Monographie com&com (Hedinger/Gossolt) 2010

Nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden

 www.annelisezwez.ch        Annelise Zwez in Bieler Tagblaqtt vom 24. Februar 2010

Wer die mit Ironie gespickte Ausstellung von Com&Com im Kunsthaus Pasquart noch nicht gesehen hat, kann dies nun mit Mehrwert tun. Das Katalogbuch ist erschienen.

Ob Kapitalismus, Kitsch oder Kunstbetrieb, Gier, Glamour oder Glück – für fast alles hat das „Lexikon der zeitgenössischen Kunst von Com&Com“ eine Definition. Denn im ersten der fünf Teile der 627 Seiten starken Monographie gehen 160 Autorinnen und Autoren Begriffen nach, die aus der Sicht von Johannes M. Hedinger und Marcus Gossolt für ihr multimediales Schaffen relevant sind.

Man erinnere sich: Com&Com sind konzeptuelle Fake-Spezialisten; zumindest haben sie Ihre aufwendigen, ins Leere führenden Werbestrategien und Geschichtsfälschungen als Meister der Ironie international bekannt gemacht. Und auch wenn sie 2008 das „postironische Zeitalter“ ausgerufen haben, so ist doch immer noch höchst unklar, ob das  Skelett  eines im Raum hängende Apfelbaums in der Salle Poma „Authentizität“  aufzeigen oder aus unserer emotionalen Naturliebe strategisches Kapital  schlagen will.

Bereits zum zweiten Mal profitiert eine Ausstellung im Kunsthaus Pasquart von den Fördergeldern der Sophie und Karl Binding Stiftung, die mit dem Label „Binding Art Selection“ gezielt Retrospektiven von Schweizer Kunstschaffenden respektive hiezu erscheinende monographische Publikationen unterstützt. Allerdings brauchte es für das 1.5 kg schwere Com&Com-Buch zusätzliche Sponsoren.

Teil zwei des leinengebundenen Buches beinhaltet kurze knapp bebilderte Beschriebe der bisherigen Werke des Duos seit der Gründung des Labels Commercial&Communication (Com&Com) im Jahr 1997, das heisst von der Präsentation des „Firmenwagens“ vor dem Kunstmuseum St. Gallen bis zu den „geschnitzten“ keramischen „Ender“-Skulpturen von 2010. Wie es einem guten Lexikon entspricht, findet man am Ende des Textes Verweise auf Abbildungen im Bildteil sowie Links zu den relevanten Begriffen in Teil 1.

Der dritte Teil ist das Bildarchiv mit  1500  Kleinreproduktionen sämtlicher Werke und Aktivitäten, seien es die Glamour-Szenen rund um die Tell-Saga, sei es die Romanshorner Comic-Figur „Mocmoc“ zu Besuch bei ihrer Freundin Mermer in Singapur oder – für Biel besonders – eine Reportage zur Frage wie der Apfelbaum überhaupt in die Salle Poma kam. In diesen Teil integriert ist auch die köstliche Reihe der „Dictum“ wie sie in der aktuellen Ausstellung an der Wand zu finden sind: Von „Kunst darf alles – nur nicht langweilen“ bis zu „Ich kann mir nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden“.

Teil IV beinhaltet neben einem „high“ und „low“ in typischer Manier unterwandernden Interview (Suzanne-Viola Renninger) 30 ältere und neue Essays von Fachleuten unterschiedlichster Couleur, namentlich Dolores Denaro, Kathleen Bühler, Christoph Blase, Elisabeth Bronfen, Markus Landert und Kornelia Imesch. Teil V schliesslich trägt den Titel „Information“.

Es ist ein Mammutbuch in aufwendiger Ausführung. Die Frage, ob das die richtige Antwort auf die heutige Zeit ist, bleibt offen. Auch wenn Johannes M. Hedinger an der Buchvernissage von Selbstdynamik sprach und meinte: „Es war schon ein wenig ein Schock, als sich nach Eintreffen aller Texte herausstellte, dass dafür nicht die geplanten 480, sondern 627 Seiten notwendig sein würden“.  Die (werbe)-strategischen Absichten sind jedoch klar:  Wie bei Kunstprojekten binden sie mit über 150 Beteiligten eine Vielzahl von Menschen in ihre Aktivitäten ein.

Das Plus:  Com&Coms Schaffen wird dadurch nicht eingleisig definiert, sondern aus einer gesamtgesellschaftlichen Sicht mit wirtschaftlichen, philosophischen, pädagogischen, soziologischen, juristischen Aspekten. Überdies müssen sich die Lesenden im Lexikonteil stets fragen, was denn nun Begriffe wie „Volkskultur“,  „Wunder“ oder „Skandal“ mit „Com&Com“ zu tun haben, wobei die akribisch notierten Verweise eine Art Kartographie zeichnen. Das Gute: Man kann zappen und herauspicken, was einem interessiert. Ein Mehrwert für den Besuch der Ausstellung ist das Buch in jedem Fall.

Info: „La Réalité dépasse la fiction“ – Lexikon der zeitgenössischen Kunst von Com&Com, Niggli Verlag, Sulgen. 68 Franken.

Bildlegende:

Johannes M. Hedinger dankt den Beteiligten für die Mitwirkung an der Monographie „La réalité dépasse la fiction“. Bild: azw