www.annelisezwez.ch     Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 19. Juli 2011rtisnab

Florian Graf hat die Abbatiale de Bellelay in ein Gesamtkunstwerk verwandelt. Er hat vor Ort gebaut, gewohnt, gedacht. Und das Umfassende als Installation hinterlassen. Ein Bericht.

Das Spektakulärste an Florian Grafs umfassender Installation in der barocken Kirche von Bellelay ist ohne Zweifel die 12 Meter hohe, leicht diagonal ins Kirchenschiff gebaute Zick

-Zack-Architektur. Einer mächtigen Konstruktion gleich scheint sie die Kirche zu stützen,  wird aber durch ihre unfertigen Seitenstücke, die geheimnisvolle Türe, welche die tragende Säule zum Turm macht und last but not least durch das seltsame Fenster im Oberbau schnell zu einem raumgreifenden Bild-Zeichen, das real und in der Vorstellung Gebautes verschmilzt.

 

Der 31-jährige Basler Künstler mit breiter Ausbildung in Architektur und Kunst lässt es indes nicht dabei bewenden. Schon an der Klingel setzt er an; „well, come“ steht da und das grün-leuchtende Notausgangszeichen in der Nische sagt nicht „Exit“, sondern „Exist“. Das kleine Schild am Gitter zum Chor doppelt nach: „En Usage“. Wäre Graf ein Minimal Art-Künstler würde er da bremsen und sich zurücknehmen. Doch weit gefehlt; die Zone im Chor und in der Apsis ist als Wohnung eingerichtet, nicht einmal sehr ordentlich. Die Kaffeetassen zeigen braune Spuren, doch halt, warum fehlen die Henkel? “Logisch“, erkennt man bald, denn auf der kleinen Fotografie gleich darüber ist eine weisse Kaffeetasse mit fünf Henkeln zu sehen. Die Wohnung ist auch Atelier und Ausstellungsraum. „Wohnen, bauen, denken“ sei eine Einheit, sagte einst der Philosoph Martin Heidegger.

Und so geht es weiter: An der leeren Weinflasche hängt das Etikett „voll“ und an der vollen das Pendant „leer“. Was ist spannender, das Reale, das Utopische oder in Form von künstlerischen Projekten das eine zum andern werden zu lassen? Was Graf in Bellelay realisiert hat, ist eine Denkfabrik voller Anekdoten, die uns auf Trab halten. Warum ist um 11.30 Uhr erst 9 Uhr und was bedeutet es, dass das Pendel, den „Moment“ und das „Monument“ zugleich anzeigt? Irgendwann ist man müde. Graf hat daran gedacht und stellte unter die Engel im Chor-Wandbild ein exakt auf die Mitte ausgerichtetes Doppelbett. Sich hinlegen ist erwünscht und sich vom  „Auge Gottes“ im Deckenrelief direkt über einem irritieren lassen ebenso. Vielleicht wird’s dann ein wenig viel, wenn man auch noch entdeckt, dass der Künstler die Betten mit der Spraydose benannt hat; wie aufklappbar werden die Buchstaben zu „streben“ rechts und zu „sterben“ links.

Noch nie sei es vorgekommen, dass Besuchende zwei Stunden in der Kirche verweilten, sagt der Kustode der Abbatiale. Caroline Nicod, die Kuratorin der Ausstellung im Auftrag der veranstaltenden Stiftung, freut’s. Es tröstet sie etwas darüber hinweg, dass die Besucherzahlen noch nicht rekordverdächtig sind. Das hat seinen Grund: Florian Graf ist in der Schweiz ein unbeschriebenes Blatt. Was nicht verwunderlich ist, bildete sich der Künstler doch seit seinem Architektur-Abschluss in Zürich (2005) vorwiegend im Ausland weiter und lebt aktuell mit einem „iaab“-Stipendium in Berlin. Doch nicht nur die Jury in Bellelay liess sich von Grafs Dossier „verführen“, auch die Pro Helvetia wählte ihn quasi aus dem Stand für die „Cahiers d’Artistes“, 2011. „Im Projekt“, so Nicod, „war anfänglich von zwei analogen Architekturen im Schiff und im Chor die Rede“, doch dann habe der Künstler unter dem Eindruck des Ortes mehr und mehr sich selbst, seine Auseinandersetzung mit „Gott, der Welt und sich selbst“ eingebracht und schliesslich diese faszinierende Installation zwischen Werk und Werkprozess geschaffen.

Gerade durch die Vielfalt der Requisiten wird sichtbar wie Graf in seinem Schaffen die Tradition der Utopischen Architektur – von Brueghels „Turmbau zu Babel“ über Piranesis „Carceri“ bis zu den Futuristen – vereint, doch seiner Generation entsprechend auch die Science Fiction-Kultur einfliessen lässt und von da her kommend die Möglichkeiten des Films, der Narration.  Graf hat auch tatsächlich schon mehrere Filme realisiert. Gleichzeitig gibt es da – zumindest im barocken Kontext von Bellelay – einen vorsichtigen Trend zum Mystischen, einem Universum, das es von neu erbauten Konstruktionen mit unerwarteten Fenstern in seiner Üppigkeit neu zu entdecken und fruchtbar zu machen gilt. Als Signal stellt der Künstler indes in eine Ecke des „Ateliers“ eine Plastik-Attrappe von Duchamps „Flaschentrockner“ von 1914. Will er sich damit stets daran erinnern, dass Fiktion und Analyse verschränkt bleiben müssen?  Oder anders ausgedrückt: Dass die Phantasie die Klarheit der architektonischen Utopie nicht verdrängen darf?  Gut, wenn der Künstler weiss, wo er die Zügel anziehen muss.

Bis 18. September täglich 10 – 12 und 14 – 18 Uhr (Mo-Fr) respektive 10 – 17 Uhr (Sa/So). Katalogvernissage und Führung: Samstag, 20. August, 14 Uhr respektive 15 Uhr.

 

 

Bildlegenden:

Den Hauptakzent der Ausstellung von Florian Graf in Bellelay markiert diese 12 Meter hohe Architektur in der Architektur. Bild: zvg

Einladung zur (Un)-Ruhe: Doppelbett in der Apsis der Kirche. Bild: azw