Erica Pedretti_Ansprache Zürich 2005

Ueberschreibungen _Paulus-Akademie

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Kritik am Buch „Heute“ des Suhrkamp-Verlages und zum Erscheinen von „Szenenwechsel“ in der Edition Pereferia

Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Erica

Was doch ein Auftrag für Folgen haben kann. Deren sich der Auftraggeber mit seiner Idee zuweilen keineswegs bewusst ist. Aber bekanntlich haben Zu-Fälle Bindestriche. Konkret geht es um das mittlerweile gut fünf Jahre zurückliegende Ansinnen des Literaturhauses in Basel, eine Ausstellung Erica Pedretti zu zeigen.

Erica Pedretti tritt seit den 70er-Jahren sowohl als Schriftstellerin wie als bildende Künstlerin in Erscheinung. Viele kennen bis heute nur die eine oder die andere Äusserungsform. Ich zum Beispiel habe die Schreibende erst viel später als die Bildende wahrgenommen. Sie machen vielleicht gerade heute die umgekehrte Entdeckung.

Ein wesentlicher Grund dafür liegt darin, dass die Karrieren – ich glaube, man darf so sagen – der Schriftstellerin und der bildenden Künstlerin weitgehend getrennt verliefen. Werke der bildenden Kunst wurden in Galerien, auch in der  Kunsthalle Bern gezeigt,  Einzelarbeiten begegnete man oft in grossen Freilicht-Ausstellungen. Die Literatur hingegen fand über den Büchermarkt, über Lesungen etc. an die Öffentlichkeit.

Es ist mir nicht bekannt, was sich das Literaturhaus Basel dachte, als es Erica Pedretti für eine Ausstellung einlud. Aber ganz offensichtlich war für Erica Pedretti die Zeit reif  für eine Form, die – nein,  nicht einfach Bild und Wort verbindet, das trifft es nicht, was danach entstand und hier in Ausschnitten zu sehen ist. Erica Pedretti erfand vielmehr eine Form, die das Schreiben sichtbar macht, die Handschrift als Äusserung zeigt, die zeichnen und schreiben verbindet.

Nun kann man schnell antworten: Das ist doch nicht neu – Schrift und Malerei haben sich schon vielfach verbunden. Ein Paradebeispiel: Der Berner Rudolf Mumprecht.
Aber das ist hier nicht gemeint. Hier schreibt eine Schreibende so, dass daraus Form wird. Das ist etwas Anderes, das auch nichts mit malenden Schriftstellern – von Hermann Hesse bis Wolfgang Hildesheimer –  zu tun hat.

Was heisst, die Zeit ist reif?  Damit etwas Neues entsteht, müssen irgendwoher Impulse kommen. Ich stelle hier zwei Momente in den Raum, die ich als massgebend betrachte für die „Überschreibungen“ von Erica Pedretti. Zum einen haben sich die Kultursparten in den letzten zehn Jahren aufeinander zu bewegt. „Crossover“, „multimedial“ sind Stichworte. Das kann durchaus heissen: Literatur geht Kunst und umgekehrt. Ich finde das eine grossartige und  bereichernde Entwicklung, wir sind gerade daran, sie zu erleben. 

Aber da ist noch ein zweites Moment: Damit äussere Impulse wirken, müssen sie im Innern auf eine Bedürfnis-Struktur stossen und die ist in ihrem Kern zuweilen ganz banal – ohne dann Banalität zu erzeugen, wohlverstanden. In einem gewissen Alter sucht man Dinge zu bündeln statt siebenarmig durch die Welt zu gehen. So kam der Auftrag des Basler Literaturhauses just zum richtigen Zeitpunkt und Erica Pedretti fand dadurch zu einer für sie wegweisenden neuen Form, nämlich die Aufhebung der Trennung zwischen Literatur und bildender Kunst.

Erst in dieser Ausstellung, die sowohl Ausschnitte aus dem Basler Zyklus wie Ausschnitte aus dem neuen Venedig-Konvolut zeigt, lässt uns indes durch Vergleiche Struktur und Potenzial der doppelten Werkentwicklung erkennen.

Der Basler Zyklus nimmt Basel und die Welt, gespiegelt in der Basler Zeitung als Basis,  übertüncht die oft verwirrende und Gegensätzlichstes nebeneinander stellende Informationsflut und setzt dem gewonnenen Freiraum das all-tägliche Leben tagebuchartig gegenüber; spontan, ungefiltert, direkt.
Es sei eigenartig, schreibt Christa Wolf in „Tage eines Lebens“, dass wir die äusseren Dinge sehr viel mehr in Erinnerung behalten als das Alltägliche, das doch so viel näher am Leben sei.

Das würde auch Erica Pedretti unterschreiben. Denn diesen beiden Ebenen Gleichzeitigkeit zu geben, ist eines der Charakteristika ihrer Tagebuch-Arbeiten. Während die gedruckten Informationen nur noch durchschimmern, ist das Tagebuch in einer Form gehalten, die den intimen Charakter des Persönlichen bewahrt, nämlich der Hand-Schrift. Wir können nur mit Zeit und Konzentration lesen, was Erica Pedretti auf die Zeitungsseiten schreibt. Reaktionen auf Gelesenes, aber auch und vor allem aus dem Alltag Erzählendes. Zuweilen müssen wir den Kopf in die Horizontale legen, um der Schrift zu folgen.       
Und zuweilen führen Kreuzungen dazu, dass wir nicht mehr entziffern können, was da
steht.

Vergessen wir nicht, wer im Raum Biel Kultur schafft, dem schaut immer Robert Walser etwas über die Schulter. Und wer mit Bleistift schreibt, ist schon ziemlich nahe am „Bleistiftgebiet“. Das Nichtlesenkönnen ist selbstverständlich auch bei Erica Pedretti gewollt und bildet eine Art Analogie zu den übertünchten Zeitungsseiten, die oft nur Titel oder einzelne Wörter lesbar belassen. Wörter, die an diesem Tag ein besonders Echo – eine Wechselwirkung zum eigenen Leben – auslösen. Und so wird beides zusammen zum Bild, zu einem persönlichen Spiegel täglichen Wahrnehmens, Denkens und Erlebens. Die Worte und die Form, die Erscheinung sind nicht trennbar.

Den Basler Zyklus gibt es in Buchform. Zuerst habe ich mich über das von Suhrkamp herausgegebene Büchlein geärgert. Wie kann man  unter dem Aspekt des Visuellen so unsensibel mit Material umgehen, das rohe Zeitungspapier auf Hochglanz drucken, den einzelnen Seiten keinen Umraum geben, um sie als Bild wahrzunehmen zu können.

Auch Erica Pedretti ist nicht glücklich damit. „Man hätte dies alles noch redigieren müssen“, sagt sie.  Aber ich begreife natürlich die Herausgeber, die blitzartig realisiert haben, dass mit der Erlaubnis der Autorin, der Künstlerin, die Texte zu transkribieren, etwas zum Vorschein kommt, das – erstmals in dieser Art –  hinter die Kulissen der Schriftstellerin schauen lässt. In gewissem Sinn analog dem 27. September-Tagebuch von Christa Wolf, das ich bereits erwähnt habe.

Da kommt bei Erica Pedretti – am 29. Februar 2000 –  sogar das Wort „Gopferdeckel“ vor – es bezieht sich auf den komplexen Missmut der 70-jährigen, sich fortan einem medizinischen Check unterziehen zu müssen, um weiterhin Auto fahren zu dürfen. In der Transkription steht das einfach so da. Im Bild – und da liegt nun die Ambivalenz des Projektes – ist dieses „Gopferdeckel“ praktisch nicht lesbar, weil die Hand an besagter Stelle zwei Schriftschichten übereinander gelegt hat. Die Form, die Emotion, das Wort sind ganz gezielt gebündelt.

Auch an anderer Stelle „lügt“ die Transkritipion. Da ist am 6. März 2000 ein kleiner Text, der den Tag im innen und im aussen wiedergibt – vom Wetter ist die Rede, von einem Spaziergang über das Plateau – so nennt man die Anhöhe, die ob La Neuville bis nach Frinvillier ob Biel führt  – und davon, dass  1988 in Basel 92 Räume von Kakerlaken und anderem Ungeziefer befreit werden mussten, 1998 hingegen kein einziger. Diese Notiz ist schon fast typisch pedrettisch, wenn wir an ihre Bücher denken. Doch darum geht es nicht. Im Bild nämlich ist ein Teil der Tagebuch-Schicht von einer zweiten überdeckt, mit Tinte statt Bleistift geschrieben und kopfüber. Nur die Notiz zu den Kakerlaken ist transkribiert – aus der Sicht der Herausgeber wohl darum, weil der übrige Text eigentlich nur Zeitungsinhalte rapportiert, scheinbar Unpersönliches also.

Doch das Bild sagt anderes. Nämlich, dass an diesem Tag irgendetwas geschehen sein muss, das ein Überschreiben notwendig machte, nicht inhaltlich, sondern als Akt des Schreibens. Eine Spannung, die abreagiert werden musste. Auch der Hinweis auf Blochers SVP, der quer zum übrigen gestellt ist, fehlt hinten, für das Bild ist dieser 90°-Winkel aber von Bedeutung; die Notiz steht quer.

Was ich damit sagen will – Suhrkamp geht einseitig von den Worten aus, hört nur die Schriftstellerin und übersieht die bildende Künstlerin. Das darf nicht sein, denn es geht darum, das eine im anderen erscheinen zu lassen und als Ganzes wahrzunehmen. Wir können das hier, wir sind in einer Ausstellung.

Dies wird uns umso bewusster im Vergleich mit der Venedig-Serie, die unter dem Titel „Szenen-Wechsel“ demnächst in den Editione Periferia als Buch erscheinen wird. Hier erst – so hat man den Eindruck – realisiert Erica Pedretti, wie sie Bildnerisches und Literarisches wirklich verbinden kann. Indem Bild und Text direkt in eine Wechselwirkung treten und im einen und im anderen persönliche Bilder, persönliche Wahrnehmungen spiegeln. Nicht, dass das eine das andere illustrieren würde, vielmehr kreisen sie  je medienspezifisch – hier Fotografie, dort das beschreibende Wort – eine Beobachtung, eine Begebenheit, ein Erlebnis ein.

Haben die Texte in „Heute“ klar Tagebuchcharakter, so hat man in Szenen-Wechsel immer wieder das Gefühl, man befinde sich in einem Buch von Erica Pedretti und die Geschichte gehe doch sicher auf der nächsten Seite weiter. Dem ist nicht so – das ist auch nicht das Ziel – aber die Beobachtungen, die Erica Pedretti während ihres sechsmonatigen Aufenthaltes in Venedig macht, entsprechen in ihrer Struktur, in der Art, wie sie gewoben sind, dem lliterarischen Stil Erica Pedrettis, obwohl der Tagebuch-Charakter gewahrt ist.

Weil Sie noch nicht die Möglichkeit haben, dies zu überprüfen, lese ich Ihnen einen Text vor. Wobei sogleich als wesentliches Element anzumerken ist, dass die  Transkriptionen im neuen Buch und im Gegensatz zum „Heute“ redigiert, mehr noch, überarbeitet sind und damit sprachlich so gestaltet, wie das Erica Pedretti wollte. Als Beispiel wähle ich nahe-liegenderweise den Text, den Sie vielleicht bereits zu entziffern suchten, jenen auf der Einladungskarte. Dass der Silberstift schillert, sich fast op-artig nur in bestimmten Licht-Situationen lesen lässt, ist natürlich eine Analogie zu den Basler Überschreibungen, die es hier demzufolge nicht braucht. Der Form-Aspekt des Geschriebenen, das Einpassen des Notierten in die Bild-Architektur ist stattdessen wichtig, auch wenn der Text nur vielleicht etwas zu tun hat mit dem Bild.

Also – nein, noch eine Einschränkung – was ich lese, ist nicht eine direkte Transkription (ich habe das schon erwähnt), herausgefunden, welcher Text sich denn da spiegelt, habe ich nur dedektivisch, via ein Schlagwort – konkret aufgrund des Wortes „Badekabine“.

„Nach gut zwei Monaten auf „dem besten Strassenpflaster“ ist es ein Genuss“, schreibt Erica Pedretti, „einmal am Strand zu wandern, dem Wasserrand entlang, knapp vor den anrollenden Wellen, wo der nasse Sand fest ist und trägt.“ Und später dann: „Einige Muschelsammler in hohen Stiefeln gehen gebückt, in der einen Hand den zum Teil gefüllten Plastikbeutel, die andere im Sand klaubend, langsam durch die seichten Pfützen und über die äussersten Sandflächen. Den ganzen Strand, kilometerweit, säumen Kolonien von Badekabinen, verschiedene Holzhäuschen oder Plastikzelte, ein Dutzend Reihen hintereinander, winterlich abweisend hinter Drahtgittern abgeschlossen. Dazwischen zerschlagene, weggeschwemmte Plastikstühle. Leicht schaudernd können wir uns, auch wenn wir sommerliche Badestrände meiden, den Saisonbetrieb vorstellen. Ein haushoher Haufen Müll liegt am Rand des Strands vor einem Traktor, der beim Aufräumen dem Sand das Muster seiner Räder eingedrückt hat.“

Aha, da gibt es also einen Bezug, die Fotografie zeigt ganz offensichtlich dieses Rad-Muster, das uns allerdings im Ausschnitt fast zum Anfang einer Spirale wird, um so mehr als die Schrift die Rundung betont.  Wir sehen da sehr schön, wie das Objektive und das Subjektive sich verschränken – in Bild und Text. Das Sehen und das Reflektieren, die Lust das Sichtbare mit  eigenen Empfindungen aufzuladen, ist unmittelbar präsent in der Gleichzeitigkeit von Bild und Text. Den Text zu lesen, ist eine Bereicherung, aber das Bild lebt auch ohne, das heisst, es fordert  uns heraus, eine Geschichte hineinzulegen oder wir nehmen es einfach nur als Bild, das uns Wahrnehmung als Gleichzeitigkeit von Objektivität und Subjektivität bewusst macht.

Das gilt analog für alle anderen Venedig-Bilder, die noch auf einer weiteren Äusseres und Inneres in sich tragen, indem es wohl Bilder gibt, die wir als „Venedig“ erkennen, aber viele auch nicht, denn das Eigene liegt oft nicht auf der Hand und schon gar nicht auf der Karte der Sehenswürdigkeiten, sondern in der kleinen, Erinnerungen weckenden Entdeckung am Rand. Es lohnt sich, am 14. September noch einmal zu kommen, um die Bilder zu „hören“, wenn Erica Pedretti Texte dazu liest.

In dieser Ausstellung finden Sie auch einige ältere Arbeiten der Künstlerin, Flügel oder eben Nichtflügel, aus den 1980er-Jahren. Dieses Kapitel nun auch noch aufzurollen, würde zu weit führen, umsomehr als für mich ganz persönlich die vom Fliegen träumenden, aber zum Fliegen untauglichen, grossformatigen, schwarzen Tuch-Flügel, die ich erstmals 1980 in der Schweizerischen Plastikausstellung in Biel sah, zu den Ikonen meines eigenen Erlebens von Kunst als Frau gehören und die auch viele jüngere Künstlerinnen massgeblich beeinflusst haben. Sie spüren, das wäre ein ganzes Kapitel – ein ander Mal.

Ich bedanke mich fürs Zuhören und wünsche angeregte Diskussionen.