Beatrice Gysin Buchtext für Monographie 2008

Die Versöhnung der Gegensätze

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Vorbemerkung: Weitere Autoren der Monographie: Andreas Meier, Lisa Schmuckli, Patrick Savolainen, Anna Stüssi

Ein Stück Militärmantel. Eine halbe Vorderseite und das Rückenteil. Der Ärmel fehlt. Fäden erinnern daran, dass er da wahrscheinlich einmal war. Aber jetzt ist das nicht mehr möglich, weil der Mantel mit einer Waschmaschine besetzt ist. Eine aus tausend kleinen, silberfarbenen Stichen gestickte. Aufwändig und minutiös sind Form, Licht und Schatten herausgearbeitet.

Das Stück Kunst betrachten heisst, sich einem Wirbel von Assoziationen aussetzen. Der Gegensatz von Träger und Bild ist schier unerträglich. Die Nadelstiche, die das Bild zeichnen sind förmlich spürbar, sie schmerzen. Die zwei Welten, die sich begegnen, scheinen unversöhnlich, zumindest in ihrer clichierten Zuordnung.

Der Militärmantel – immer nur Männerschnitte. Die Waschmaschine – geradezu ein Zeichen für Hausfrau. Umsomehr als weitere Stücke das Bild zementieren. Mitlitärmäntel mit Kochtopf, Staubsauger, Bügeleisen, Waschzeine, Putzkübel…. In den 1970er und -80er-Jahren haben Malerinnen die Frau am Herd mit ähnlichen Zeichen verhöhnt. Sind die Silberfäden auf Militärgrün die feministische Epoche von Béatrice Gysin? Einfach sozial- und kunstgeschichtlich etwas verspätet? Die Tatsache, dass die ingesamt 12 bestickten Stoff-Stücke aus den Jahren 1992-94 in diesem Buch den gültigen Beginn des künstlerischen Werkes markieren, leistet einer solchen Sichtweise vorschnell Vorschub.

Denn, sie stimmt nur halb. Sie hinkt,  ist aber trotzdem nicht wegzuschieben. Gerade das macht die Arbeiten indes spannend, mehr noch, herausragend.
1992, das heisst zu Beginn der Arbeiten, ist Béatrice Gysin 45 Jahre alt  und stellt bereits seit 12 Jahren im Kunstbetrieb aus, nicht mit Verve, aber stetig; unter anderem in der Galerie Simone Cogniat in Basel. Ein Katalog von 1989 zeigt eine Vielzahl von linearen, zum Teil auch pinselbetonten, unscheinbaren Zeichnungen.  Lilien- und Tulpenblüten und –blätter, da und dort ein Kelch, eine Schale, ein Teller. Keine Farbe, nur Linien, Rippen, Umrisse, seltener Licht und Schatten. Keine stolzen Blüten, keine Pracht, sondern eher Zeichen von Verletzlichkeit, von Suchen nach Nähe im fragilen Prozess von Blühen und Welken.
Die gelernte Grafikerin lebte in den 1980er-Jahren mit ihren beiden 1974 respektive 1977 geborenen Kindern in Bern und hielt sich mit  Werbeaufträgen finanziell über Wasser. Pazifistisches und ökologisches Engagement gehörte zu ihrem  Selbstverständnis. Und sie litt an der offenen Schere zwischen Realität und Vision.  „Die mit Zeichnen verbrachten Nachtstunden, brachten mir so etwas wie Trost in die zerrissene Situation“, sagt sie rückblickend.

Die bestickten Militärmäntel sind also nicht Anfang, markieren aber offensichtlich eine Zäsur im Weltbild der Künstlerin. „Es gibt eine Geschichte dazu“, sagt Béatrice Gysin, „aber sie ist so kitschig, dass ich sie eigentlich gar nicht erzählen mag“. Wenn etwas reif ist, braucht es oft nur einen Anstoss. Als solcher ist die Anekdote zu werten:  Auf dem Balkan herrscht Krieg. In Bern tritt eine junge Journalistin aus dem Kriegsgebiet auf und wettert gegen die Gewalt der Männer. Neben Gysin steht ein junger, schlaksiger, der alternativen Szene zugehöriger Mann.  Was muss in ihm vorgehen, fragt sie sich und spürt einem Blitz gleich, dass „schwarz-weiss“ nicht die Zukunft sein kann.

Das hiess  – und da ist Béatrice Gysin nun ganz Frau der 1990er-Jahre – dass es gilt, das Weibliche und das Männliche zu versöhnen, dass sie gewissermassen ihre  Mutter wieder zurückholen musste. Und darum beginnt sie zu sticken. Fast gleichzeitig wie auch Louise Bourgeois ihre Stick-Bücher schafft und mit Nadel und Faden schreibt: „Pourquoi j’ai oublié ça“.

Mit Vorstichen umstickt sie die Form der traditionell der Frau zugeordneten Motive und füllt sie anschliessend in mehreren Schichten  mit  winzigen, in alle Richtungen zeigenden Einzelstichen. Der Silberfaden gibt den Gegenständen materielle Substanz, ist aber auch ein Lichtträger, um so mehr als die „Zeichnungen“ geradezu atmosphärisch in Licht- und Schattenzonen unterteilt sind. Da und dort  geht das Licht gar als Widerschein über die Gegenstandsformen hinaus.

Vor diesem Hintergrund erhellt sich, warum Béatrice Gysin die Mantel-Stücke gewissermassen als Fundament dieser Publikation zeigt. Für sie bedeutet die auch als gedruckte Edition1 erschienene Werkgruppe eine Art Aufbruch, auch wenn sie den Titel „Miserere – eine Trauerarbeit“ trägt.  Es wird jetzt auch klar, warum die Militärmäntel nicht  aggressiv zerschnitten, sondern liebevoll in ihre Teile aufgelöst sind. Und es wird auch klar, dass der Textil- und Metallkomponenten vereinende Faden nicht nur den schönen Schein meint, sondern ebenso den Schmerz jedes einzelnen Stiches mit der spitzen Nadel, von vorne nach hinten und von hinten nach vorne. Vernäht sollen sie sein, die beiden Welten.

Da ist noch eine weitere Dimension. Im Begleittext zur erwähnten Edition greift Béatrice Gysin einen Begriff von Hans Saner auf: Widerstandsmüdigkeit. Sterbens-müde sei sie vom Leiden an der Verwilderung der Welt, schreibt sie und erzählt von der Entdeckung mittelalterlicher, textiler Grabbeigaben, die sie gleichsam als Kon-zentration von Liebe und Trauer erlebt habe. Das hätte ihr  – in einer anderen, indes parallelen Lesart zu oben Beschriebenem – wider allen Zeitgeist den Mut gegeben, fortan nicht mehr zu zeichnen, sondern zu sticken.

 „Mit der Zeit“, so Béatrice Gysin, „wurde dieses tägliche Ritual des sehr langsamen Voranschreitens meiner Arbeit zu meinem inneren Widerstand gegen die lähmende Müdigkeit.“ Man denke hierbei mit, dass Militärstoff eine so kompakte Materialität hat, dass ein- und ausstechen in einem Arbeitsgang, wie das bei dünnem Stoff als Aufwandersparnis angewandt wird, kaum möglich ist. Jedes einzelne Stechen ist ein Arbeitsschritt für sich.

In den letzten Jahren sind in der jungen Kunstszene vermehrt textile und insbeson-dere gestickte Arbeiten aufgetaucht. Als Beispiele seien die mit Nadel und Faden „gezeichneten“ Stoffarbeiten von Loredana Sperini und Liliana Gassiot erwähnt.  Anders als bei der Generation von Béatrice Gysin geht es da nicht mehr  um die Rückbindung an respektive die Abnabelung von genderspezifischer Rollenzu-ordnung, sondern um eine aus verändertem Selbstbewusstsein heraus lancierte  Wiedereroberung einer gestalterischen Technik. Die in den 1990er-Jahren ent-standenen „Silberfäden auf Feldgrau“ von Béatrice Gysin oder auch die mit Mord-geschichten bestickten Kissen von Maya Rikli (1995) sind in diesem Kontext wichtige Bindeglieder, die das Einst  und das Heute kritisch thematisieren.

Für Béatrice Gysin war nach den 12 „Miserere“-Arbeiten ein Prozess abgeschlossen.  Es entstehen zwar noch bis 2000 die eine oder andere gestickte Arbeit, zum Beispiel ein nachtblaues Kissen mit farbigen Revolverzeichen, doch es ist als wäre das innere Bedürfnis nicht mehr da. Die Künstlerin, die inzwischen Lehrerin an der Schule für Gestaltung in Bern, später in Biel ist, kehrt zurück zur Zeichnung. Sie löst sich mehr und mehr vom Gegenständlichen und entwickelt in der Folge ihr heutiges, vielteiliges und multimaterielles Werk, das von der Misere-Gruppe das Moment der Verbindung mehrerer Wirklichkeitsebenen mitnimmt  und auch die äussere Erscheinung des Stickens als Verdichtung einzelner kleiner „Striche“ nie aus den Augen verliert.
                               

1 Die Edition erschien 1994 anlässlich der erst- und einmaligen Präsentation der  „Miserere“-Werkgruppe in der Galerie Simone Coginat in Basel. Die Sonderausgabe umfasst zusätzlich ein Multiple, bestehend aus einem Stück Militärmantel mit Schweizerkreuz-Knopf und besticktem Feld.

Verlag: Nimbus. Kunst und Bücher (Bernhard Echte)