Francesca Gabbiani im Centre PasquArt in Biel. 2005

Szenerien für die Fantasie

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 29. März 2005

Francesca Gabbiani (40) liebt und fürchtet Horrorfilme. Darum wandelt sie die Filmsets in Szenerien für die eigene Fantasie. Mit Schere und Papier. Im Centre PasquArt sind Werke der US-Schweizerin zu sehen.

Pier Paolo Pasolinis letzter Film „Die 120 Tage von Sodom“, der Marquis de Sades Fanatasien ins faschistische Italien transponiert, ist wegen seinen gewalttätigen Sexualszenen in vielen Ländern zensuriert worden. Der 1975 gedrehte Horrorfilm ist Vorlage für die grossformatige Serie von „Colored paper“ (kombiniert mit Gouache und Acryl), die Francesca Gabbiani für die Salle Poma im Centre PasquArt in Biel geschaffen hat. Nichts in den Bildern mit so schönen Titeln wie „Wonderland“ erzählt direkt von Pasolinis Film. Gabbiania hat – genauso wie in anderen Werkgruppen – die Schauspieler eliminiert und sich ganz auf die Räume, die Architektur konzentriert, in welcher Pasolini Sades Geschichte spielen lässt. Sie macht das nicht etwa mit Photoshop, sondern in aufwändiger Handarbeit. „Ich war schon immer eine ‚travailleuse'“, sagt die seit zehn Jahren in Los Angeles lebende Genferin. Sie nimmt ob ihrer räumlichen Bildhaftigkeit gewählte Filmstills, druckt sie aus, vergrössert sie und zerlegt sie in popartig reduzierte Einzel-Formen. Diese werden nun als monochrome Buntpapiere ausgeschnitten und als Collage auf einen, eventuell mit Farbe respektive Air Brush vorbereiten Papiergrund geklebt.

Mit dieser formalen, inhaltlichen und medialen Vorgehensweise legt die Künstlerin eine erstaunlich komplexe Struktur an. Denn die einfachste Gleichung, jene der Aneignung und Reproduktion eines bestehenden Bildes, trifft längst nicht alles. Klar, da ist die Atmosphäre der von Pasolini oder, in anderen Sets, von Dario Argento, Stanley Kubrick und anderen mit Regisseur-Absichten angelegten Räume, die Gabbiani übernimmt. Oder macht sie am Ende die Raumklänge durch Vereinzelung, Perspektivenwechsel, Ausschnitt- und Farbwahl überhaupt erst sichtbar? Auf alle Fälle interpretiert sie, genau so wie Pasolini Sade auslegte und Kubrick in „Shining“ – einer weiteren wichtigen Werkserie – den gleichnamigen Roman von Stephen King.

Wer in der Salle Poma steht, die Arbeiten betrachtet und die Titel liest, wird nicht auf die Herkunft der Bilder aufmerksam gemacht. Erst wer den Saaltext liest, weiss mehr, erinnert sich nun vielleicht sogar an die Filme. Das kann spannend sein, ist aber nicht notwendig, denn Gabbiani geht es nicht um Illustration – sie liebt und fürchtet die Filme ja, wie sie sagt – sondern um Bühnen für die Fantasie. Fantasie ist etwas Faszinierendes, sie kommt indes nicht aus dem Nichts, sondern schafft Bilder aus dem in unserem Hirn gespeicherten Fundus an Erlebnissen. Mit anderen Worten: Gabbiani nimmt die Emotionalität und die Geschichte der Filmhintergründe, um damit den Boden für neue „Filme“ zu schaffen.

Würde sie dies nur mit den Mitteln des Filmes oder der Fotografie machen, die Werke blieben oberflächlich. Gabbiani arbeitet aber einer Technik, die – wie sie selbst sagt – ganz bewusst auf ihre Kindheit zurückgreift, als sie, unbelastet von Erwachsenenwissen, mit farbigen Papieren bastelte. Und indem sie aufwändig jede Form zuerst herausfiltert und dann wieder aufklebt, macht sie den Wandlungsprozess nicht nur im Kopf, also virtuell, sondern sie durchläuft ihn mit Faktoren wie Zeit, Handwerk, Geschick und integriert die Transformation in ihre eigene Persönlichkeit.

Es wundert nicht, zu hören, dass Gabbiani nicht nur visuell arbeitet, sondern zu jedem Bild auch Notizen macht, die sie freilich (bisher) unter Verschluss hält. „Um zu verstehen“, sagt sie; besser wäre vielleicht, um das Potenzial zu testen. In dem bei „Gassmann“ gedruckten Katalog zur Bieler Ausstellung zeigt die US-Schriftstellerin Amy Gerstler, auf, was möglich ist. In „Wonderland“ (siehe Abbildung) zum Beispiel projiziert sie Kafka, der sehr von den riesigen orangen Chrysanthemen angetan gewesen sei, die im Foyer blühten und gewunden wie ein Gehirn in ihrer gedrungenen chinesischen Vase nickten. Als weiteren Partner neben Literatur, Film und Architektur holt sich Gabbiani auch die Musik ins Bild, wählt sie doch die Bildtitel häufig nach der Atmosphäre spezifischer, amerikanischen Folksongs.

Es ist erstaunlich: Als Francesca Gabbiani in den 1990er-Jahren von Genf respektive Amsterdam aus dreimal hintereinander mit Eidgenössischen Preisen für freie Kunst bedacht wurde, war ihr Schaffen gänzlich ungegenständlich. Das Flair fürs Schneiden und Schichten war zwar schon da, aber noch keine Bilder. Erst nach dem Studium in Los Angeles (1995-1997), als sie in fremder Umgebung gänzlich auf sich selbst gestellt war, fand sie Wege, ihren alten Wunsch, Filme in Atmosphäre zu wandeln, auch wirklich umzusetzen. Und hat damit Erfolg. Es gelang ihr – nicht als Geschenk! – bei Galerien in Los Angeles ebenso wie in New York Aufmerksamkeit zu finden.

Dazu trägt zweifellos bei, dass Gabbianis Arbeiten den Zeitgeist treffen. Sie nehmen Bezug auf Vorhandenes, somit Bekanntes, sie sind ästhetisch und zugleich mehr, sie reiten auf der Aktualität des Films für die Kunst und sie wagen, was neuerdings da und dort aufblitzt, eine partielle Rückkehr zum lange Zeit verfemten Kunsthandwerk.