Jürg Benningers Aufenthalt in der Casa Sciaredo und was dort an Neuem enstand 2021

Der Lottotreffer

Das Mail vom Vorstand der Amici di Sciaredo, dass er 2021 als Stipendiat der «Freunde» einen Monat in der Casa Sciaredo im Tessin verbringen dürfe, sei für ihn wie ein Lottotreffer gewesen, sagt der heute mit seinem Partner in Biel/Bienne lebende Urner Künstler (*1966).

Die Überlegungen des Wahlgremiums sind leicht nachvollziehbar. Georgette Klein hat ihr künstlerisches Schaffen mit Textilarbeiten begonnen und später neben ihren Holzskulpturen und Theaterfiguren lange Zeit weiter gepflegt. Aber, soweit bekannt, war unter all den vielen «Künstler/innen in Residence» (seit 2000) nie eine Textilkünstlerin und schon gar kein Textilkünstler. Eine spannende Ausgangslage!

Jürg Benninger war sich dieses unausgesprochenen «Auftrags» nicht bewusst. Er fuhr mit sich selbst, seiner Häkelnadel und wollenen Fäden im Gepäck ins herbstliche Tessin. «Ich freute mich auf das ‘Rundumgefühl’ in der Abgeschiedenheit, ohne Zweiteilung durch Brotjob, Kunst und mehr; aufs einatmen, ausatmen, unter dem Feigenbaum sitzen, die Natur spüren».  So stand denn nicht das produzieren im Vordergrund, sondern vielmehr die Ruhe, die der Lust tätig zu werden vorausgeht.

Andere würden vielleicht Notizen machen, skizzieren, fotografieren; Benninger arbeitet anders. Für ihn sei schön, dass jede noch so kleine Häkelarbeit mit einer Luftmasche beginne, sagte er einmal in einem Kurzvideo. Will heissen, was entsteht, wenn er beginnt, ist noch nicht eigentlich klar. 2020 zum Beispiel entstand eine Reihe kleiner grüner Köpfe mit ovalrunden Lippen, rot oder blau; vielleicht sangen sie, vielleicht blieb ihnen schlicht der Mund offen ob dem was sie sahen. Denn das – zeigte sich wenig später – waren lauter «gegroundete» Flugzeuge; da ging die Fantasie, die Benninger so liebt, mit ihm durch und die Flieger wurden zu Wesen mit je eigenem Namen.

Es sind nun gut 20 Jahre her, dass häkeln Jürg Benningers künstlerische Technik – und längst auch sein Markenzeichen – wurde. Darob wird vergessen, dass es eine Zeit davor gab. Mit Malerei auf Leinwand – der Zeit der eigenen Identitätsfindung entsprechend vielfach Männerporträts – und dann, als ihm die Begrenzung im Viereck zu eng wurde, mit figürlich gestalten, farbigen Laubsäge-Arbeiten.

Fusste die Malerei noch auf seiner Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Luzern, galt von nun an learning by doing und das mit stupender Begabung. Doch nach wenigen Jahren waren ihm auch die Sperrholz-Parameter zu eng. «Ich kam nicht mehr weiter». Er arbeitete damals bei der Post. Mit Bändern bündeln und wieder lösen gehörte zur Routine, bis er sich selbst zuschaute, was er da denn eigentlich macht: einfädeln, durchziehen, Volumen binden. Und plötzlich war er im Textilfachgeschäft und kaufte sich eine Häkelnadel und Wolle. Häkeln konnte er nicht, aber er fand es heraus und war fasziniert, die  Motive aus den vorangegangenen Bildern wuchsen und wuchsen und liessen sich gleichwohl in eine «Ikeatasche» verpacken. Figürliches, Tierisches oder zumindest Wesenhaftes dominierte nun seine Kunst, einzeln und vervielfacht; Flaches wurde rund, Bild wurde Skulptur.

«Wenn ich häkle, bin ich ‘zuhause’, sagt Benninger. Die Technik lasse ihm und seiner Fantasie freien Raum, sei ihm zur Heimat geworden. Darin spiegelt sich schöpferisches Tun an sich, bei dem alles Unnötige ausblendet wird.  Es hat aber vermutlich auch damit zu tun, dass er als Mann damit eine Einzelposition innehat.  Wichtig sei in diesem Zusammenhang die Vergabe des Visarte-Ateliers in der Cité des Arts in Paris (2007) gewesen, die ihn mitsamt seiner unangepassten Technik anerkannte.

Der Künstler weiss natürlich auch um die Reaktionen des Publikums auf sein Schaffen, aber er mag es gar nicht auf das Thema Mann und Häkeln reduziert zu werden. «ICH muss mich mit einer Arbeit identifizieren können, alles andere ist unwichtig», sagt er und erlaubt sich seinen Output eher klein zu halten, nicht um Ausstellungsmöglichkeiten zu buhlen. Er nimmt sie aber gerne wahr, wenn’s für ihn stimmt (zuletzt in der «Vitrine» in Luzern).

Als ihn eine Gruppe von «Amici» gegen Mitte September in Sciaredo besuchte, gab es erst ein knappes Dutzend gehäkelter «Blüten», vielleicht waren es auch Lichtflecken oder Schmetterlingsflügel. Ein Werk im traditionellen Sinn war noch nicht auszumachen. Doch halt: Seit einiger Zeit gibt es einen Strang in Benningers Schaffen, der sich partiell vom Figürlich-Erzählerischen abwendet, sich wieder mehr der «Malerei» zuwendet indem kleine gehäkelte Patches zu bildhafter Ornamentik am Rande von Gegenständlidchkeit gefügt werden. Aesthetisch sehr schön in einem Tondo von 2018, das er aus einer Vielzahl fingriger Einzelteile zusammengesetzt hat. Ob wir im Kontext von Sciaredo Natur- oder Märchenhaftes darin erkennen oder den offiziellen Titel  ­– «Manikinpis» ­– wörtlich nehmen, ist uns überlassen.

Zurück im Atelier haben sich die genannten kleinen «Blüten» multipliziert, verwandelt, sind zu einer Art Schmetterling im wilden Sciaredo-Garten geworden.  «Gebüsch» nennt Benninger die Arbeit. Als Dank für das Stipendium wird sie als Postkarte zu den «Amici di Sciaredo» gelangen.

 

Annelise Zwez im November 2021