Vertigo – Themenausstellung Weyerhof Nidau 2010

Die Kunst als Tatort des Schwindels

www.annelisezwez.ch  Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 8. September 2010   
           

Sind 400 m2 neuer Kunst- und Kulturraum in Nidau ein Schwindel? Nein, doch die Frage bleibt: Ist’s Schwindel, was da 18fach an Kunst gezeigt wird?

Ein Käsehändler, der seine Laibe so liebt, dass er sie nur im Keller seiner Villa gelagert wissen will? Gibt es das?  Das gab es einst, in der Weyermatt in Nidau. Später wurde der Siegenthaler-Keller Tatort eines Wein-Händlers. Und heute abend wird im Weyerhof ein Kultur-Keller eingeweiht. Mit Kunst. Kunst, die schwindelt – sei es, dass sie objekthaft auf die schwindel-erregende Vision Hegels verweist, die besagt, dass wir den Verstrickungen des Lebens nie entkommen (Ruedy Schwyn); sei es, dass ein für  die Verschiffung in den Kongo vorbereiteter Occasions-Fiat uns auf einen Entsorgungs-Schwindel aufmerksam macht (Christiane Hamacher). Oder sei es, dass ein Altar für die „Frau im Mond“  zur verwackelten, dunklen Illusion verkommt  (Urs Dickerhof).

Die drei bekannten Kunstschaffenden, alle eng verbunden mit der  Bieler Schule für Gestaltung, haben die Ausstellung initiiert. Schon einmal traten Lehrkräfte  der Schule gemeinsam auf. „Softfactor“ hiess die Ausstellung in Vinelz 2005. Lehrer sollen nicht nur unterrichten, sondern auch als Kunstschaffende Profil zeigen, war die These. Dies gilt auch für „Vertigo“, allerdings aufgefächert, denn mit dabei sind auch Ehemalige der Schule und weitere visuelle und  literarische Positionen. Fast zwei Jahre gärte das bewusst  ein komplexes Feld einkreisende Konzept. Es gehe nicht um effektvolles Zeigen, sondern – gerade auch mit der Schule im Hintergrund –  um das Sichtbarmachen von Kunst als Ort gebündelten Denkens, sagen die Veranstalter sinngemäss.

Klar macht dies bereits der Titel, der mit „Vertigo: Tatort des Schwindels“ ein Thema ins Zentrum rückt, das voller verwirrender Fährten ist. „Vertigo“ ist medizinisch der Schwindel, ein Zustand der Unschärfe, des Ungleichgewichts. Der Schwindel berührt aber auch die Lüge, ist eine unscharfe Zone zwischen richtig und falsch. Und etwas das schwindel-erregend ist, ängstigt uns. Welche Künstlerin welches Motiv verfolgt, welcher Künstler uns hinterlistig täuscht, uns etwas vorschwindelt oder auch Schwindel entlarvt, ist  – glücklicherweise – nicht immer auf den ersten Blick klar und fordert entsprechend heraus.

Beim Gang durch den grossen, mehrräumigen, für Kunst aber etwas gar niedrigen Keller hat sich zum Teil Überraschendes eingeschrieben: Zum Beispiel der lapidare Satz, den Aurélie Jossen einer von der Wand auf den Boden auslaufenden, papierenen Figur beigestellt hat: „Es ist nicht verboten, auf diese Figur zu treten“.  Manchmal braucht es so  wenig, um unsere genormten Vorstellungen auffliegen zu lassen. Oder  – nicht ganz so bauchlastig – Clemens Klopfensteins filmische „Nachtgeschichte“ aus den 70er-Jahren, die eine Zugsfahrt durch die Nacht in unnatürlich weissem, schattenlosem Licht zeigt. Ein damals neuer, lichtempfindlicher Film machte die unheimliche Atmosphäre möglich. Spätestens da muss angemerkt werden, dass „Vertigo“ auch der Titel eines Hitchcock-Films von 1958 ist!

Hinterlistig ist die Leinwand-Malerei von Marianne Oppliger; die gerne „schwindelnde“ Aktionskünstlerin verrät mit Hilfe eines „Saaltextes“ (Lucie Kolb), dass die Bedeutung ihres Bildes darin liege, dass sie einen Sehfehler habe und darum das Bild nie so gesehen habe wie die Betrachtenden es vor sich hätten. Richtig oder falsch, wichtig oder unwichtig?

Die Keramikerin Maude Schneider (St. Imier) ist nicht nur ein bewusster Akzent wider den Röschtigraben; ihre Mauer aus schwarzen „Steinen“  entpuppt sich beim Betasten auch als „Schwindel“, sind sie doch aus gemahlenem und als „Keramik“ wieder verwendetem Beton-Bauschutt; ein Material, das es nicht gibt und überdies geradezu instrumentale Qualitäten hat.

Gerade ihre Arbeit betont, dass Kunst zwar Bedeutungsträger sein muss, erst zusätzliche visuelle, haptische und gestalterische Qualitäten das Werk  aber über sich selbst hinaus wachsen lässt.

Zur Ausstellung ist eine Publikation erschienen; der Beitrag einer nicht genannt sein wollenden Stiftung machte sie (und die Ausstellung) möglich. Sie ist Ort für Bilder, aber auch für literarische Texte und „Inserate“.

Der Kunstkeller Weyerhof erfährt mit „Vertigo“ einen prominenten Auftakt. Seine Zukunft ist indes offen; Eigentümer Jean-Pierre Röthlisberger will ihn für Musik-, Theater-, Film-Anlässe, Seminare und Privatanlässe mietweise zur Verfügung stellen. Ob dafür ein Bedürfnis besteht, wird sich zeigen.

 

Info: Weyerhof, Dr. Schneider-Str. 104 (Ecke Strandweg).Finissage: 24. Sept. 18.30 h. Es lesen: Händl Klaus, Patrick Savolainen, Jonas Gruntz (Klang).  Mi,Do,Fr 17-19.30,Sa/So 11-14 Uhr.

 

Die Beteiigten

M.S. Bastian/Isabelle L., Erik Dettwiler

Urs Dickerhof, Christiane Hamacher

André Vladimir Heiz, Aurélie Jossen

Regina Kalaita, Händl Klaus

Lorenzo le kou Meyr, Clemens Klopfenstein

Anna Neurohr, Patrick Savolainen

Maude Schneider, Rita Siegfried

Ruedy Schwyn, Monika Stalder

Marianne Oppliger, Thomas Pfister      azw