Sie schockiert und trifft den Nerv

Kunsthalle Zürich: Sarah Lucas im Überblick. Bieler Tagblatt 05. April 2005

Sie ist eines der „Enfants terrible“ der jüngeren britischen Kunst. Die Kunsthalle Zürich zeigt die erste Übersichtsschau von Sarah Lucas (43).

Die britische Arbeiterklasse hatte schon immer eine eigene Identität – vulgär, roh, nicht selten gewalttätig. Um 1984 tauchen Junge aus diesem Milieu an der Brutstätte von Young British Art, am Goldsmith-College in London auf. Unter ihnen Tracey Emin und Sarah Lucas. Sie sollten jegliche Hierarchie fallen lassen und sagen, was zu sagen sei, war die Devise von Direktor Michael Craig.

Sarah Lucas liess sich das nicht zweimal sagen: Als „Bad Girl“ nahm sie die Codes der Männer aus der Gewalt- , Sex- und Alkohol-Szene, brach sie auf und wandelte deren zotige Frauen-Bilder in lustvoll-böse Attacken. Sie nahm die Anheiz-Bilder der „Yellow Press“ und collagierte sie zu Peep-Shows. Sie fotografierte sich (nie nackt!) mit verruchtem Blick und in einschlägigen Posen mit Bananen, Spiegeleiern, Zigaretten.

Den Männern band sie Milchflaschen um und krümmte ihre Gurken. Sie verwandelte Möbelstücke in Frauenkörper – ein Tisch, ein T-Shirt, zwei Melonen in Brustsäcken und eine Makrele als Vagina-Form oder eine Matratze mit zwei fetten Schinken, bekleidet mit einer verdreckten Unterhose. Widerlich! Aber den Männern aus dem Milieu mit dem Blick der Frau prägnant und präzis ihre schmutzig-geile Fantasie vor die Füsse werfend; ungeschminkt, roh, vulgär. Und gerade darum scharf.

Sarah Lucas wurde im Kontext der von den Gebrüdern Saatchi gepushten „Young British Art“ in den 1990er-Jahren zum Star. „Sensation“ war das Schlagwort des letzte Tabus brechenden Trends. Jetzt, da das Gold an der Saatchi-Collection abgeblättert ist, stellt sich die Gretchen-Frage. Was hält und was hält nicht. Die erstaunlicherweise erste Übersichtsschau zum Werk von Sarah Lucas, die nun in der Kunsthalle Zürich gezeigt wird (und dann nach Hamburg und Liverpool weiter reist), macht die Probe aufs Exempel.

Und siehe da: Die Werke halten. Sie sind immer noch „disgusting“. Aber ihr präziser Minimalismus – ein etwas älterer Trend des Goldsmith-College – lässt sie nicht in die Falle des Anekdotischen treten und der Witz, der sich in den Titeln und der Gestaltung spiegelt, entwaffnet jegliche moralisierende Blicke. Obwohl es dann und wann hart her und zugeht: Auf dem Eisendraht-Bett mit dem mit Strängen gefesselten gerupften Huhn etwa. Doch da ist auch das „old couple“ – zwei Holzstühle, gemütlich zueinander gestellt, einer mit Kunststoffpenis, der andere mit einem Gebiss, geöffnet als wär’s eine Scheide.

Häufig arbeitet Lucas mit Zigaretten, die sie zu Brustknäueln formt respektive klebt oder einem ultra-kitschigen kopulierenden Paar in edlem Holz (einem antiquarischen Fundstück) als Sockel dekadenter Lust unterstellt. Markenzeichen sind auch Damenstrümpfe, die sie mit Kapok füllt und, oft auf Stühle drapiert, zu typischen Sarah-Lucas-Figuren modelliert; kopflosen wohlverstanden. Der Körper als sexuelles Nutzobjekt steht im Vordergrund.

Sarah Lucas ist nicht einfach eine verspätete Feministin. Sie ist vielmehr eine Objekt-Künstlerin, die real Existierendes aus ihrem Umfeld mit seinen eigenen Mitteln entlarvt; in den Bettszenen zuweilen geradzu als Pop-Stilleben und in den Figuren skulptural. Und immer die Gesellschaft, der sie selber entstammt, im Auge. Nicht zufällig beginnt die Ausstellung im Foyer mit einer grossformatige Fotografie, die eine Figur mit nacktem Hinterteil zeigt und einem verwaschenen weissen T-Shirt mit der Aufschrift: „You get, what you see“. Daneben eine Toilettenschüssel und ein Pissoir ummantelt mit englischen Frotté-Whisky-Reklamen.