Text von Annelise Zwez für Monographie Erica Pedretti

 

Schrift im Bild, Bild als Schrift

 

Wie Gedanken und Formen im Werk von Erica Pedretti immer neu zusammen finden

 

In der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts verzahnt sich Schrift und Bild, Bild und Schrift vielfältig. Dada macht den Anfang, das Gedicht wird Kunst. Paul Klee verbindet Titel und Zeichnung. Lawrence Weiner macht das Bild zum Statement. Ben Vautier schafft Schriftbilder. Jenny Holzer infiltriert den öffentlichen Raum mit Leuchtschrift. Rémy Zaugg verweigert das Bild und ersetzt es durch Text. Christopher Wool malt mit Worten Emotionen.

Auch Erica Pedretti verbindet in ihrem Werk Schrift und Bild, Text und Skulptur.

Anders. Und doch!

Sie ist weder eine Künstlerin, die mit Worten Kunst schafft noch eine Schriftstellerin, die „auch“ bildnerisch arbeitet. Sie gehört weder zu den bildenden Dichtern noch zu den dichtenden Malern; sie ist nicht Hermann Hesse, nicht Wolfgang Hildesheimer, nicht Friedrich Dürrenmatt. Sie ist weit weg von bildenden Künstlern und Künstlerinnen, welche Methoden des Comic aufgreifen wie Urs Dickerhof, M. S. Bastian&Isabelle Laubscher oder gar die wilde Elke Krystufek.

Erica Pedretti schafft ein ganz anderes, einmaliges Verhältnis zwischen Wort und Bild. Sie lässt Geschriebenes und Gestaltetes scheinbar zusammenhanglos aufeinandertreffen, verzahnt es einzig durch die Form. Die Form bestimmt das Feld, den Raum für die Schrift. Oder sie schreibt und lässt das Geschriebene selbst zur Form werden. Sie überlagert Zeitungsseiten mit Handschrift, durch eine weisse semitransparente Malschicht voneinander getrennt. Sie integriert in diesen Modus Zeichnungen und Reproduktionen von Bildern der Kunstgeschichte. Pinselskizzen umkreist sie mit Text. In Fotografien nutzt sie die freien Flächen – Strassen, Treppen, Wände, Plätze, Land – als Felder für ausführliche Notate; Schrift wird Raum.

In den zweidimensionalen Werken spielt die Schrift – das Schriftbild! – eine zentrale Rolle. In den skulpturalen Arbeiten hingegen passt sich die Schrift der gegebenen Form an. Und in den Werken mit Fotografie und Text dringt das eine ins andere.

Immer (oder fast immer) ist die Schrift ganz primär handschriftliches Denken – ebenso Zeichnung als an den Betrachter gerichtete Erzählung.

Der Luzerner Kunstkritiker Theo Kneubühler hat im allerersten Katalog zum Schaffen von Erica Pedretti (Kunstmuseum Solothurn 1976) den treffenden Begriff des „Dorthier“ geprägt, um damit auf die Gleichzeitigkeit und zugleich die Durchlässigkeit mehrerer Zeit-, Geschehens- und Bedeutungsebenen hinzuweisen. Er mag dies aufgrund der mittels Hörstationen in die Ausstellung integrierten Radio-Hörspiele – die erste Ausdrucks-Form, mit welcher Erica Pedretti öffentlich bekannt wurde – formuliert haben. Das „Dorthier“ erweist sich aber ebenso charakteristisch für das Verhältnis von Schrift und Bild im gesamten Schaffen von Erica Pedretti.

Doch der Reihe nach.

Als 1970 „Harmloses bitte“ und 1973 der Roman „Heiliger Sebastian“ erscheinen, wird Erica Pedretti in der öffentlichen Wahrnehmung zur Schriftstellerin. Das kanalisiert die Rezeption ihres Werkes bis heute. Es degradiert die viel weiter zurückreichende bildnerische Ausdrucksweise zum oft geschriebenen „auch bildnerisch tätig“. Das ist nicht korrekt, da es die übergeordnete Bedeutung der Gleichzeitigkeit von Bild und Wort, vom Denken im einen und andern zugleich, von der Grenze der Sprache und der Öffnung dieser durch Zeichnung, Skulptur, Malerei zu wenig bewusst mitdenkt.

Erica Pedretti hat diesen Unterschied in ihrer künstlerischen Vorstellungswelt nie gemacht. Erika Schefter kommt mit Geschichten im Kopf in die Schweiz und ergänzt sie durch das bildnerisch-kunsthandwerkliche Know-How einer Silberschmiedin (1946-1950). Sie erlebt die Kunstgeschichte als Lehrstoff, aber noch viel mehr in der Begegnung mit dem Maler Gian Pedretti und durch ihn in der durch und durch künstlerisch ausgerichteten Bündner Familie der Pedrettis. Gegenwarts-Erlebnisse verweben sich mit Bildern aller Zeiten, werden zu Referenzen im eigenen bildnerischen Tun wie im schriftstellerischen Werk. Die Vernetzung äussert sich auch in der Sorgfalt, die sie dem Erscheinungsbild ihrer Bücher widmet.2

Bereits in den 1950er-Jahren nistet sich Text in Form von Einschreibungen in das zum Teil in Zusammenarbeit mit Gian Pedretti gefertigte, metallene Werk. Zwischen 1961 und 1964 schreibt respektive zeichnet sie für ihre Tochter Martigna „mal laut&falsch singen“. Es ist die Geschichte von einem kleinen Engel, der das Paradies langweilig findet, mal laut und falsch singen möchte und darum auf die Erde fliegt/fällt. Fischer retten ihn, Hirten betten ihn in Stroh, aber er fliegt weiter in die Stadt. Was er erlebt, macht ihm Angst, er ruft um Hilfe. „Der Himmel ist offen“, hört er, „du musst ihn dir nur wünschen.“ Begleitet ist der kurze Text von einer Serie von zwanzig 20×26 cm grossen, bezaubernden Kupferstichen1, welche Erzählung und Bild verschmelzen lassen. Dass sich darin Biblisches wie Autobiographisches spiegeln, ist offensichtlich. Interessant ist, dass eine Epreuve d’artiste des kleinen Engels, die sich in der Sammlung der Landesbibliothek in Bern befindet, eine handschriftliche Notiz der Künstlerin trägt: „Der Protagonist meines ersten Buches grüsst den grossen Bruder“. Man liegt wohl nicht falsch, wenn man den „grossen Bruder“ als Paul Klee definiert, was bedeutet, dass man seine Geisteshaltung und sein Werk in der Interpretation von Erica Pedrettis Schaffen mitdenken darf.

Seine Fortsetzung fand der Kupferdruck Mitte der 1970er-Jahre in einer der wenigen figürlichen Skulpturen Pedrettis. Sie folgt bereits dem Prinzip eines ganz oder teilweise mit „Haut“ überzogenen Drahtkörpers. Als entscheidendes Moment tritt in dieser „königlichen“ Engelsfigur die Schrift hinzu. Sowohl ihr Kleid wie ihr von einer Haube umhüllter Kopf tragen die Handschrift der Künstlerin als ornamentales Moment. Leider erinnert sich niemand daran, wo die Figur hingekommen ist. Es gibt nur eine einzige, möglicherweise 1975 im Weissen Saal des Kunstmuseums Bern entstandene Abbildung davon. Deren Qualität lässt ein Lesen des Textes leider nicht zu.

Es gibt indes keinen Anlass anzunehmen, dass sich das Prinzip der Schrift auf dem Kleid der „Königin“ von jenem auf den fisch-förmigen Luftkörpern der 1970er-Jahre unterscheidet. Glücklicherweise hat eines dieser grossformatigen Hänge-Objekte im Atelier von Erica Pedretti am Chemin Beau Site 4 in La Neuveville die Zeit überdauert. Und da ist nun ein teilweises Entziffern möglich und zeigt auf, dass das von späteren Text-Bildarbeiten bekannte „Muster“ der Gleichzeitigkeit von übergeordneten Informationen und ganz bewusst auf persönliche Beobachtungen und Erkenntnisse heruntergebrochenen Notizen bereits hier seine Anwendung findet. Auf besagter luftiger Skulptur findet sich auf einer der mit Stoff bespannten und mit Acrylfarbe weiss eingefärbten Haut-Zonen folgende Zeitungsnotiz: „Am Mittwoch ist das englische Pfund….. unter vier Franken gefallen womit… die Abwertungsrate einen Rekord von 45,7% erreicht.“ Auf einer anderen „Seite“: „Giscard soll die Staatschefs Sarkis (Libanon), Sadat (Ägypten), Assad (Syrien) eine Libanon-Friedenskonferenz in Paris vorgeschlagen haben, lese ich in der N.Z. vom 7.10.76.“ Es ist von Ermordungen und Gefangennahmen in Thailand die Rede, von der Diskrepanz der persönlichen Sorgen und jener der Betroffenen. “Es bleibt die Frage, ob nicht am Ende das Banale das Eigentliche ausmacht. Einen Vogel beschreiben, einen Fisch beschreiben, ein Gedicht schreiben. Poesie gegen alles Unglück und Unrecht…Thailand ist weit und ich habe verschwommene Vorstellungen von Bangkok. Ich kann auch die Zeitung weglegen oder mich auf die Lektüre des Feuilletons beschränken.“

Hiezu gibt es unter dem Aspekt der Interaktion von Schrift und Bild/Skulptur mehrere Beobachtungen einzubringen. Zu Beginn von „Harmloses bitte“ (1970) bezieht sich Erica Pedretti auf den deutschen Philosophen Ludwig Feuerbach (1804-1872), der schreibt: „Das Element des Wortes ist die Luft, das spirituellste und allgemeinste Lebensmedium“. Man kann daraus ableiten, dass Erica Pedretti diese Vorstellung zur ihren machte und von daher – wohl eher intuitiv als konzeptuell – auf die Idee kam, die vormals als Silberschmuck erscheinenden „Fisch-Vögel“ in die ebenso abstrakten wie naturnahen Luft-Körper einzubringen; sie – die Idee verdoppelnd – in den Raum zu hängen und mit „Wachstafeln“ für Worte zu versehen. Schrift, Skulptur und Raum stehen so in einer direkten Wechselwirkung, bilden gemeinsam ein Ganzes. – Sehr schön ist aber auch der Gedanke an die Verkörperung von Theo Kneubühlers 1976 formuliertem Begriff des „Dorthier“.

Bereits 1977 entstehen die ersten Objekte, die Erica Pedretti „Flügel“ nennt und die in der Folge in die grosse Serie der propellerartigen oder stoffähnlich hängenden, zum Teil monumentalen Doppel- und Einzelflügel münden. Sie sind in komplexer Symbolik sich selbst, Text taucht nicht mehr auf. Zahlreicher werden hingegen die Zeichnungen, deren lineare Konturen immer auf die Nähe zu Handschrift verweisen. Vereinzelt gibt es Zeichnungen mit eingeschriebenen Beobachtungen oder Bildtiteln wie „Hexe verängstigt“ (1980) oder „Buuumannn“ (1980), was sich auf die heftigen Reaktionen auf ihre Flügel über der Zihl anlässlich der Schweizer Plastikausstellung in Biel von 1980 beziehen könnte.

Erst zwei Jahrzehnte später drängen sich Buchstaben, Worte, Texte ins bildnerische Werk zurück. In der Zwischenzeit spielt die Kunstgeschichte jedoch eine wichtige Rolle in ihrem schriftstellerischen Werk: Man denke an „Valerie oder Das unerzogene Auge“, in dem die Bilder der sterbenden Valentine Godé-Darel von Ferdinand Hodler grosse Bedeutung haben.

Wiedereinstieg ist vermutlich die an den Turm von Babel erinnernde, spiralförmige Skulptur, die sie im Jahr 2000 für die Parallelausstellung zur Schweizerischen Plastikausstellung „Transfert“ im Centre Pasquart entwirft.2 Träger der Worte ist eine mit Acryl bemalte Schilfmatte über einem metallenen Gerüst. Bereits 1990 tritt der Spiralturm erstmals an die Stelle der Flügel respektive der flügelartigen, zum Teil auch astförmigen Konstruktionen. Entzifferbar ist einzig das Wort „BABEL“. Die übrigen Buchstaben wandern in freier Anordnung aufrecht, nach links oder rechts kippend oder auch mal kopfüber der Spiralform entlang hinauf in eine utopische und keineswegs ungefährliche Unendlichkeit. War es früher oft der Ikarus-Mythos, der in ihren Arbeiten mitschwang, ist es nun der Turm zu Babel, die beide auf ihre Art von Aufstieg und Fall, von Traum und tödlicher Gefahr berichten.

Der Zeitpunkt des Wiedererscheinens von Schrift ist nicht zufällig. Anfangs 2000 lädt das Literaturhaus in Basel Erica Pedretti ein, zur Eröffnung der neuen Lokalität an der Barfüssergasse eine Ausstellung im Foyer einzurichten. Erica Pedretti gestaltet hiefür bis anfangs April 2000 insgesamt 22 mit verdünntem Acryl übermalte und mehr oder weniger dicht überschriebene Doppel- Zeitungsseiten. Diese erscheinen in der Folge unter dem Titel „Heute – ein Tagebuch“ als Suhrkamp Taschenbuch.

Auffallend ist, dass die Künstlerin konsequent die Basler Zeitung als Untergrund verwendet. Man interpretiert dies ohne grosses Nachdenken mit dem Anlass und liegt damit zumindest teilweise falsch. Denn seit Jahrzehnten haben Gian und Erica Pedretti die National-Zeitung, die 1977 zur Basler Zeitung wird, abonniert. Gian Pedretti ist schon mit ihr aufgewachsen, denn seine Mutter war eine geboren „His“ aus Basel. Später ist es vermutlich die sozial-liberale Haltung der Zeitung, welche die Bindung lange Zeit aufrecht erhält – auch Freundschaften einschliesst – und sich nun indirekt ins bildnerische Schaffen von Erica Pedretti infiltriert.

Dem Kontext entsprechend werden die Arbeiten ganz primär von der Literaturszene rezipiert und mit der Transkription der Handschrift im Buch wird der Inhalt der Texte ins Zentrum gerückt. Es ist von Palimpsesten die Rede, was nur stimmt, wenn man nicht beachtet wie gezielt Erica Pedretti die lasierende Weiss-Schicht einsetzt, um da einen Titel – „Debakel für Fast-Bundesrätin Rita Roos“, „Junger Mann gesteht Missbrauch an der kleinen Sophie“ – einsetzt, dort Abbildungen sichtbar belässt –den „betenden“ Bill Clinton zum Beispiel – oder mit einem Augenzwinkern zwei Frauenbeine aus dem Text ragen lässt. Auch das gestalterische Moment der Schriftfelder – das Aufrecht, Seitwärts, Diagonal, Kopfüber – und die Über-Überschreibungen, die Unleserlichkeit provozieren, werden nur nebenbei wahrgenommen. Das sind aber alles bewusste, malerische, gestalterische Entscheidungen, die Schrift und Bild in Dialog setzen. Niemand ist sich bewusst, dass Erica Pedretti die Gleichzeitigkeit von übergeordneter und persönlicher Wahrnehmung – das „Dorthier“ – bereits in den skulpturalen Luftkörpern der 1970er-Jahre praktizierte; damals als Abfolge hintereinander, hier nun durch Schichtung übereinander. Es wird in der Rezeption auch nicht näher auf die Wurzeln der Praxis des Schreibens auf Zeitungsseiten eingegangen. Gewiss, die Zeitung wird in der zeitgenössischen Kunst immer wieder benutzt. Man denke an die ganz dem Thema gewidmete Press Art-Sammlung von Peter Nobel. Doch hier gibt es ein pikantes Detail: Gian Pedretti stellt schon 1976 im Kunstmuseum Solothurn Selbstporträts auf National-Zeitungs-Seiten aus.

Eine grossartige Form findet das neue bildnerische Schreiben in „Signatur“ Nr. 35, einer von Theo Rommerskirchen herausgegebenen Edition in Form von „Zeit-Schrift-Bild-Klang-Objekten.“ Erica Pedretti plant eine bildnerische Form der Geschichten, die sie zwei Jahre zuvor auf Einladung des Suermondt-Ludwig Museums in Aachen zu vier mittelalterlichen „Heiligen“-Skulpturen respektive –Bilder geschrieben hat. Doch es kommt anders. Just als sie mit der Arbeit beginnt, stösst sie auf ein aktuelles, amerikanisches Hinrichtungsprotokoll, das sie aufwühlt und so lässt sie die Edition zur tiefsinnigen Überlagerung von Märtyrertum und Todesstrafen einst und jetzt werden. Wieder schreibt sie meist auf übertünchte Seiten der BAZ, die nun allerdings mit Abbildungen aus den USA respektive der “Heiligen Ursula“, der „Santa Lucia“ und mehr zu Collagen ausweitet sind und überdies ergänzt sind durch eigene Pinselzeichnungen mit roter Tusche. Erst jetzt um-, über- und überüberschreibt sie Bildteile mit einem relativ weichen Grafitstift, sodass reiche Bild-Schrift-Kompositio-nen entstehen, die in der Edition als Faksimile gedruckt sind. Auf einer Audio-Kasset-te spricht die Künstlerin die Texte und erzählt von deren Entstehung.

Einen wichtigen Entreacte zu dieser Arbeit setzt der 11. September 2001. Im Hörtext erwähnt Pedretti die zeitliche Koninzidenz, ihren bildnerischen Ausdruck findet sie jedoch in einer separaten, am 12. September 2001 entstehenden Arbeit, welche Teil der Sammlung der Stadt Biel ist. Für das Thema „Schrift und Bild“ ist nicht so sehr der die Ereignisse in eigenen und jenen einer „NewYorker Kollegin“ (Robin Morgan) beschreibende Text wichtig als vielmehr die direkte Fokussierung auf ein Thema. Dieses findet in den vier auf Leinwand aufgezogenen BAZ-Seiten vom 12. September, auf welchen sie die Titel sichtbar belässt ( u.a.„Der Tag, an dem der Terror die Vorstellungskraft übertraf“) und auch die Fotos als Elemente eines Ganzen einsetzt, seinen Ausdruck. Mehr noch: Die drei seitenübergreifenden Schriftfelder zeigen in ihrer hochrechteckigen respektive horizontal-spitzwinkligen Formen deutlich das World Trade Center und die Bewegungen der beiden in den Tower rasenden Flugzeuge. Das heisst: Die Schrift ist Text und inhaltsbezogene Form in einem.

Was hier besonders, aber eigentlichen für alle Schriftbilder gilt, ist die erstaunliche formale Disziplin, mit welcher Erica Pedretti schreibt. Ihre Handschrift ist zwar sehr persönlich, aber die horizontale, vertikale und diagonale Ausrichtung der einzelnen Zeilen ist überaus präzise und streng geometrisch. Dies verdeutlich klar: Schrift ist immer auch Form, in den Über-Überschreibungen sogar doppelt.

Und was natürlich auch immer mitschwingt – speziell für eine Künstlerin, die im Raum Biel arbeitet – ist das „Bleistiftgebiet“ von Robert Walser. Erica Pedretti war lange Zeit Mitglied der Stiftung Robert Walser, die sich zwar mit zeitgenössischer Literatur befasst, aber dennoch den Geist und das Werk des eigenwilligen Künstler-Schriftstellers stets mitdenkt. Auch in der Wertschätzung des Alltäglichen sind sich Walser und Pedretti nahe.

Weitere Schriftbilder der frühen 0er-Jahren kombiniert sie zum Teil mit Zeichnungen, die hier und dort kosmischen Wirbeln ähneln und viele kleine, sternförmige Zentren aufweisen.

Eine nochmals deutlich neue Form nimmt das Verhältnis von Schrift und Bild in den Venedig-Arbeiten an, die im Winter 2004/2005 während eines Artist-in-Residence-Aufenthaltes in der Lagunenstadt entstehen und 2005 in den Edizione Periferia in Buchform erscheinen.

Erstmals bedient sich Erica Pedretti der Fotografie als künstlerisches Medium. Das Konzept bereits im Kopf achtet sie bei Ihren Gängen durch die Stadt, aber auch am Strand auf Freiräume, auf besonnte Fassaden, Durchblicke, Plätze, offene Zonen. In sie hinein schreibt sie später ihre Tagebuch-Notizen. Diese sind nicht direkt auf die Fotos bezogen, durch die Tatsache, dass Venedig aber hier wie dort im Fokus steht, vereint sich Bild und Text trotzdem. Wenn sie in eine Schattenform im langgestreckten, auf das Meer (das Licht) hin ausgerichteten Säulengang des Palazzo Ducale am Markusplatz schreibt: „Wie sich das Zeitgefühl verändert“ und weiter im Schatten der nächsten Säule „und damit auch der Umgang mit der Zeit, wenn du nicht nur für wenige Tage hier bist, wenn du die Tage nicht zählen musst“ , dann spürt man nicht nur ihr Wohlsein am Ort, sondern auch die Dimension der Zeit-Geschichte der Stadt, die einem in Venedig auf Schritt und tritt begleitet.

Die letzte Umdrehung im Verhältnis von bildnerischen und schriftstellerischen Aspekten im Schaffen von Erica Pedretti, kommt von aussen. Der Aargauer Künstler Urs Wiederkehr4 hat 2016 Bücher, die ihn einst begeisterten wieder gelesen und das heutige Empfinden in bildnerische Interpretation übertragen, die früheren Lesebücher in aktuelle Künstlerbücher verwandelnd. „Dorthier“. Eines ist dieser Bücher ist Erica Pedrettis Erzählband „Sonnenauf- und -untergänge“ von 1984. Über die Seiten 18/19 lässt er einen feinen blauen „Wasser“-strahl fliessen, weitet ihn unterhalb der Mitte ein Ein- und Ausatmen lang zum Wassertropfen aus, um ihn dann wieder weiterziehen zu lassen. Das empfindungsmässig Mitschwingende nehmen vertikale Linien links und rechts rhythmisch auf.

Die Vielzahl und die Vielfalt von Arbeiten, die Text und Bild seit den 1970er-, indirekt sogar seit den 1960er-Jahren vereinen, zeigen deutlich: Erica Pedrettis Schaffen muss über weite Strecken als spartenübergreifendes Werk rezipiert werden. Denn gerade im gesamtheitlichen Denken und Wirken entfaltet sich seine Einmaligkeit.

 

 

1 1986 in der Eremiten-Presse Düsseldorf und 1992 im Insel-Verlag Frankfurt in Buchform erschienen.

2 Im Literaturarchiv der Nationalbibliothek befinden sich zahlreiche Entwürfe zu Publikationen von Erica Pedretti.

3 Vlg. Text Gunter Frentzel auf Seite…..

4 Urs Wiederkehr (*1949) war während langen Jahren Lehrer für bildnerisches Gestalten an der Kantonsschule in Wohlen/Aargau.