Erica Pedretti Buch Szenenwechsel 2005

Sehen in Wort und Bild

www.annelisezwez.ch   Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 28. November 2005

„Szenenwechsel“ heisst die jüngste Publikation von Erica Pedretti. Nicht nur weil die Szene Venedig ist, sondern auch weil Wort und Bild erstmals gemeinsam auftreten. Morgen ist Lesung.

Für die einen ist Erica Pedretti in erster Linie Schriftstellerin. Anderen ist sie vorab als bildende Künstlerin bekannt. In der öffentlichen Wahrnehmung wurden die beiden Ausdrucksformen nur selten zueinander in Beziehung gesetzt. Bis das Basler Literaturhaus Erica Pedretti vor gut fünf Jahren zu einer Ausstellung einlud. In Übermalungen und Überschreibungen der Basler Zeitung fanden Form und Sprache erstmals umfassend zusammen. Ein Keim war gelegt. Der während eines sechsmonatigen Stipendienaufenthaltes in Venedig im Winter 2004/05 zu einer neuen Bildsprache im Werk der Künstlerin führte.

Erstmals nahm Erica Pedretti auf ihre Stadtwanderungen mit Ehemann Gian eine Fotokamera mit und fotografierte….nicht die Seufzerbrücke oder die Romantik der Kanäle. Sondern die abgetakelte Mauer des Arsenale, Bauarbeiter am Quai, Spuren im Sand am Lido, einen Leuchtturm, verschneite Dächer. Den Alltag der Stadt, das Leben und die darin wohnenden Geschichten zogen sie an. Später schrieb sie mit Silberstift Auszüge aus ihrem Stadtjournal direkt auf die Fotografien. Auf eine Mauer, einen Platz, in die Form eines Graffitis, ins Meer, in die Steine am Strand. Bild und Wort begegnen sich – eingepasst und doch autonom. Manchmal beziehen sie sich aufeinander, manchmal auch nicht. Es ist die Stadt und es sind die Gedanken, die Erica Pedretti dabei durch den Kopf gehen. Es sind zwei Formen von Erzählungen, die sich begegnen. Darum geht es nicht um Fotografie an sich. Auch nicht um Literatur. Sondern um das eine im andern.

 

Kleines zum Füllhorn machend

 

Es ist weder auf den Originalen, noch im eben erschienenen Buch in den Edizione Perfieria einfach, die Handschrift der Künstlerin zu entziffern. Das mache nichts, sagt Erica Pedretti, denn diese seien literarisch nicht ausgefeilt. Darum seien sie auch nicht identisch mit den überarbeiteten Textstücken im zweiten Teil des Buches. In diesen taucht dann klar und deutlich die Schriftstellerin Erica Pedretti auf. Die Art und Weise wie sie exakt beobachtet, ihre Erinnerungen und Assoziationen hineinpackt und damit Kleines zum Füllhorn macht.

Zum Beispiel: „Es schneit. Wie auf japanischen Holzschnitten überqueren die Menschen mit ihren Schirmen in beiden Richtungen die Brücken über den Rio San Pantalon, die schräge, hölzerne und die dahinter, aus Stein.“ Es ist erzählendes Sehen und sehendes Erzählen, das sich wie ein roter Faden durch die Gassen und Kanäle zieht. Bewusst auf das Alltägliche zielend und immer das Eigene mitschwingen lassend. „Von einer Kirche zur nächsten ist es, als kämst du in eine andere Welt, jede empfindest du anders, in einer fühlst du dich geborgen, ‚geht dir das Herz auf‘, die andere lässt dich kalt.“

 

Lesung im Museum Neuhaus

 

Auf Einladung des Lyceum-Clubs Biel liest Erica Pedretti morgen Dienstag, 19 Uhr im Museum Neuhaus aus dem Buch „Szenenwechsel“. Da der Anlass (leider) nicht mit einer Ausstellung kombiniert ist, wird die literarische Seite obenausschwingen, es sei denn man kaufe das Buch (Fr. 58.-) zu Beginn des Anlasses und versuche gleichzeitig zu hören und zu schauen und damit für sich das eine im andern zu erfühlen, so wie es das Buch als Ganzes suggeriert und was es auch als „Crossover“ zwischen Literatur und Kunst ausserordentlich macht.

Das Buch ist bis ins Detail gestaltet – fast ein Künstlerbuch. Zum Beispiel hat es keine Seitenzahlen – was soll ein Schlendern durch Venedig mit Ordnungszahlen! Auch die meist abfallend auf mattes Papier gedruckten Fotografien haben nicht nur Abbildcharakter, sondern machen einem förmlich zur Mitgängerin, ziehen einem ins Bild. Eine reflektive Ebene, ein Betrachten dessen, was sich da abspielt, bringt abschliessend das Essay von Hans Saner ein.

 

Info: Erica Pedretti liest aus „Szenenwechsel“. Dienstag, 29. November, 19 Uhr, Museum Neuhaus.

 

Infokasten:

Die  von Flurina &Gianni Paravicini-Tönz mit viel Engagement betreute Edizione Periferia mit Sitz in Luzern und Poschiavo gibt sorgfältigst gestaltete Kunstbücher zu ganz speziellen Themen heraus, meist in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Künstlern. „Die Ringe“ von Dieter Roth zum Beispiel (erscheint im Frühling 2006) oder – demnächst – „Côte d’armôr“, eine Foto-Wanderung von Cecile Wick entlang der nordbretonischen Küste oder „Eben“, eine Rekonstruktion eines nie erschienenen Trickfilms von Markus Rätz von 1971. Alle Bücher sind mehrsprachig und begleitet von essayistischen respektive philosophischen Texten, von Max Wechsler zum Beispiel, von Ursula Pia Jauch (Urs Lüthi). Für die Gestaltung der neueren Produktion zeichnet vorab der in Berlin tätige Schweizer Grafiker Stephan Fiedler (Büro all&slothrop). (azw)