Bieler Fototage Rückkehr der Physiognomie 2006

Zeigt das Gesicht das Bild der Seele?

www.annelisezwez.ch   Annelise Zwez in Bieler Tagblatt September 2006

29 Projekte mit 59 beteiligten Fotografinnen und Fotografen fokussieren an den 10. Bieler Fototagen «Die Rückkehr der Physiognomie»; vielfältig, überraschend, überzeugend.

«Die Rückkehr der Physiognomie», was meint die Bieler Fototage-Direktorin Barbara Zürcher damit? Im kurzen Konzept-Papier skizziert sie die Verunsicherung des Menschen angesichts omnipräsenter Forderungen nach Effizienz, Schönheit, Perfektion. Und ortet im Schaffen fotografisch tätiger Künstlerinnen und Künstler das Bedürfnis, als Antwort darauf Identität neu zu formulieren. Sei es die eigene oder jene von Menschen oder Menschengruppen, die sie mit der Kamera begleiten.

«Die Rückkehr der Physiognomie» heisst somit nichts anders als die Spiegelung möglicher Identitäten, seien sie aufmüpfig, extravertiert, farbig oder äusserst fragil, seien sie romantisch, träumerisch, mutig oder fragend, kollektiv oder einsam in sich zurückgenommen.

Wie schon in den vergangenen Jahren gelingt es Barbara Zürcher auch diesmal, das Thema mit dem Weitwinkel zu betrachten, aus der Mitte ebenso wie von den Rändern her anzugehen und damit der Gefahr einer Aneinanderreihung von Ähnlichem bravourös zu entgehen. In fundierter Recherche hat sie viele junge, aber auch ältere, bekannte und – mehr noch – unbekanntere Fotografinnen und Fotografen ausfindig gemacht, die an «ihrem» Thema arbeiten. Etwa die in Zürich lebende Französin Caroline Minjolle (geb. 1964), die sich seit ihrer Schwangerschaft vor 10 Jahren alljährlich einmal mit ihren Buben zum Fotoshooting trifft und sie dabei in identischer Bildkonzeption, aber immer neuer Aufmachung porträtiert (Museum Neuhaus). Oder – gänzlich anders – der Bieler Enrique Muñoz Garcia (geb. 1969 in Chile), der den drogenabhängigen «Claude» während seiner täglichen Körperreinigungs-Rituale filmisch und fotografisch begleitete und damit ein «Gesicht» seines Körpers zeichnete (Photoforum).

Von den 59 beteiligten Fotoschaffenden thematisieren 30 die inhaltsreiche Thematik der Veranstaltung. Die anderen 29 sind Teil der Ausstellung «Photosuisse» in den Galerieräumen des CentrePasquArt. Pro Helvetia zeigt hier, quasi als Geschenk ans 10-Jahr-Jubiläum der Fototage, die aufwändige, auf einer Porträtreihe des Schweizer Fernsehens und einem Buch in der Edition Lars Müller basierende Übersicht aktuellen Schweizer Fotoschaffens. In gültig repräsentierten Werkgruppen sind hier bekannte Namen wie Balthasar Burkhard, Hans Danuser, Annelies Strbà, Gérald Minkoff/ Muriel Olesen, Katrin Freisager, Manuel Bauer, Olaf Breuning, Christian Vogt und andere mehr vertreten.

Interessant und informativ ist die enorme Differenz zwischen Photosuisse und Fototagen. Während bei Photosuisse ganz primär die formale Erscheinung der Fotografie im Zentrum steht und die Thematik oft ins zweite Glied zurückdrängt, ist es bei den Werkgruppen der Fototage gerade umgekehrt. Barbara Zürcher sucht nicht nach technischer oder formaler Rafinesse, sondern nach Projekten, in denen sich Bild und Inhalt, Konzept und Visualisierung eng verschränken. Im Vordergrund stehen bei den Fototagen demzufolge Bildreportagen im weitesten und besten Sinn des Wortes.

So findet man auf dem Spaziergang zu den 13 Ausstellungsorten von der Rotonde via Museumsquartier in die Altstadt auch Projekte, die bildnerisch nicht unbedingt ausserordentlich sind, einem aber verschränkt mit der visualisierten Geschichte in den Bann ziehen. Zum Beispiel die «Lansoldaten» von Tobias R. Dürring (geb. 1969) in der Alten Krone. Der Basler fotografierte mit PC-Hardware vollbepackte Jugendliche kurz vor dem Heimweg nach einer LAN-Party, das heisst nach 48 Stunden «videogamen» in einer von der Aussenwelt abgeschotteten Halle. Ihre Fastfood-Figuren, verbunden mit Blicken wie von einem fremden Stern, sprechen Bände.

Dem von Barbara Zürcher betonten Festival-Charakter der Fototage entsprechend, findet man zu jedem Beispiel auch das Gegenstück. Als Kontrast zu den Lansoldaten kann man zum Beispiel die Körperstudien der in Genf studierenden Waadtländerin Danaé Panchaud (geb. 1983) nennen. Ganz auf die Kraft des Bildes setzend, zeigt sie unter dem Titel «Still» eine Fotoreihe von ungemein plastisch herausgearbeiteten jungen Menschen, die weit ab von städtischer Hektik mit ihrem eigenen Inneren im Gespräch zu sein scheinen (Alte Krone, Dachstock).
Physiognomie, Identität erscheint, dem Konzept Zürchers folgend, sowohl bejahend wie hinterfragend wie auch kritisch das «Posthumane» zitierend. Für letzteres steht zum Beispiel das Projekt «Meine beste Freundin» von Judith Stadler (geb. 1969), das in Dyptichen je zwei junge Mädchen in trautem Miteinander zeigt. Erst auf den zweiten (oder dritten) Blick erkennt man (vielleicht), dass die Fotos zwei Körper, aber denselben Kopf zeigen.

Hintergründig ist, dass eines der lebensbejahendsten Projekte aus Südafrika stammt. Lolo Veloko (geb. 1977 ) zeigt junge Menschen in Johannesburg, die mit farbigem, weitgehend internationalem Outfit Clichébilder Afrikas bewusst kontrastieren und Aufbruch und Lebenslust signalisieren (Museum Schwab).

Hinterfragend gibt sich hingegen das betont konzeptuelle Projekt der letztes Jahr als Gastkünstlerin in Biel wohnhaft gewesenen Amerikanerin Susan E. Evans. Die zum Teil stigmatisierende Bedeutung der Hautfarbe in den USA aufnehmend, zeigt sie quadratische «Porträts» reduziert auf eine genormte Farbe zwischen beige, gelblich, orangefarben, rötlich, bräunlich,dunkelbraun und dem «nackten» Namen im Zentrum.

Gewiss, das Gesicht, der Körper dominiert in der Ausstellung. Aber da gibt es auch Beispiele, in denen Mensch und Landschaft zur zeitlosen Physignomie verschmelzen, zum «Spiegel in der Sonne» werden, wie die Bielerin Jeanne Chevalier (geb. 1944) ihr Projekt und ihr neues Buch nennt (Edition Clandestin). In dem im Museum Neuhaus als Foto-Video mit Musik gezeigten Beitrag porträtiert sie ihre Wahlheimat Almeria (Spanien) in Wechselwirkung mit ihr nahestehenden Menschen.

Bereits ist es Tradition, dass die Fototage auch die Bieler Bevölkerung miteinbeziehen. Heuer unter anderem mit Fotoautomaten-Bildern (Alte Krone) und einer Sammelstelle für Panini-Bildchen (Alte Krone/Espace libre).