Muriel Decaillet Espace libre Centre PasquArt 2009

Im Sog der Sturmwinde

www.annelisezwez.ch         Annelise Zwez in Bieler Tagblatt, 3. Februar 2009

Endlich ist wieder einmal eine Romande zu Gast im Espace libre  des Centre Pasquart. Muriel Decaillet (geb. 1976) aus Genf zeigt eine emotional berührende und sehr persönliche Installation.

Muriel Decaillet schloss 2003 ihr Studium, das sie 1996 an der Haute Ecole des Arts appliqués in Genf begonnen hatte, mit einem Nachdiplom in Kunsttheorie, Kuratoren-schaft und Cybermedia ab. Doch bereits seit 1999 tritt sie als Künstlerin im Bereich „Installation“ auf. Der rote Faden durch die oft erzählerischen Raum-Inszenierungen ist dabei tatsächlich ein roter Faden. Decaillet kommt  von der Mode her. Von Anfang an ist ihr das Kleid indes  körperliche Wesenheit und der rote Faden eine Art Nabelschnur.

Just als im Museum Pasquart  Chiharu Shiota ausstellt – man erinnere sich der mit schwarzen Fäden eingesponnenen Salle Poma – bewirbt sich Decaillet um einen Auftritt im espace libre. Die Qualität des Dossiers überzeugt das Leitungstrio, doch sagt ihr Lekou Meyr aus aktuellem Anlass, die Distanz zu Shiota müsse gewahrt sein. Obwohl ihre  Vision schon immer eine andere war, erschrickt die junge Künstlerin.
Doch sie packt den Stier bei den Hörnern, macht den en passant geäusserten Vorbehalt gleich zum Thema. Wobei zu sagen ist, dass die Künstlerin solche Herausforderungen liebt und alle ihre Installationen in philosophische Kontexte stellt.

Das Thema des Geborenwerdens oder auch des Todes als Geburt kehren dabei mehrfach wieder. So auch in der für Biel entwickelten Installation „NeverEnding“. „Never
Ending“ spielt nicht abstrakt auf Michael Endes „Unendliche Geschichte“ an, sondern nimmt direkt ein Still aus Petersens Ende-Verfil-
mung als Bild fürs Plakat und – mehr noch – als Ausgangspunkt für die Installation. In deren Zentrum steht eine an der Künstlerin Mass nehmende Figur, welche sich in einem heftigen Sturm verzweifelt an einer verzinkten Stange zu halten scheint, während alles rundherum was nicht niet- und nagelfest ist, in die Raum-Ecke gewirbelt ist;  Äste, Fäden, Plastik, Blätter u.a.m.

Man erinnere sich: In der Unendlichen Geschichte geht es darum, dass Bastian Phantasien rettet.  Muriel Decaillet vergleicht dies mit dem „Horror vacui“, der sie befiel, als sie angehalten wurde, etwas anderes zu machen. Und zeigt nun sich selbst im Sturm des „Neant“ (des Nichts), in dem es gilt, sich festzuhalten, um die eigene Kreativität, die eigene Existenz als bildschaffende Künstlerin zu retten.

Das mag ein bisschen viel Theorie sein und der Begleittext zur Ausstellung, der das Konkrete weglässt und vorab von der metaphysischen Bedeutung des Nichts spricht, akzentuiert dies noch. Französisch respektive deutsch geprägtes Denken prallen da aufeinander. Es besteht auch die Gefahr der Illustration, doch die Künstlerin entgeht ihr, indem das Bild des jungen Menschen, der sich an eine Stange klammert, um im Sturm nicht unterzugehen, auf  das Wesentliche herunter gebrochen ist und so zur Plattform für verschiedenste Interpretationen wird – gerade auch aktuelle angesichts wirtschaftlich bedrohlicher Zeiten. Zugleich gelingt Decaillet aber auch eine eindrück-liche Metapher für die Künstlerexistenz an sich, die sich im Frei-Raum von Phantasien immer neu und gültig definieren muss.

Die roten und schwarzen Fäden, die der Künstlerin in ihrem bisherigen Schaffen wichtig waren, sind im Sturm weggefegt; sie hängen wie Spinnweben an der Wand oder sie haben sich in Astwerk verheddert. Man fragt sich wohin sich die Künstlerin in Zukunft wohl bewegen wird. Wird sie das performative Moment, das die Szene auch beinhaltet, stärker gewichten oder wird das Figürliche in den Vordergrund treten? Sicher ist, dass die Assoziation der waagrecht im Raum „fliegenden“ Figur zum Performer Heinrich Lüber, der vor 10 Jahren waagrecht an einer Stange über dem alten Schuppen neben dem einstigen Pasquart schwebte, nicht Decaillets Welt sein wird. Sie wird mit Sicherheit weiterhin komplexe Spiegelbilder für persönliche und darüber hinaus weisende Befindlichkeiten schaffen, denn das ist ihre Stärke.

Info: Der Eingang zum Espace libre ist hinter dem Museum, unterhalb des Filmpodiums. Die Ausstellung dauert bis 1. März. Öffnungszeiten: Mi-Fr 14-18, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt frei. Bild: azw