerinnen tätig ist. Seit ihrer Kindheit ist sie mit der Schweiz verbunden; sie verbrachte als junges Mädchen einige Zeit in einem Internat in der Schweiz und kommt später alljährlich mit ihren Kindergarten-Seminaristinnen für eine Woche nach Sigriswil. Privat lebte sie mit ihrem Vater zusammen und pflegte diesen bis zum seinem Tod im hohen Alter von 99 Jahren. Dieser in Ansätzen vergleichbare biografische Aspekt, die kulturelle Stellung zwischen Deutsch und Französisch dürfte dazu beigetragen haben, dass die beiden Frauen künftig mehr und mehr gemeinsam leben.

Im April/Mai 1971 veranstaltet Henriette Sechehaye, nun mit Jeanne Riotte als «Öffnerin» im Rücken, eine erste öffentliche Ausstellung ihres in den vorangegangenen 30 Jahren geschaffenen Werkes im Atelier-Theater in Bern, insgesamt an die 60 Nummern. Das Atelier-Theater kann zu dieser Zeit frei für Ausstellungen gemietet werden, und Henriette Sechehaye ist nicht die einzige Frau ihrer Generation, welcher die Räumlichkeiten eine unabhängige und doch in Bern etablierte Auftrittsmöglichkeit geben. Man denke zum Beispiel an die ab 1931 in Nidau lebende Waltraud Lamers (1908–1992), die 1964 daselbst mit ihren nachts gemalten grossen Abstraktionen erstmals an die Öffentlichkeit tritt.

Felix Klee hält die Einführung und die Vernissage ist gut besucht. Wenn auch von einem Verkaufserfolg, wie bei einer 64-jährigen Newcomerin nicht anders zu erwarten, kaum die Rede sein kann, so äussert sich die Künstlerin doch zufrieden; ihre Auslagen sind gedeckt. Felix Klee schickt sie als Dank einen grossen Strauss Rosen, wofür er sich, einmal mehr, mit einem längeren Brief bedankt: «Wenn Sie in Ihren Mussestunden weiter so fleissig sind und sich stetig in eigener individueller Aussage weiterentwickeln, dann wird in den kommenden Ausstellungen der Erfolg nicht versagt bleiben. Übersetzen Sie des schnöden Mammons wegen, aber malen Sie, malen Sie, malen Sie, wann und wo Sie können. Jeder Tag ist kostbar.»

    Waldarchitektur, Oel auf Leinwand, 1976, 58 x 48 cm

Die ersten Früchte ihres Coming-out sind die Zeitungsrezensionen. Heidi Zingg schreibt im Thuner Tagblatt unter anderem: «Nach der Auflösung zur völligen Abstraktion bezaubern farbliche Stimmungen, aber auch eine schwungvolle Spontaneität.» Und im Feuilleton-Teil des «Bund» schreibt dw. geradezu euphorisch: «Beide (beide bezieht sich auf die Seelenverwandtschaft Klee/Sechehaye) spielen mit Farben und Strichen das Zauberspiel der Verwandlung einer diesseitigen Realität in die Wirklichkeit der Seele, des Herzens und des Geistes.»

In der zweiten Einzelausstellung in Bern, 1978 in der Galerie 58 an der Kramgasse, stehen Arbeiten auf Seidenglanzpapier im Zentrum, was einen unbekannten Kritiker dazu veranlasst, einerseits von einer «Spezialität Henriette Sechehayes» zu sprechen, andererseits das schlechte Haften der Farbe als problematisch zu bemängeln. Heute, 30 Jahre später, erweist sich seine Sorge als unbegründet, sind die Arbeiten doch in tadellosem Zustand. Die Ungegenständlichkeit dominiert – Formen, Farben und Zwischenräume (manchmal gefasst in zeichnerische Lineaturen) bestimmen als Abstrakta die Kompositionen. Dennoch ist man, neben dem Verweis auf die Nähe der Musik, versucht von Architektonischem zu sprechen, wie es sich sowohl in der Stadt als auch in der Landschaft zeigt und sich je nach Atmosphäre den einen oder anderen Farbklängen zuwendet. Zahlreiche Skizzen, zurück bis in die 50er Jahre, zeigen, dass Henriette Sechehaye immer wieder von den Seegelboten auf dem Thunersee fasziniert war, in denen sich Geometrie und Landschaft in stetem Wandel verbanden. 4 Luftig-Leichtes und Gewichtig-Geformtes wechseln sich ab. Und oft schaut von irgendwoher der Mond schaut zu und vereint Tag und Nacht und Traum im Bild.

Henriette Sechehaye pendelt nun mehr und mehr zwischen Hilterfingen, wohin sie 1974 umzog, und Ste Marie aux Mines im Elsass, das ihr zur zweiten Heimat wird. Die beiden Frauen fühlen sich, wie reiche Korrespondenz belegt, eng verbunden, führen aber auch je ein eigenes Leben. Zur Gemeinschaft mit Jeanne Riotte gehört immer wieder der kleine Jean-Paul Roth, der jüngste Sohn von Hélène Roth, einer früh verwitweten Gesangslehrerin aus Strassburg, die durch Freundschaft mit dem Kreis um Jeanne Riotte und der Unternehmersgattin Mme Raymond Burger in Ste Marie verbunden ist. Die Art und Weise, wie die beiden Frauen den «kleinen Prinzen» verwöhnen, ist erzieherisch nicht unproblematisch und führt später zuweilen zu schwierigen Situationen, doch letztlich dominiert immer wieder die Verbundenheit.

Jean-Paul Roth weiss auch als Einziger von Eigenarten Henriette Sechehayes zu erzählen, die nirgendwo aufgeschrieben sind. So erinnert er sich zum Beispiel intensiv an die jährlichen Sommerferien in Hilterfingen. Dabei erlebt er seine beiden «Tanten» als «sanft» (Jeanne Riotte) respektive «fordernd» (Henriette Sechehaye) Selbst bei einfachsten Mahlzeiten, so erinnert er sich, habe man Haltung zeigen und sich an Knigges Tischvorschriften halten müssen. Gleichzeitig habe ihm Henriette Sechehaye aber unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten, wo sie ihre Zigaretten versteckte, nämlich in einem kleinen Gefäss im Klavier (Jeanne Riotte war überzeugte Nichtraucherin). Auch ein Glas Wein habe sie gerne getrunken. Einmal, so erinnert sich Roth, hätten sie ein paar Tage in einer alkoholfreien Pension in Zermatt verbracht. Da sei Tante Henriette eines Tages der Kragen geplatzt, und sie habe ein paar Flaschen Wein gekauft und alle Pensionäre zu einem Glas eingeladen. Er könne sich auch entsinnen, so Roth, dass sie vor den täglichen Tischgebeten jeweils den Saal verlassen habe und erst danach wiedergekommen sei. Das deckt sich mit Aussagen von anderer Seite, wonach Henriette Sechehaye es, wenn immer möglich, vermieden habe, Abdankungen zu besuchen und sich selbst als Atheistin bezeichnete. Was sie durch ihre individuelle Spiritualität zugleich verneinte.

Für ihn selbst, so Jean-Paul Roth, seien als Kind vor allem die Schilderungen von Konzerten mit zeitgenössischer Musik wichtig gewesen und die Literatur, die sie ihm aus der Hinterlassenschaft von Clara Goebeler zu lesen gegeben habe. Wer Schönberg, Weber und Alban Berg waren, habe er bei ihr gelernt. Später, als sich Jean-Paul Roth zum Musikstudium entschliesst, geht dieser Fundus samt Notenmaterial an den jungen Pianisten. Ein eigentliches Atelier habe Tante Henriette nicht gehabt, und die Bilder seien zum Teil hinter der Waschmaschine versteckt gewesen. Zuweilen habe er dennoch die Arbeiten einsehen dürfen, und sie habe auch sehr intensiv auf seine Kommentare gehört. Sie sei stets eine Perfektionistin gewesen, «vom Nudeln Kochen bis zur Kunst». Die Malerei sei für sie nichts Spontanes gewesen, sondern ein Prozess mit Stationen von der Idee über die Zeichnung bis zur Arbeit auf Papier oder Leinwand.

Vermutlich bezieht sich Roths Erinnerung auf die Illustrationen, die Henriette Sechehaye in dieser Zeit für ein Kinderbuchprojekt von Jeanne Riotte gestaltete: «Les Contes de la vieille Maison». In diesen überaus geglückten, stets das Auge eines kleinen Kindergesichtes integrierenden Bilderzählungen, findet sie zu einer poetischen Leichtigkeit und «Kindlichkeit», die sich auch auf die Hauptwerke der Zeit übertragen. Paul Klees «Kindlichkeit» im Sinne einer ebenso flüchtigen wie archetypischen Vision der Dinge jenseits der Fassbarkeit ist darin in eigener Interpretation aufgehoben. Es ist schliesslich Jean-Paul Roth, der das Buch 1996 herausgibt, wenige Jahre vor dem Tod von Jeanne Riotte und Henriette Sechehaye. Leider geht ein grosser Teil der Auflage wenige Jahre später bei einem Brand zugrunde.

Die 80er Jahre sind unter dem Aspekt der Malerei ein fruchtbares Jahrzehnt. Die Aufgabe ihrer Übersetzertätigkeit im Jahre 1983 gibt ihr Raum für Eigenes. Es gelingt ihr, die angestrebte Bild-Transparenz in Form einer von der Bildhinterseite einfliessenden und Volumen gebenden Lichtführung nun auch auf der Leinwand zu evozieren. Landschaften und Traumerzählungen verweben sich zu freien Bildkompositionen. Konstruktive Strukturen schaffen dabei die (Zwischen)-Räume, durch welche das Licht strömt und das Hier und Dort malerisch, emotional und empfindungsmässig verbinden. Abstraktion und Gegenständlichkeit verschmelzen.

Durch die ersten Ausstellungen und die Teilnahme an den lokalen Weihnachtsausstellungen im Thunerhof sowie durch die Wertschätzung, die sie gerade auch im Elsass erfährt, wird Henriette Sechehaye in ihrem Tun bestärkt. Als die Familie Burger, respektive die Burger SA, 1982 in den Schauräumen ihrer Holzverarbeitungsfirma mitten im Städtchen Ste Marie aux Mines eine Ausstellung mit ihren Werken veranstaltet, sprechen lokale Kulturgrössen zur Eröffnung. Bilder wie Forschungsfeld, La cathédrale engloutie oder L’Echappée bleue zeugen von einer immer sichereren Formen-, Farben- und Gestaltungssprache. Die Verehrung für Paul Klee ist darin nach wie vor bestimmend, vielleicht sogar wieder mehr als in den 70erJahren, aber stets weit über Nachahmung vorangetrieben. Paul Klee ist ihr Vision, nicht Vorbild. Zu den interessantesten Werken gehört zweifellos ein Porträt Paul Klees aus dem Jahr 1989, das dessen Gestalt und Blick jenseits jeglichen Naturalismus spiegelt und in jene Aura stellt, in welcher sie ihren «Meister» sah.

Zum Selbstverständnis trägt ohne Zweifel auch der angehende Zeichnungslehrer und Künstler Stefan Hänni bei, der anfangs der 80er-Jahre eine Seminararbeit über bestimmte Aspekte in Henriette Sechehayes Schaffen schreibt. Und dabei erkennt, wie wichtig es ist, dass sie gewisse Dinge aufschreibt, dokumentiert und zum Beispiel auch im Institut für Kunstwissen¬schaft in Zürich deponiert. Auf seine Initiative hin verfasst sie eine Art Werkverzeichnis, notiert ihren Lebenslauf, ihre Erlebnisse mit Paul Klee usw. Gleichzeitig findet sie im Gespräch mit dem jungen Künstler neue Anregung. Und dieser erfährt durch die Fähigkeit Sechehayes, in andere hineinzuhören und auf intellektuell hohem Niveau mitzudenken, seinerseits zuvor nicht gekannte Anteilnahme.

1985 muss Henriette Sechehaye noch einmal umziehen, da das Haus Staatsstrasse 34 in Hilterfingen umgebaut werden soll. Warum sie weit hinauf an den Hang an die Blochstrasse 22 in Oberhofen zieht, ist schwer verständlich, ist das steile Gelände für eine Frau in ihrem Alter doch denkbar ungünstig. Der schönen Aussicht wegen oder ganz einfach, weil sie da eine Bleibe findet?

Wenige Jahre später beginnen sich Schatten über das Leben der nun über 80-Jährigen zu legen. Sie fährt zwar nach wie vor regelmässig vom Berner Oberland ins Elsass und wieder zurück und pflegt in der Schweiz auch einen eigenen, kleinen Freundeskreis. So steht sie zum Beispiel in Kontakt mit der Thuner Künstlerin und Antroposophin Helene Pflugshaupt (1894–1991). Und sie malt nach wie vor. Doch um 1992/93 verursacht sie in der Nähe von Ste Marie aux Mines, selbst am Steuer sitzend, einen Autounfall, bei welchem Jeanne Riotte leicht verletzt wird und in dessen Folgen sich ihre gesundheitlichen Beschwerden akzentuieren.

Jeanne Riotte ist fortan mehr oder weniger an den Rollstuhl gebunden und Henriette Sechehaye fühlt sich in hohem Masse schuldig dafür, was sie fast völlig aus der Bahn wirft. Sie beginnt ihre persönlichen Dinge zu vernachlässigen, kehrt nicht mehr nach Oberhofen zurück. Schliesslich übernimmt Notar Steiner in Thun ihre lokalen Obliegenheiten. Nach dem Tod von Jeanne Riotte Anfang 1999 muss sie in ein lokales Pflegeheim überführt werden. Zu guter Letzt wird sie von Notar Steiner und Familienangehörigen nach Thun zurückgeholt, wo sie wenige Monate später, am 5. Dezember 1999, hochbetagt stirbt. Nur gerade fünf Personen finden sich zur Abdankung ein.

1 In Henriette Sechehayes Bibliothek finden sich auch Autobiografien von Paracelsus, Dante, St. Exupery, Einstein, Albert Schweitzer, Mao Tse Tung, Mahatma Ghandi u.a.
2 Sie war von der Ärztegesellschaft zwar fest angestellt, arbeitete aber immer zuhause.
3 Eine (aufgrund der Schwarzweiss-Abbildung bei Crével) vergleichbare Vertikal-Horizontal-Struktur gibt es in Klees Hauptweg und Nebenwege von 1930, das sich heute in der Sammlung Ludwig in Köln befindet.
4 Es gibt entsprechende Zeichnungen von Paul Klee, das Motiv dient aber in dieser Zeit vielen Künstlern und Künstlerinnen als «Anleitung zur Abstraktion».

Quellen:
Basis dieses Textes sind der Nachlass mit Briefen (insbesondere von und zum Teil an Lily und Felix Klee, Léon Sechehaye und Jeanne Riotte), persönlichen Aufzeichnungen der Künstlerin, Dokumenten, Zeitungsausschnitten, Zeichnungen und Bildern im Besitz der Gesellschaft zur Nachlassverwaltung Schweizerischer Bildender Künstlerinnen GNSBK, Bern, Privaten sowie der Nichte der Künstlerin, Caroline Sechehaye, Genf.
Ferner persönliche Gesprächen mit Stefan Hänni, Thun, Notar Bruno Steiner, Thun, Mme Raymond Burger, Ste Marie aux Mines (F), Jean-Paul Roth, Strassburg, Livia Klee, Bern und Caroline Sechehaye, Genf.