Vernissagefassung des Kat. Textes Ulrich Studer

  1. August 2005 im Kunsthaus Grenchen

liebe Gäste dieser Vernissage, lieber Ueli

Ich schenke Ihnen heute Zeit. Ich weiss doch wie es ist – den Katalog, den kauft man sich, blättert mit Lust darin, sinniert darüber und legt ihn schliesslich beiseite und denkt: Den Text lese ich dann später. All das verhindere ich heute. Knallhart. Ich lese ihnen nämlich meinen Katalogtext in minimal veränderter Form vor. Allerdings nicht vor einer kleinen Schlaufe: Ich bin hier Stellvertreterin. Eigentlich hat sich Beat Selz, engagierter Galerist in Perrefitte in Moutier, spontan bereit erklärt, hier und heute die Einführung zu halten. Er hat ja anlässlich der letzten Ausstellung von Werken von Ulrich Studer mehrere Woche mit seinen Arbeiten gelebt. Doch aus gesundheitlichen Gründen kann er dies heute nicht tun. Darum ist das, was ich im Folgenden erzählen werde, mit beuysscher Wärme ihm gewidmet.

Szenenwechsel:

Es ist 14 Uhr. Im Sommer in Pila im Tessin. Am Nordhang des Centovalli. Ulrich Studer schwingt den Rucksack auf den Rücken und geht. Er hat zwei weisse, semitransparente Polyestervliese bei sich, im Format 150 x 200 cm; wie Tischtücher zusammengelegt brauchen sie wenig Platz im Rucksack.  Daneben Malerutensilien wie Pinsel, Lappen, Blechbüchsen. Wasser auch. In den Aussentaschen in kleinen Plastiksäckchen Pigmente, Farbbinder, Tusche. Einen Regenschutz muss er nicht mitnehmen, es sind nur ein paar Quellwolken am Himmel und Gewitter sind keine angekündigt. Er will noch einmal zu jener Stelle dort am Berg, wo er ein „Bild“ gesehen hat. Zuerst muss er die Zivilisation hinter sich lassen, die Touristenpfade. Das Gewitter vom Vortag hat Spuren hinterlassen, Steine sind heruntergekollert. Je verlassener der Weg, desto grösser ist die Gefahr auszugleiten.

Doch dann ist er da. Unscheinbar eigentlich, was er da sieht: einen Stein, ein paar gegeneinander verschobene Felsschichten. In der Nähe ist ein Wasserfall, er hört ihn – das Gewitter von gestern fällt herunter. Auf dem Weg streift er den Alltag ab. Vielleicht auch die Zeit. Steine sprechen nicht in Tagen, nicht in Jahren, nicht einmal in Jahrzehnten.

Aber, clickt man die Zeit weg und schaut auf die Linien zwischen den Fels-Zeilen, beachtet die Brüche, die Kanten, die Zwischenräume ist es aus mit der Langsamkeit. Die Dynamik der wirkenden Kräfte tritt in den Vordergrund, das Sehen wird zum spannenden Geschehen. Das Kompakte und das Abgetrennnte, das Verdichtete und das Aufgebrochene erzählen Geschichten. Der Granit andere als der Kalk, die Alpen andere als der Jura und jeder und jede in seinen von Licht und Wasser, Wärme und Kälte geprägten Parametern.

Ulrich Studer liebt die Naturwissenschaften, was er sich im Laufe seines Lebens an geologischem Wissen angeeignet hat, bestimmt sein Schauen und Denken in jeder Sekunde mit. Und doch sucht er als Künstler eher die Nähe zu Paracelsus. Man könnte auch sagen, von Paracelsus bis Beuys. Das heisst: Er geht nicht als „Forscher“ ans Werk, sondern als Schauender, als Fühlender, als Horchender. Wenn er nun das erste Vlies aus dem Rucksack  nimmt und mit Klebstreifen über dem „Bild“ befestigt, so nicht, um als „Landvermesser“ Mass und Zahl zu übertragen, sondern als Landschaftsmaler jene Linien und Kanten zu markieren, welche für ihn die „Geschichte“ nachzeichnen.

Der Tag, die Stunde, das Licht, der Schall, das Wasser, das Grün, die Blume, das Blut, die Augen, die Hand, der Arm, die Tusche, das Rot, das Blau, das Braun….verschmelzen zum lenkenden „Motor“. An diesem Tag ist es zuerst das Flächige, das Verschattende, das Kompakte, das durch das durchlässige Vlies hindurch Aufmerksamkeit fordert und als Dunkel zu weicher Form auf dem Bildträger wird. Der Künstler folgt in seinem Gestus dem Gegebenen, dem mit den Augen und der tastenden Hand Sichtbaren, wählt aber zugleich, was er  wie aus dem Relief in die Fläche übertragen will und was nicht.

Er tritt zurück, so weit es der Ort zulässt, prüft das „Klima“ – die Schwingung – zwischen seinem Körper, seinem Empfinden und der Form respektive dem Gewicht des im Bild Festgehaltenen. Er belässt es wie es geworden. Korrekturen sind eh keine möglich, höchstens Ergänzungen. Er prägt sich das Basston-Bild ein, dann nimmt er das Vlies vom Fels und legt es beiseite. Er hat ja noch ein zweites bei sich. Das befestigt er nun in derselben Manier am selben Ort. Und horcht jetzt ganz bewusst auf die Obertöne. In einem Glas hat er caput mortuum angerührt und aus dem Rucksack hat er einen feineren Pinsel geholt. Der Boden hält ihn nun nicht mehr fest, das Fundament ist ja gelegt. Er lässt den Pinsel dem Spalt zwischen zwei Felsschichten entlang fahren, die Unebenheiten lassen den Strich nach links und rechts gleiten, mal kantig, mal weich. Der Spalt ist kein sauberer Schnitt, es gibt Haarrisse nach links und rechts; der Pinsel fährt den einen nach, den anderen nicht, belässt sie als Linie oder weitet sie zur vibrierenden Zone, setzt tupfend Akzente. Er darf im Dialog mit dem Ort nicht vergessen, dass auch die Malerei – die Übertragung vom Drei- ins Zweidimensionale – ihre besonderen (perspektivischen) Gesetze hat und er ja ein Bild malen will.

Der Wandel des Lichtes erinnert den Künstler an die Zeit; es ist Abend geworden. Ulrich Studer ist zufrieden. Er packt seine Sachen zusammen und steigt ab; gegen 20 Uhr ist er zuhause.

Das Resultat seiner Arbeit kann er erst in seinem von Oberlicht erhellten Atelier im solothurnischen Rüttenen abschätzen. Dann, wenn er die beiden Vliese übereinander und diese vor einen kompakten, weissen Untergrund gehängt hat. Da entscheidet er, wo er mit Kleister die Ober- und die Untertöne verbinden, wo er sie frei fllottieren lassen will.

Nicht immer bringt er zwei Schichten von einer Wanderung mit nach Hause, manchmal genügt eine, weil ihm die Oberfläche alles an diesem Tag Notwendige zeigt. Es braucht auch nicht immer Farbe, zuweilen genügen helle und dunkle Töne, je nach Ort und Zeit und Empfinden.

Die Arbeit im Atelier prüft schonungslos, ob die Vorstellung, das was er im Moment spürte und einbringen wollte, sich mit dem Erreichten deckt. Die Antwort ist nicht nur ja oder nein – sie kann auch heissen, hier ist es gut und dort nicht. Ist dies der Fall, nimmt er die Schere und schneidet jene Partie aus, die zu ihm spricht. Er wird das Teil-Vlies später auf eine grundierte Leinwand aufziehen und so verselbständigen.

Das Pragmatische ist dabei nur die eine Seite. Es vollzieht sich in der Wahrnehmung der kleinen und der grossen Arbeiten nämlich Eigenartiges – Sie können es selbst nachprüfen, indem sie die grossen und die kleineren Arbeiten vergleichen.

Für die grossen Arbeiten gilt, dass Ulrich Studers Arbeitsweise massgeblich davon bestimmt ist, in direktem, unmittelbarem Kontakt mit dem Motiv zu stehen. Anders als dem traditionellen Landschaftsmaler reicht ihm das Schauen nicht, er will gleichzeitig berühren, das Vlies mit den Händen an den Stein drücken. Er will das 1:1.

Die kleineren Bilder, meist 50 x 70 Zentimeter,  entstehen – wir haben es gehört –  auf exakt dieselbe Art und Weise, sind also auch 1:1, doch die Wahrnehmung ist eine andere. Unser Auge, durch die ständige Bildveränderung von nah und fern, aber auch durch die mediale Bildvermittlung, ist so gewohnt, Massstäbe zu verändern, dass wir beim Kleinformat unwillkürlich auf etwas Grösseres, Übersichtsmässiges schliessen: ein Berghang, eine Geröllhalde zum Beispiel oder gar ein Alpenmassiv, vielleicht auch ein nebelverhangenes Tal. Wir lassen uns also täuschen.

Doch dass das Kleine Grosses vorgaukelt heisst  auch, dass sich im Kleinen dasselbe formt wie im Grossen; so ist die Täuschung verunsichernd und faszinierend in einem.

Diese uns heute allüberall begegnenden Verschiebungen und Täuschungen sind nicht das zentrale Motiv in Ulrich Studers Kunstschaffen, aber indirekt vielleicht dennoch Antriebsmotor für das konsequente Paradigma des 1:1, das den Menschen – den Körper, die Sinne und das daraus mögliche Denken – als das Gegebene, das einzig Objektive annimmt und von da aus sein künstlerisches Tun bestimmt.

Davon ausgehend ergeben sich, gleichsam organisch, die Verbindungen von der Malerei zu den Lichtinstallationen in der Verena-Schlucht, am Bielersee, am Schiahorn.  Ist die Malerei Aus- und Abdruck der Auseinandersetzung zwischen Künstler und Natur, dem eigenen Sein in der Welt, sind die Licht-Installationen Plattformen einer analogen Ausseinandersetzung auf der Ebene der Gesellschaft, des Menschen in der Welt quasi.

Ulrich Studer betont in Interviews immer wieder, wie wichtig es ihm sei, seine Installationen an Orten zu realisieren, die zugleich von der Natur wie vom Menschen  geprägt sind. Es geht also nicht einfach um eine Ausweitung des Raumes, nicht einfach um Grösse. Die nächtlichen Lichtlinien zeigen vielmehr das 1:1 der Wechselwirkung von Mensch und Landschaft – seien es durch die Erstellung von Rebmauern oder Lawinenverbauungen. So betrachtet ist die Malerei das Individuelle, das Ich vis-à-vis der Natur, die Installationen in der Landschaft hingegen das Kollektive, das entsprechend eine Vielzahl von Menschen erfordert, um als Abdruck sichtbar zu werden. Und zwar nicht in einer Interpretation des Künstlers, sondern sich selbst zeigend – genauso wie der Fels und die Steine im Bild.

 

Man hat Ulrich Studers Installationen immer wieder mit Aktionen von Christo&Jeanne Claude verglichen, insbesondere der ersten wirklich grossen Intervention in Australien, 1969, als das Paar ein Felsenriff entlang der Little Bay temporär verhüllte und damit – so Christo – als „Malerei“ sichtbar machte. Die Assoziation ist sicher nicht falsch, Christo & Jeanne Claude sowie die amerikanische Land Art ganz allgemein haben Dimensionen aufgezeigt, die es zuvor in der Kunst nicht gab. Aber die Spur des Menschen als Mass, das 1:1 von Körper, Kraft und Sein, das Ulrich Studer so wichtig ist, ob in den Vliesen oder den Installationen, das gibt es bei Christo&Jeanne-Claude nicht in dieser Form. Das bringt erst die Nach-68er-Generation in die Kunst ein, insbesondere in den 1970er-Jahren, als die Fragilität der Natur, die Wechselwirkungen von Mensch und Natur, zu einem wichtigen Thema werden, sei es umweltkritisch, sei es in Form individueller Forschungen oder als Suche nach Spuren von Gemeinsamkeit.  Ulrich Studers Schaffen ist eine Fortsetzung dieser Ansätze.

Fragt man Ulrich Studer nach Künstlern, zu denen er eine besonders tiefe Beziehung habe, so nennt er allerdings keine Namen des 20.  sondern vorab des 18. Jahrhunderts und hier insbesondere Caspar Wolf, der um 1775 im Auftrag Albrecht von Hallers als einer der ersten die Alpen bestieg und vor Ort malte.  „Mich fasziniert wie sich Wolf oft als kleine Figur selbst ins Bild stellt, wie er in der „Bärenhöhle“ – einem der einzigen Solothurner Bilder – auf einem Felsen stehend aus der Höhle hinaus schaut während das Motiv den Blick in die Höhle hinein zeigt. Dieser Wechselwirkung fühle ich mich sehr verbunden.“

Eindruck und Ausdruck – ja das trifft sich in den Bildern von Ulrich Studer. Aber da ist noch mehr. Caspar Wolf malte – wenn auch gegenüber der Geistesgeschichte etwas verspätet – an einer Bruchstelle. Alte mystische Vorstellungen gegenüber den Mächten der Natur – die Alpen bestieg man ja nicht früher –  und forschender, naturwissenschaftlicher Neugierde begegnen sich in seinen Werken. Die Aufklärung übernimmt in der Folge das Szepter, der Mensch macht sich die Natur zum Untertan. Die Wehmut über den Verlust versiegt aber nie und erhält angesichts ökologischer Bedrohungen seit längerem neue Nahrung.

Ulrich Studer ist indes keiner, der Räder einfach zurückdrehen will, und doch hat die Liebe zum himmlischen Licht in der romantischen Malerei und das Kerzenlicht, das unsere Welt in nächtlichem Widerschein sichtbar macht, etwas miteinander zu tun. Ulrich Studers Vorgehen ist aber sehr viel körperhafter, sehr viel menschbezogener. Der Parameter des 1:1 ist Ausdruck davon. Das Konzept hat seine Wurzeln indes nicht nur da, sondern nährt sich auch ganz aus dem Heute.

Wir leben in einer Zeit, die uns die Materie mehr und mehr entfremdet. Wir wissen wie die Dinge aussehen – Bilder gibt es zu Hauf – aber wir wissen nicht mehr, wie sie sich anfühlen. Der Tastsinn hat an Bedeutung verloren. Wir verwandeln die Bilder von einem Medium ins andere, von einem Massstab in den anderen und kümmern uns nicht mehr um die „Realität“, weil es – so macht man uns weis – eine solche eh nicht gebe; alles sei relativ. Da ist ein Bruch in unserem Weltbild, der nur vergleich-bar ist mit jenem, den Caspar Wolf in seinen Bildern ausdrückte.

Ulrich Studers Paradigma des 1:1 ist auch darauf eine Antwort, denn was bleibt uns in einer virtuell immer vernetzteren, aber je länger je weniger greifbaren Welt als die Rückbesinnung auf die eigenen Gegebenheiten, auf das Ich und die Welt in der Zeit.

Ulrich Studers Schaffen hat so betrachtet doppelte Bedeutung. Es kann ebenso zeitgenössisch wie rückgekoppelt an 18. Jahrhundert interpretiert werden. Die eine Sicht ist nicht die andere, aber beide sind in uns. Und das ist spannend.

Weiter denkend scheint es nun auch  nicht Zufall, dass der Berg, der Fels, der Stein für ihn eine zentrale Bedeutung hat, denn keine andere Materie steht in grösserem Kontrast zur Geschwindigkeit des Wandels und zu den allgegenwärtigen Auflösungstendenzen unserer Zeit.

Wenn Ulrich Studer im Tessin, im Jura, im Bündnerland in unwegsamem, steinigem Gelände malt, so nicht um trotzig das Eine wider das Andere auszuspielen. Sondern vielmehr, um in einer ihm, zumindest im Tessin, seit Kindsbeinen vertrauten Umgebung eine Welt zu porträtieren, die das Verdichtete und das Fliessende in einem Zeithorizont in sich trägt, der den Menschen vieltausendfach birgt. Allerdings ohne je Zweifel darüber aufkommen zu lassen, dass auch der Fels brechen kann und für den Menschen immer auch Gefahr bedeutet.

Dementsprechend ist die Malerei Ulrich Studers kein Spiegelbild materieller Beständigkeit, im Gegenteil. Da gibt es keine Ölfarbe, die auf der Leinwand zum Relief wird. Da gibt es nur federleichte Vliese mit wasserver-dünnter Farbe darauf. Der Pinsel nimmt die Form zwar vom  Untergrund – Ulrich Studer spricht zuweilen von seinen Bildern als Monotypien – aber dennoch entsprechen die Berührungen eher einem Horchen;  auf das Lebendige im Innen und im Aussen, heute und gestern, von der Gegenwart bis zurück in Urzeiten. Das Malen ist des Künstlers Versuch das Vis-à-Vis mit allem, was der Mensch fähig ist wahrzunehmen, in Austausch zu bringen. Vielleicht – extrem formuliert – ist sie eine Art Beweisführung, dass all das, was uns digitale Welten als Revolution verkaufen, in seiner Essenz in der Natur schon immer enthalten war und ist, wenn auch nur noch abseits der Heerstrassen, im 1:1 mit Körper und Selbst, als Zusammenspiel von Bass- und Obertönen erahnbar.