Fotopreis BE an Andreas Tschersich

Ich bin kein Architekturfotograf

www.annelisezwez.ch       Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 24. März 2011

Am Samstag erhält der Bieler Künstler Andreas Tschersich  einen der zwei grossen Berner Fotopreise dieses Jahres. Für ein Portfolio mit grossformatigen Aufnahmen von New York und Detroit.

Wenn er frei wählen könnte, wo würde er am liebsten eine Ausstellung mit seinen Bildern von Rand- und Aussenbezirken grosser Städte einrichten? „Im Moma in New York natürlich“, lacht Andreas Tschersich. Und in der Schweiz? „Vermutlich im Kunsthaus Zürich“ schmunzelt er weiter. Spricht da ein übertrieben Ehrgeiziger?  Nein, Wünsche haben alle Künstler. Viel informativer ist, dass er in der Schweiz nicht das Fotomuseum Winterthur nennt und auch nicht das Musée de l’Elysée in Lausanne. „Ich habe immer Mühe, wenn man von mir als ‚Fotograf’ spricht“, sagt er. „Ich bin das nicht. Ich habe auch nie Foto-Aufträge ausgeführt; ich könnte das gar nicht. Aber die Fotografie, so wie ich sie baue, ist das Medium, mit dem ich meine künstlerischen Vorstellungen umsetzen kann. Meine Serien sind weder Reportagen noch Architekturfotografie.“

Freimütig gesteht Andreas Tschersich, dass er schon Tage respektive Nächte durch Stadtbezirke gewandert sei, zahlreiche Fotos gemacht habe und schliesslich keines darunter gewesen sei, das er weiter hätte brauchen können. Da stellen sich Fragen. Warum nicht und was heisst „weiter brauchen“? – Langsam schält sich im Gespräch heraus, dass das Schlüsselwort „Geschichte“ heisst, „Kultur- und Sozialgeschichte“.

Das heisst, ein Quartier, ein Platz, ein Hinterhof, eine Strassenkreuzung muss „beredt“ sein, muss von Menschen erzählen, ohne sie zu zeigen. Die Menschen, die gestern da bauten und wohnten, heute und morgen da vorbeigehen oder -fahren, müssen spürbar sein; auch Gewohnheiten, Geschmackloses, Unerledigtes, Baufälliges kann da sein. Aber die Stimmung muss so sein, dass sie nicht fremd, nicht abweisend wirkt, sondern in ihrer banalen Realität vertraut wirkt und damit eine emotionale Beziehung zu den Betrachtenden schafft. Unterstützt wird diese Wirkung durch die Grösse der Bilder und die Präsentation in schweren Eichenrahmen.

Andreas Tschersich ist in den 1970er- und 80er-Jahren in den Weidteilen in Nidau in aufgewachsen. Sein Vater, nach dem Krieg aus Schlesien in die Schweiz gekommen, war Schlosser, seine Mutter ursprünglich Hutmacherin. Die Region befand sich in der Krise. Auslandreisen führten oft zu einer Tante in Völklingen im Saarland, einer Stadt, die sich rühmte, besonders „hässlich“ zu sein. Heute lebt Tschersich in Berlin – auch dies wahrlich eine Stadt mit bewegter (Bau)-Geschichte. Es mag sein, dass die Ambivalenz zwischen dem Unbedeutenden, dem bewusst nicht auf Repräsentation Ausgerichteten der Motive und der kaum benenn- und doch spürbaren Zuneigung des Künstlers zum Bild in diesem, seinem Lebenshintergrund wurzelt.

Dann spricht Tschersich auch von der „Arbeit am Bild“. Damit meint er nicht Photoshop- Manipulationen, sondern die Montage des Bildes aus mehreren, meist neun, Aufnahmen, welche die Verzerrungen durch die Mittelformat-Kamera (eine Pentax 67) ausmerzt und so im leicht panoramaartigen Grossformat (alle C-Prints messen 220 x 170 cm) den Eindruck vermittelt, als stünde man selbst in realer physischer Grösse an jenem Ort, wo der Künstler die Aufnahme machte. „Ich arbeite ein bis zwei Wochen an einem Bild“, sagt er. „Ich eigne es mir an, es muss mir ‚gehören’ wenn es in die Produktion geht.“

Andreas Tschersich Karriere als Foto-Künstler ist kontinuierlich, doch weder ist sein bisheriges Werk gross noch sind ihm Erfolge in den Schoss gefallen. Ursprünglich absolvierte er die Bieler Schule für Gestaltung und als Free-Lance-Grafiker verdient er bis heute seinen Lebensunterhalt. „Die Fotografie, wie ich sie betreibe, ist eine teure Angelegenheit, jede Vergrösserung ist eine Investition; davon kann man nicht einmal leben, wenn man hie und da eine Arbeit verkauft.“

Sowohl in den Sammlungen des Kantons Bern wie der Stadt Biel befinden sich Werke von Andreas Tschersich. Es ist auch nicht das erste Mal, dass er sich um den Fotopreis des Kantons Bern bewarb, doch bisher kam er – auch beim Aeschlimann-Corti-Stipendium – zwar oft in die Endrunde, aber erst jetzt „in die Kränze“. Andreas Tschersich freut sich. Mag sein, dass der Preis in Höhe von 10 000 Franken das früher im Gespräch immer wieder spürbare Gefühl „nur“ ein Autodidakt zu sein, nun endlich und längst zu Recht begräbt. Denn mit der Serie „New York/Detroit“ wechselt er nicht nur den Kontinent, sondern beweist auch, dass er sich in „fremde“ Kontexte eindenken und diese in faszinierender Präzision zum Ausdruck zu bringen vermag.

 

Der Fotopreis des Kantons Bern

Alle zwei Jahre schreibt die Kunstkommission des Kantons Bern den „Fotopreis“ aus. Für den Preis 2011 haben sich ingesamt 84 Fotografie- und Kunstschaffende aus allen Arbeitsfeldern der Fotografie beworben. Als Hauptpreisträger 2011 erkor die Jury Andreas Tschersich für sein Portfolio„New York/Detroit“ aus der Serie „peripher“ und die junge Berner Fotografin Nicole Hametner für ihr Essay „Der Wald“. Anerkennungs-preise gehen an Christoph Däppen, Maia Gusberti, Simone Haug, Patrik Marcet, Martin Möll sowie den Erlacher Alexander Jaquemet.

Werke aller Ausgezeichneten sind von Samstag, 26. März bis Sonntag, 29. Mai im Photoforum des Centre Pasquart ausgestellt. In der Ausstellung vertreten sind auch 13 Fotoschaffende der zweiten Runde, darunter Marco Paoluzzo, Rudolf Steiner, Valérie Chételat, Martin Wiesli, Antal Thoma und Nadine Andrey.

Die Vernissage findet am Samstag, 26. März um 18 Uhr statt. Es sprechen unter anderem Fritz Schär, Präsident der Kunstkommission des Kantons Bern, Héléne Joye-Cagnard, Sylvie Henguely und Dominique Uldry als Vertreter der Jury.

 


Andreas Tschersich

1971 in Nidau geboren. 1990 Matura in Biel.

1991-97 Kantonale Schule für Gestaltung in Biel

Lebt seit 2000 in Berlin

Auszeichnungen: 2005 Werkbeitrag der Kommission für Foto und Film Kt. BE, Atelierstipendium Brüssel (Stadt Biel), 2006 Reisestipendium, 2011 Fotopreis des Kantons Bern.

Bisher wichtigste Ausstellung: 2008 Liverpool Biennale (Sektor „Independents“).

In der Region: Alte Krone, Biel, Weihnachtsausstellungen des Kunstvereins, Lokal-int., Marks Blond, Raum für zeitgenössische Kunst.          

 

 

Bildlegende:

Der in Berlin wohnhafte Bieler Andreas Tschersich erhielt für das Essay „New York/Detroit“ den Fotopreis des Kantons Bern.  Bild: Dominique Uldry