Vernissagerede anlässlich der Kunstaktion „hautnah“ im ehemaligen Fabrikgebäude der Hanro in Liestal

25. November 2005

Annelise Zwez

 Sehr geehrte Damen, Sehr geehrte Damen…..und Herren, Lieber Joseph Beuys

Wir befinden uns hier inmitten einer „sozialen Plastik“, ein Begriff der zentral ins Gedankengebäude von Joseph Beuys gehört. „Hautnah“ ist eine „Honigpumpe“. Dies ist umso nahe liegender – im wörtlichen Sinn – als die Theorien der „Honigpumpe“ – wie fast alles, das Beuys formuliert hat – auf Vorträgen basieren, die Rudolf Steiner im nahen Dornach gehalten hat.

Um was geht es?  Beuys sagte – jedes Kind kennt den Satz – „jeder ist ein Künstler“. Ob er die Frauen „mitgedacht“ hat, weiss ich nicht – aber das ist ein anderes Thema. Dieser Satz ist tausendfach missbraucht worden. Denn er meint nicht, dass all die „hautnahen“ Leibchen, die da über unseren Köpfen hangen, Kunst sind. Sondern, dass jeder Mensch, die Fähigkeit hat, kreativ und damit Teil der „sozialen Plastik“ – der Gemeinschaft – zu sein.

Die berühmte „Honigpumpe“, die Beuys einst als System kommunizierender Schläuche an der Documenta von 1972 einrichtete, meinte somit ein System, in dem durch die Kreativität jedes Einzelnen soziale „Wärme“ entsteht. Kein Honig ohne Bienen und die Lebensorganisation der Bienen war Beuys – respektive Rudolf Steiner –  auch tatsächlich Basis. Nun sind – ich kann es nicht lassen – Bienenvölker ganz primär Frauenvölker. Beuys musste da ganz schön drehen, um nicht in den Clinch zu kommen. Er tat dies, indem er sein System auf eine geschlechtlose Ebene transponierte und die Drohnen zu absterbenden Zellen erklärte. Weiterdiskutieren ist erlaubt, aber später.

Bleiben wir in der Hanro, deren „Honigpumpe“ nach langen erfolgreichen Jahren, zumindest hier in Liestal, unter ökonomischem Druck abgestellt wurde. Es entstand eine Art Vakuum, aus „Wärme“ wurde „Kälte“,  Energie wurde blockiert. Bei jedem der Betroffenen und in grösserem Zusammenhang zugleich.

Ursula Pfister hat dies – eher intuitiv denn als Konzept – gespürt und mit ihrer Kunstaktion „hautnah“ Gegensteuer gegeben. Und zwar nicht – und das scheint mir wichtig – als eine Art verspäteter Protestaktion, sondern indem sie die Geschichte tragenden Räumlichkeiten – ich glaube nicht, dass Räume vergessen – eine neue „Honigpumpe“ – auf Zeit – installierte. Nicht eine, die auf Produktion ausgerichtet ist, sondern in unglaublicher Vielfalt Kreativität vor Augen führt. Und dies – eingedenk der Hanro zum einen, aber symbolisch zugleich – „hautnah“, menschennah. Was wir hier und heute erleben ist eine Art Beweis dafür, dass Kreativität transformierende Kraft hat.

Das allein genügte eigentlich schon, um Ursula Pfister zu ihrer Aktion zu gratulieren.

Aber: Kreativität kann man weder bestellen, noch kaufen. Es muss unter der Haut etwas brennen, damit sie zum Tragen kommt. Ideen haben Tausende, dass Ursula Pfisters wagemutige Idee, Frauen einzuladen, in diesen Räumlichkeiten ein Leibchen zu nähen, auf so überwältigend fruchtbaren Boden stiess, zeigt, dass sich in ihrem Projekt ganz offensichtlich mehrere „blockierte Energien“ trafen und umwandelten.

Sie haben scheinbar nichts miteinander zu tun und sind natürlich doch miteinander verknüpft. Der Kreuzpunkt liegt darin, dass Hanro eine Textilfirma war und ist, dass sich also der wirtschaftliche Hintergrund mit einem Produkt verbindet, das per se „hautnah“ ist und überdies von der Materialiät zu einem Feld gehört, das, zumindest in Europa, während Jahrhunderten primär fraubesetzt war. Ein Feld allerdings, dessen „Pumpe“ durch die Emanzipation der Frauen in den letzten 30 Jahren in gewissem Sinn ungeniessbaren „Honig“ produzierte.

Konkret: Die 1968er-Jahre brachten zwar den Aufbruch zum grossen Basteln – man denke an die Fernseh-Sendungen von Gerda Conzetti – aber auf einer intellektuellen, gesellschaftsrelevanten Ebene wurde alles, was mit traditionellen Frauenbeschäftigungen zu tun hatte, vehement unter den Tisch gekehrt. Wir nicht mehr, war das Credo. Ein Bereich, der dies schon viel länger und nun doppelt erfahren musste, war die Kunst mit textilen Materialien. Und zwar ganz paradox. Zum einen boomte die fast durchwegs von Künstlerinnen getragene Wandteppich-Produktion – oft kleine soziale Plastiken in sich, indem Gemeinschaften sie unter der Anleitung – einer Lissy Funk zum Beispiel – schufen. Zum andern waren dieselben Künstlerinnen mit ihren Werken aus textilen Materialien nicht einmal berechtigt, an den Jahresausstellungen der lokalen Museen mitzumachen. Textiles Material ist kein Kunst-Material. Basta. Das sagten nicht nur die Männer, sondern auch tonangebende Feministinnen. Diese massive Diskriminierung von Künstlerinnen führte dazu, dass viele auf andere Materialien auswichen oder im Untergrund verschwanden. Mit Ausnahme – das muss angefügt werden – des Ghettos „Textilkunst“ wie es zum Beispiel in den Biennalen von Lausanne zum Ausdruck kam. Bis diese in den 1990er-Jahren schliesslich als „nicht mehr relevant“ abgeschafft wurden. Das kreative Schaffen mit textilen Materialien lag am Boden, keine Galerie, niemand mehr mochte es zeigen (mit wenigen Ausnahmen).

Was sich in der Kunst abspielte, übertrug sich – da auch kein Medienthema – auf das Empfinden in der Gesellschaft, was nichts anderes hiess als dass die traditionellen Fähigkeiten der Frauen im Bereich Textil  wie seit eh und je zweitrangig einzuschätzen waren. Besser man spricht nicht davon. Bis dann von den Rändern her neue Impulse kamen – nicht von der Kunst, sondern vom Design her. Plötzlich traf man die Kunstkritikerinnen an den Ausstellungen der Eidgenössischen Design-Preise oder des Design-Preis Schweiz, die – übrigens aktuell im Mudac in Lausanne respektive im Kornhausforum in Bern – hier wie dort unter anderem textile Kreationen zwischen Experiment und Mode zeigen. Und dies mit einer Nonchalance und einem Ideenreichtum, der sich um Grenzen zwischen sogenannt freier und angewandter Kunst foutiert. Eine wahre Freude.

Und dann auch noch dies: Die ganz grosse Dame der Kunst – die Franko-Amerikanerin Louise Bourgeois – schuf plötzlich genähte Objekte und eine Art Bücher mit gestickten Skizzen – worunter eine mit Schriftzeichen – „pourquoi j’ai oublié ça ?“  – steht darauf, was im Zusammenhang zweifellos das Sticken meint. Wenn sie das sagt, dann dürfen andere auch – jedenfalls tauchen spätestens seither in Jahresaustellungen und in eidgenössischen Kunst-Wettbewerben plötzlich textile Arbeiten auf – durch und durch zeitgenössisch. Ich denke, dass auch das verblüffende Echo, das Ursula Pfister, erfahren durfte, hier, neben dem bereits zuvor forumulierten Aspekt, seine Impulse her hat.

Dass sich die junge Generation einen Deut um die alten Ausgrenzungen, um  Barrieren zwischen Tradition und Emanzipation kümmert, sprengt „blockierte Energien“. Und mit Freude schliessen sich ältere Semester den jüngeren an. Endlich darf man wieder, endlich ist das, was man einst im Nähunterricht lernte, nicht mehr ein Tabu, sondern wieder ein Kapital. Jedenfalls hat man das in den Wochen, in denen hier genäht wurde,  wie ein Funkenfeuer gespürt.

Dabei war vermutlich ganz wichtig, dass Ursula Pfister von Anfang sagte: „Die Leibchen dürfen, müssen aber nicht tragbar sein“. Damit verwies sie klar auf eine künstlerische Option, wie sie im Begriff „hautnah“ enthalten ist. Das Leibchen zum einen, das dem Körper Nahe und als Objekt Körper Zeigende auf der anderen – schauen Sie in die Runde, wir stellen uns doch zu jedem Stück einen Menschen vor, ziehen jedes Leibchen in unserer Vorstellung ganz schnell selbst an und prüfen, ob es ein Stück des eigenen Ich ist oder nicht. Die Männer grenzen wir dabei souverän aus – doch das ist im Körperhaften meist so – die Frau empfindet – auch in der Erotik – die Lust über den eigenen, weiblichen Körper, während die Männer  – immer noch, aber mit Wandlungsansätzen – ihre Körpergefühle negieren respektive auf die Frau projizieren. Aber das geht jetzt hier zu weit.

Zurück zum Kapital – auch so ein Beuys-Begriff. Es gibt da nämlich noch ein paar Punkte, die mir am Herzen liegen. Die Idee von Ursula Pfister, alle Frauen zu animieren, ihre Beziehung zum Nähen und/oder zum Projekt aufzuschreiben, ist grossartig und zeigt wie komplex sie den Ansatz zu dieser Kunstaktion erfühlt hat. Selbstverständlich sind nicht alle Kommentare, die man in den Schachteln erschnüffeln kann, literarische Essays. Und doch habe ich da Wesentliches gefunden. Etwa: „Dem Stoff Gestalt geben – einer Idee Form schenken – eine zweite Haut schöpfen – mit eigenen Händen erschaffen – sich Stich für Stich in die eigenen Gedanken vertiefen – der Leib als Gefäss der Lebenskraft – schützen, wärmen, verhüllen. Es gäbe mehr. 

Eines ist mir hingegen ganz stark aufgefallen. Wie viele Frauen von ihren Grossmüttern sprechen – einmal war es auch ein Grossvater, der Herrenschneider war. Damit zeigt sich auf einer anderen Ebene, was ich vorher skizzierte. Es gibt da eine Lücke.  Zu Grossmutters Zeiten war das Nähen noch gesellschaftskonform und als solches positiv  besetzt. Bei den Müttern war es dann schon ambivalent, da hat schon meine Generation und die jüngere erst recht nicht mehr recht gewusst, ist das nun retro oder noch ok. Es  kommt hinzu, und das hat Ursula Pfister indirekt in die Ausschreibung integriert, dass Nähen heute etwas ganz Anderes heisst als früher. Dass also dieses Wiedererwachen anderes hervorbringen muss als einst. Fast wie die Malerei, die nach der Erfindung der Fotografie in ein Tief fiel und dann neu, anders, wieder auftauchte. Meine Mutter nähte mir meine Sommer- und Festkleider nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen; es war billiger. Heute ist das nicht mehr so – H&M oder wer auch immer sind allemal günstiger. Das heisst, nur mit Lust und Fantasie genähte Leibchen, nur Leibchen, die mehr sind als ein Leibchen machen Sinn. Es  geht nicht ums Anziehen, ums bedeckt Sein, sonder um beuyssche „Wärme“ im Sinne von Lust, die eigene Identität zu fassen und zu zeigen oder auch – etwas ausserhalb – Bezüge zur Gesellschaft, zum  Kollektiv zu schaffen, zur Wirtschaft, zur Globalisierung, zu Hanro einst und heute. 

Und da ist dann urplötzlich nicht mehr klar, ob die Leibchen nun am Ende doch Kunst sind. Die einen und die anderen zumindest. Jenes etwa, das wie ein Stück Ich als Umhängtasche mitgetragen werden kann oder jenes, das nach innen aus Seide besteht – beschrieben mit intimen Wörtern – und nach aussen aus Kupferlappen zusammengenäht ist; uff, da habe ich mich, glaube ich, selbst entdeckt. Beeindruckt hat mich auch die Politikerin, die sich nicht ein Leibchen, sondern ein „dickes Fell“ genäht hat. Oder die Shirts einer Schulklasse, die fast alle für labelgerechte Traumfiguren genäht sind. Aber das muss ich Ihnen ja alles gar nicht erzählen – schauen und fühlen Sie selbst.

Ich danke fürs Zuhören.