Vernissagerede für Lex Vögtli anlässlich ihrer Ausstellung in der Galerie Rössli in Balsthal, 21. November 2021

Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Lex

Als Teenager habe sie Archäologin werden wollen, gestand mir Lex Vögtli letzten Sonntag anlässlich unseres Vorbereitungsgespräches für den heutigen Anlass. Die Geschichten, die Artefakte aus der Vergangenheit erzählen können, hätten sie fasziniert. Auf der Zukunfts-Wunschliste stand auch die Bildende Kunst; sie gewann schliesslich den Wettbewerb der Möglichkeiten, aber die Parallelen sind offensichtlich. Auch Lex Vögtli erzählt mit ihren Werken – sei es Malerei, sei es Collage, sei es Druckgraphik, selten Objektkunst – Geschichten. Doch anders als bei den Artefakten aus Aegypten, Griechenland, Italien, auch der Schweiz, stammen die erzählenden Dinge aus unserer unmittelbaren Lebenswelt.  Sie malt sie, schneidet Abbildungen aus Kunstzeitschriften, Katalogen, Plakaten, Werbeprospekten und anderem mehr aus oder fotografiert sie (das wissen wir aber erst seit heute; mehr dazu später).

Dabei interessiert Lex Vögtli nicht die sachliche Wiedergabe, sondern das gestalterische und assoziative Spiel, das aus den Dingen (oder Ausschnitten davon) erst Geschichten werden lässt.

In der Literatur sind Geschichten der finale Ausdruck des Schriftstellers und es ist an uns Lesenden, sie zu Bildern, zu Filmen werden zu lassen. In der bildenden Kunst ist es umgekehrt. Hier werden uns Bilder gezeigt, die wir Betrachtenden interpretieren, zu Erzählungen verschiedenster Art verweben und sie so lebendig werden zu lassen.

Der beliebteste Titel der Kunstgeschichte – vor allem der jüngeren – ist «ohne Titel». Als Schreibende über Kunst bin ich manchmal fast verzweifelt darob. Lex Vögtli hingegen gibt allen ihren Werken Titel, gleichsam als Anschub für unsere «Reise».

So heissen denn zum Beispiel die 2020 im Druckwerk Basel entstandenen Polymer-Tiefdrucke, die Sie hier sehen, «Besuch» (Bild) oder «Empfang» oder «Bestäubung», «Pollenflug» oder gar «Discoqueen» und schliesslich «Mauerblümchen». Ein bunter Strauss, der aber mit dem Obertitel «Blumenstücke» ein Minimum an konzeptueller Struktur festhält, welche sich die Künstlerin selbst auferlegt, um nicht auszuufern. Wir werden analoge Beschränkungen bei den grossen Collagen feststellen.

Doch vorerst: Lex Vögtli sagt, die auf fotografischer Basis beruhenden Drucke seien eine Art Skizzen oder Entwürfe für die Collagen. Wir müssen uns also die Künstlerin in ihrem Atelier im grenznahen französischen Hegenheim vorstellen mit einer Vielzahl von Schachteln mit ausgeschnittenen, nach Farben, Formen und/oder Themen geordneten Abbildungen aus Kunst-, Dekorations- und vielen anderen Druckerzeugnissen rund um sich herum.  Fast alles sind kleine, exakt ausschnitte Stücke. Und da wird nun ausgelegt, konzentriert beobachtend, was entsteht, was zum zentralen Motiv wird und wie es sich ausweiten, zu einem erzählenden Ganzen fügen kann. Vielleicht bleibt es dann bei diesem eigenartigen Rohr-Drachen und der sich wagemutig «Zu Besuch» nähernden Fledermaus, angehalten von einer kleinen Schnecke, mitten im Winter. Vielleicht ist aber auch gerade Pollenflug-Tag, die «Blumen»-Rondellen vermehren sich in Windeseile, denn es gilt «jetzt oder nie» .

Interessant ist, dass die Künstlerin das zentrale Motiv hier und anderswo auf eine Art Predella stellt, d.h. einen ergänzenden Untergrund, der nur bedingt mit dem Bild darüber zusammenhängt. Ist es im vorangehend beschriebenen «Besuch» ein winterliches Dickicht, ist es hier eine Art Sandstrand, in dem einerseits eine Hornisse ein Loch gräbt, andererseits ein comicnahes Wesen aus flutschigem Material mit einer Vielzahl von «Pollen» um sich, das uns anschaut. Zeigt da eventuell ein Bazillus (oder gar ein Virus) seine Fratze? immerhin entstand die Reihe in der Zeit des Corona-Lockdowns. Wer weiss – vielleicht ist es aber auch nur meine momentane Assoziation. Man beachte en passant auch die kleine Schere daselbst; sie dient zur Illustration der Grössenskala resp. dem Grad der Verkleinerung. Denn Lex Vögtli spricht ja in Bezug auf die «Blumenstücke» von Skizzen für die grossen Collagen – wer Lust hat, kann diesbezüglich Dedektiv spielen und wird vereinzelt fündig ( oder eher teilfündig).

Die grossen Collagen stehen im Zentrum der Ausstellung. Mit Recht. Es ist das erste Mal, dass Lex Vögtli so grosse Collagen präsentiert. Première!! Und sie sind nicht vom Himmel gefallen. Will heissen die Künstlerin arbeitete lange, intensiv und zuweilen fast bis zum Umfallen an den Kombinationen, die einerseits eine Komposition ergeben, andererseits den gestellten Parametern folgen und darüber hinaus ein Thema in vielfältigster Form sichtbar sollen. Jedes Detail – gehen Sie hin und schauen von nahe – ist in sich schon fast wieder eine Geschichte für sich und doch eingebunden ins Ganze. «Schnappschuss» und «Passé composé» sind mit Leichtigkeit ins Gesamtwerk von Lex Vögtli einzuordnen indem es Assemblagen verschiedenster, nicht offensichtlich zusammengehörender Dinge sind.

Die Hintergrund-Parameter lauten hier und dort: Erlaubt ist keine natürliche Blume, nur blumenähnliche oder mit Blumen assoziierbare Elemente. Das ist aber sehr weit zu fassen, denn da ist zum Beispiel auch eine farblich verhaltene, ovalrunde Blase mit einem Fötus, verbunden mit einem grünen, sich spiralförmig drehenden Kabel als Nabelschnur. Da ist auch Hinterhältiges, etwa der mit Erde camouflierte Helm eines dunkelhäutigen Soldaten. Und tausend Sachen mehr. Es ist ein ständiges Ping Pong zwischen Details und Gesamtsicht. Schnappschüsse eben.

Anders ist das bei der  – ich nehme es vorweg – grossartigen «Donna» oder simpel «Frau» betitelten 184 mal 80 Zentimeter grossen Collage, die auch die Einladung zur Ausstellung zu einem sinnlichen Farbfest macht. Vielfach ist es nicht wirklich relevant, aus welcher Ecke der Kunstgeschichte das eine oder andere Stück stammt. Es gibt auch keine Liste, auf welcher die Ausschnitte katalogisiert wären. Aber hier ist es so zentral, dass ich es verraten muss – oder sind Sie mir längst zuvor gekommen und haben die Mademoiselle Rivière, die Dominique Ingres im Jahr 1805 Modell stand, erkannt und begrüsst? Wie hätte sie sich wohl gefühlt mit diesen üppigen Brüsten – ich weiss, es sind keine Abbildungen von Brüsten, aber das ist eigentlich egal; es sind hier Brüste. Und sie sind es,  welche der «barocken» Collage ihre sinnlich-laszive Ausstrahlung geben. Gestalterisch wichtiger und im Werk von Lex Vögtli bisher einmalig ist die enge Verbindung der ausgeschnittenen Formen zu einer Gesamtfigur. Die Parameter, die sich die Künstlerin gesetzt hat, heissen «Faltenwurf». Schon in mittelalterlichen Darstellungen – auch Schnitzereien – von Heiligen oder Märtyrerinnen spielt der Faltenwurf eine wichtige Rolle, aber mehr noch im Barock mit seinen üppigen Kleidern in den Ballsälen der Herrschenden.

Aber Vorsicht: Lex Vögtli ist zwar  in den 1970er/80er-Jahren im solothurnischen Dornach aufgewachsen, aber ihre Ausbildung zur Künstlerin – und übrigens auch Fachlehrerin – hat sie in Basel absolviert, der Hauptstadt der Fasnacht und da ist immer mit Doppelbödigem zu rechnen. Auch hier: Die Donna Ingres streckt ihre Brüste, weil sie damit – sehr wahrscheinlich – einen Mann provozieren wollte. Aber wo ist er denn? «Wow», haben sie sein haariges Bein entdeckt? Köstlicher finde ich die schwarze, kopfüber infiltrierte  kopflose Doppelfigur, die mit einem Händepaar für das Seelenheil der Mademoiselle zu beten scheint, in einem zweiten Händepaar an der Stelle des Kopfes aber eine mit heraldischen Lilien verzierte Stoffmaske trägt, die ihm vielleicht erlaubt, hinter den Kulissen – honi soit qui mal y pense.

Wir merken, diesem Bild ist in seiner Fülle kaum beizukommen. Und dabei gelingt es Lex Vögtli nichtsdestotrotz eine formale Stringenz nicht ausser Acht zu lassen, dem Bild Wirkung zu verleihen, egal ob man die möglicherweise florentinische Dame auf dem Haupt von Mlle Rivière als solche erkannt und kunstgeschichtlich zugeordnet hat oder nicht.  Das Ganze und die Details sind stets in der Balance. Ich gratuliere Lex Vögtli zu dieser Collage von wahrhaft musealer Qualität.

Lassen Sie mich nun aber auf die zweite, gleichsam doppelte Première dieser Ausstellung eingehen. Zweifache Première weil es die erste Präsentation ist, zum andern – wichtiger noch – weil es der erste Schritt der Künstlerin hin zu einem neuen Medium, dem Film, ist. Und gleichwohl die bisherige Thematik beibehält, aber in einem neuen Gewand mit neuen Aspekten zeigt.

Es handelt sich um eine mehr als eine Stunde dauernde, animierte Abfolge von 1600 Fotografien, die sie selbst, ihr Mann Gilbert Engelhard, vereinzelt sogar ihre achtjährige Tochter Alma seit ihrem Einzug an der Drahtzugstrasse 47 in Basel im Jahr 2008 gemacht haben. Es sind keine Familienfotos, will heissen, es gibt keine Personen auf den Bildern, und trotzdem sind es Familienfotos. Lex Vögtli spricht von der «Wohnung als lebendiges, sich stets im Wandel befindendes Stillleben» und gibt dem Video entsprechend den Namen „Das Leben der Dinge“.

Im Vorgespräch habe ich gemerkt, dass diese Arbeit für die Künstlerin sehr viel emotionaler ist als alle übrigen, denn es ist die erste, in der sie gleichsam ein Stück ihrer selbst zeigt. Nervosität blitzte durch: Wie würde das Publikum reagieren, würden sie die filmische Animation als «zu privat» abqualifizieren oder mit Interesse betrachten? Lex Vögtli hat eine gemütliche, quasi häusliche Ecke eingerichtet für das Anschauen.

Ich begreife ihre Bedenken, aber ich teile sie nicht. Denn ich kenne ihre Wohnung nicht persönlich, weiss nichts um die Gegenstände in der Küche, dem Korridor, dem Wohnbereich.  Weiss nur vom Hörensagen, dass die Küche vor allem das Reich von Gilbert Engelhard ist.

Und so assoziiere ich die laufenden Fotos auch nicht allzu sehr mit der Künstlerin selbst, denn allem Persönlichen zum Trotz sehen Familien-Wohnungen schlussendlich ähnlich aus und so kann ich die Konstellationen sehr viel abstrakter, näher beim Stillleben an sich betrachten und mich freuen über die Interaktion der «menschlichen Spuren» mit dem durch Möbel, Architektur und anderem Gegebenen in einer von der Zeit des Jugendstils geprägten Altbau-Wohnung. Ich kann mir meine Bilder-Geschichte machen daraus, genau wie bei den Leinwand-Bildern von Lex Vögtli. D. h. der Bogen geht stärker zur Malerei wie wir sie als «typisch Lex Vögtli» kennen, denn zu den auf einer anderen Ebene erzählerischen Collagen.

Dass die Künstlerin die Arbeit jetzt realisiert hat, passt sehr in die Zeit, auch wenn die Basis dazu ein Langzeitprojekt ohne konkrete Zielsetzung war. Denn überall hört man, wie sehr der Lockdown die Bedeutung des Wohnens in den Fokus gerückt hat. Auch in der Kunst kann man dasselbe beobachten und in dieses weite Feld gehört auch „Das Leben der Dinge“.

Sie haben noch einiges vor sich mit dem Betrachten der Collagen, mit dem Anschauen der Drahtzugstrassen-Fotos im Fluss von Zeit, darum entlasse ich Sie nun vom Zuhören und danke für Ihre Aufmerksamkeit.