Retrospektive Gian Pedretti im Museum des CentrePasquArt in Biel

Am Tag als die Hirschkuh starb

www.annelisezwez. ch     Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 2. Juni  2007

Im Museum PasquArt sind zwei diametral verschiedene Ausstellungen zu sehen: Die Retrospektive Gian Pedretti und die Sammlung Ernesto Esposito.

Gerade weil man die beiden Ausstellungen fast nicht gemeinsam aushält, zeigen sie die enorme Spannweite, welche die Kunst in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat. Die Malerei des 81-jährigen Gian Pedretti wurzelt im Existentialismus und ruft in der Betrachtung nach individueller Vertiefung, nach Einsamkeit im Gespräch mit dem Bild. Die internationale Sammlung junger zeitgenössischer Kunst des Neapolitaners Ernesto Esposito (geb. 1952) hingegen fordert die Besuchenden auf, mitzutanzen im Glamour nächtlich-urbanen und sexuell aufgeladenen Stadtlebens. Mag sein, dass Begriffe wie „Trauer“ und darin auch „Sehnsucht“ die zwei Ausstellungen im Sinne von „les extrêmes se touchent“ letztlich versteckt verbinden. Hier seien sie dennoch getrennt betrachtet.

Das Ausserordentliche an der Ausstellung von Gian Pedretti ist nicht, dass sie stattfindet – die letzte, in der Salle Poma, liegt erst sechs Jahre zurück – sondern dass es, erstmals überhaupt, eine retrospektiv angelegte ist und damit für alle, auch jene, die das Werk des seit 1975 in La Neuville lebenden Malers gut kennen, Überraschungen bereit hält. Kuratorin Dolores Denaro fuhr mit dem Künstler nach Celerina, wo Gian Pedretti aufwuchs und wo das Atelierhaus, das er in den 1950er-Jahren erbaute, noch immer steht, um daselbst die frühesten Skulpturen zu sehen. Kein Wunder, dass sie darauf bestand, dass sie den an der Oberfläche expressiv bearbeiteten „Hirschkopf auf Sockel“ und die grossartige „sterbende Hirschkuh“ (beide Gips und um 1959 entstanden) für die Ausstellung in Biel haben wollte. Zuerst habe der Künstler gezögert, sagt Denaro, doch dann habe er eingewilligt – so wie Pedretti (im Gegensatz zu früher) jetzt, im Alter, den anderen Blick auf sein Werk, einen aus junger Sicht, durch die ganze Ausstellung hindurch offensichtlich zulässt, mehr noch, sich darüber zu freuen scheint.

Hirschkopf und Hirschkuh bilden zusammen mit der etwas späteren, hölzernen Version der „Biche mourante“ und drei malerischen Umsetzungen des Tier-Todes von 1977/79 so etwas wie den Schlüssel zum Werk. Schade, dass in diesen Raum weitere Bilder integriert sind, man hätte diesen Kern gerne deutlicher herausgeschält gesehen.

Innerhalb des Ensembles sind es insbesondere die Gips-Skulptur der „sterbenden Hirschkuh“ und das Bild „Carcasse – topographie“ (1977), welche die Essenz sichtbar machen. Nur ein Jäger – Pedretti fuhr bis vor kurzem jedes Jahr zur Hochwild-Jagd „nach Hause“ – kann ein geschossenes Tier im Moment des Getroffen-Seins und des Fallens so darstellen, verdreht wie man es nie glauben würde und zugleich Leben und Tod existentiell verschmelzend. Im Bild „Carcasse – topographie“ bringt der Künstler den nun malerisch umgesetzten Tod in Verbindung mit einer Berg-Landschaft; erstmals geformt aus den später oft charakteristischen, zwischen Van Gogh und Höhenkurven changierenden Pinselstreifen. Es scheint als ob dieses Bild den Weg frei gemacht hätte für die kommenden Landschaften, die von da an ebenso Träger von Leben und Licht wie von Tod sind.

Pedretti begann erst um 1966/1967 zu malen. Früher war das Malen die Domäne seines Vaters Turo Pedretti (1896-1964). So konzentrierte sich der Sohn nach der Rückkehr von Paris aufs Plastische, sowohl im künstlerischen wie im angewandten wie im architektonischen Bereich. Einige Beispiele aus Silber, Blei, Gips, Kunststoff und gepunzeltem Leder dokumentieren die frühe Vielfalt. Dass die frühesten Bilder – kleine Fragmente von welkenden Tulpen – in überraschender Verbindung mit Bildern eines welkenden Tulpenstrausses von 2006 stehen, ist wohl mehr als Zufall, weisen die fast ohne Umfeld direkt in den Bild-Raum gestellten „Tulipes“ in ihrer Melancholie von Sein und Vergehen doch auf eine Art Versöhnung. Wie anders sind da die primär in Grautönen gehaltenen Landschaften der 1980er-Jahre mit Titeln wie „Nuit“, „Glacier“ oder „Tempête“. Da spürt man förmlich wie sich Gesteinsmassen lösen, wie Wolken die Berge vereinnahmen, wie die Nacht die Formen gespenstisch verschlingt.

Doch nicht nur die nach aussen gerichtete Expression bestimmt das Werk Pedrettis, sondern ebenso die nach innen gekehrte Verzweiflung an der Unvollkommenheit der Welt. Häufig sind es in die Landschaft gestellte Selbstporträts, die im Ausdruck von Haltung und Gesicht den Blick in die Welt sichtbar machen. Ihre Zahl und die Bedeutung, welchen ihnen in der Ausstellungsinszenierung beigemessen wird, setzen einen deutlichen Akzent.

Das Werk lässt die Seelenverwandtschaft des Künstlers mit Alberto Giacometti, den Pedretti persönlich kannte, und Edvard Munch deutlich sichtbar werden, ohne aber die Eigenständigkeit des Werkes in Frage zu stellen. Im Gegenteil – es zeigt sich in der nie gezeigten Breite und Fülle so eindrücklich wie noch nie.

Bildlegende:
Gian Pedretti: Aus der Serie der welkenden Tulpen von 2006