Marie-Françoise Robert Galerie Archivarte Bern 2010

Imaginäre Vorvergangenheiten

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Vernissagerede anlässlich der Ausstellung „Imaginäre Vorvergangenheiten“ von Marie-Françoise Robert in der Galerie Archivarte in Bern, 30. September 2010

 

Sehr geehrte Damen und Herren

Liebe Marie-Françoise

 

„Imaginäre Vorvergangenheiten“. Plusquamperfekt. Wenn Eva nicht aus einer Rippe des Adam gemacht worden wäre, sondern Adam aus einer Rippe der Eva geformt, wäre die Welt vielleicht eine andere. So ungefähr. Wenn ich – so imaginiert Marie-Françoise möglicher-weise –  nicht eine Nachfahrin der Malerdynastie Robert wäre, hätte meine Kunst vielleicht eine andere Wende genommen. Und wenn ich nicht auf der Erde lebte, sondern ins Wasser geboren wäre, sähe ich vermutlich alles mit einem Fischauge. Und wenn ich nicht 1939, sondern 1439 geboren worden wäre, hätte ich vielleicht einen Renaissance-Blick.

Wer diese „wenn“ und „wäre“ und „hätte“ mit Blick auf die Collagen von Marie-Françoise Robert als künstlerische Spielerei interpretiert, folgt nicht einer grundlegend falschen Fährte. Aber es gibt auch einen äusserst spannenden gesamtgesellschaftlichen und dann auch noch einen ganz persönlichen und überdies einen genderrelevanten Hintergrund.

„Imaginäre Vorvergangenheiten“ heisst die Ausstellung hier. „Yesterday will be better“ heisst das Thema im Aargauer Kunsthaus in Aarau. „timeless“ im Kunsthaus Grenchen versammelt Werke, die Zeit als etwas nicht Fassbares interpretieren. Beatrice Gysin nannte ihre Ausstellung in Biel Ende 2009 „Archäologie der Gegenwart“ und vor zwei Tagen erhielt ich die Ankündigung der Shedhalle in der Roten Fabrik in Zürich, dass ihre nächste Ausstellung „Das Zukünftige rekonstruieren“ heisse. Alles Titel und Themen, die Chronologie aus den Angeln heben. Uns ist der Glaube an Festgefügtes abhanden gekommen. Zunächst haben wir schmerzlich erkannt, dass Bilder oft mehr lügen als die Wahrheit sagen, dass unsere Augen uns nur eine Variante des Sehens erlauben, dass Mikro und Makro gleichzeitig existieren. Und jetzt merken wir mehr und mehr, dass nicht nur die visuelle Wahrnehmung eine relative ist, sondern auch die Zeit alles andere als absolut ist, dass es vielleicht nur im engen Korsett des Materiellen diese Linie von A nach B gibt. Einstein holt uns gleichssam ein. Bereits haben wir im Internet quasi alles gleichzeitig zur Verfügung und können es beliebig mischen. All das ist eine ebenso faszinierende wie unheimliche Vorstellung, die sich auch noch dahingehend verkompliziert, als unser Geist im Traum das alles schon lange kann…Rennt etwa die Technologie einmal mehr dem nach, was wir als Anlage grundsätzlich bereits in uns haben?

Ich behaupte nicht, dass die Collagen von Marie-Françoise Robert eine direkte Interpretation dieser Entwicklung sind, aber bekanntlich spiegelt sich in unserem Tun viel mehr als wir vordergründig wissen.

Zunächst ist festzuhalten, dass Marie-Françoise Roberts Collagen in den 80er-Jahren einsetzen. Da war das World Wide Web noch nicht in unserem Selbstverständnis. Das heisst die Fantasie – eine Kraft, welche die Informationsgesellschaft im Moment etwas an den Rand gedrängt hat – war ihr Motor für ihre sinnlich-farbigen Kombinationen. Die Struktur der Methode ist jedoch dieselbe wie bei all jenen, die heute Bilder aus dem Internet auf ihren Bildschirm transferieren, hier wild verändern und kombinieren und schliesslich als Inkjet-Print ausdrucken. Alle arbeiten sie mit gefundenen Bildern, die sie in neue Zusammenhänge stellen und damit eine alte Geschichte in eine neue überführen.

Ich habe mich gefragt, warum sich Marie-Françoise Robert dieses Medium ausgewählt hat. Ende der 1980er-Jahre war sie damit ziemlich allein. Die Dadaisten haben seinerzeit damit gespielt – man denke zum Beispiel an Hannah Höch. Dann kam der grosse Boom in den   1950er- und 1960er-Jahren – ausgehend von Plakaten und einer ersten Überschwemmung mit nunmehr farbigen Illustrierten, Magazinen usw. Danach spielte die Collage eine untergeordnete Rolle – in den 1980er-Jahren pinselte man alles gleich frisch von der Leber weg auf die Leinwand.

Darauf angesprochen, sagt Marie-Françoise Robert: „Ach, ich hatte nicht viel Zeit neben meiner beruflichen Tätigkeit in der Graphischen Sammlung des Kunstmuseums Bern und der Paul Klee-Stiftung, da kam ich mit der Collage sehr viel schneller voran. Und überhaupt: Ich konnte ja nicht malen! Klar war ich immer gut im Zeichnen, aber ich hatte ja so viel mit Kunst zu tun, wie sollte ich mich da messen wollen und dies erst noch mit einem Rucksack an hervorragenden Malern in meiner Ahnen-Reihe. Und überdies als Frau nach all diesen Männern.“ Sie hören: Da ist ein ganzer Kratten an Triebkräften und alle sind sie Teil des Ganzen. Zu erwähnen wäre auch noch das zeitgleiche Aufkommen der Fotografie in der Kunst. Die gefundenen Bilder waren ja alle an ihrer Basis Fotografien und diese wurden nun kunstwürdig.

Was mir wichtig ist in all diesen verschiedenen Momenten: Die Collage ist bei Marie-Françoise Robert nicht ein „faute de mieux“ – Produkt, sondern der einzige damals mögliche Weg für sie, direkt aus der eigenen, persönlichen Bedingtheit heraus. Darum ist sie auch handwerklich eine Meisterin darin geworden. Hier wird nicht gekleistert, hier wird mit Versatzstücken gemalt! Niemand, der Werke von Marie-Françoise Robert betrachtet  ohne zeitweise ganz nahe hinzugehen, um zu ergründen, welche Formen hier denn nun geschnitten, vielleicht übermalt, über- und nebeneinander geklebt, unterlegt etc. seien. Und niemand, der danach sicher gewesen wäre. Ich kann es noch heute nicht lassen immer wieder zu schauen und dabei auch erstaunt Entwicklungen festzustellen. In dieser Ausstellung ganz besonders.

Obwohl die Ausstellung, die ich heute eröffnen darf,  vielgestaltig ist und Beispiele aus mehreren Serien enthält, scheint mir doch die Porträt-Reihe hier im Hauptsaal im Mittelpunkt zu stehen. Sie gefällt mir darum sehr gut, weil ich sie als sehr vielschichtig erachte und in jedem Blatt diese „imaginäre Vorvergangenheit“ spüre. Der Titel, „Les hasard du destin“, rückt eine sehr persönliche Beziehung zu all diesen aus ihrer Zeit in die Gegenwart geholten Köpfen in den Vordergrund. Ich denke, man kann von imaginären Selbstporträts jenseits von Raum und Zeit sprechen. Umso mehr als die meisten Basis-Vorlagen direkt aus einem Kunstumfeld stammen, Künstler wie Lucas Cranach, Tobias Stimmer, aber auch Velasquez ins Assoziationsfeld holen. Benennen will es Marie-Françoise nicht – ihre Bilderschachteln kennen keine Verzeichnisse. Indem sie ein Motiv ausschneidet und ins Archiv legt, schneidet sie es auch aus seinem Kontext; es wird zur Farbe, zum Muster, zur Oberflächenstruktur, zur Figur, zum Kleid, das nur durch unsere notorische Neugierde partiell rekontextualisiert wird, vielleicht richtig, vielleicht falsch – doch das ist einerlei.

Das eigenwilligste – in gewissem Sinn auch das berührendste –  Blatt ist zweifellos das, welches Marie-Françoise Robert und Inga Vatter, welche diese Ausstellung von Seiten der Galerie, begleitet für die Einladungskarte gewählt haben. Es zeigt eine hölzerne Form, die uns an eine mit einem Kopftuch verschleierte Frauengestalt erinnert, die ihrerseits einer dunkleren, älter wirkenden Gestalt vorgelagert ist und auf ihrem Gesicht einen vielfarbigen Käfer trägt. Die Situation ist hell erleuchtet, der Käfer wirft sogar Schatten auf das Gesicht. Von Abwehr, Ekel gar  kann nicht die Rede sein, man könnte so weit gehen und sagen, die Frau schaut mit den Augen des Käfers, sind doch die „Pupillen“ – wenn man das bei einem Käferauge so sagen kann – zu uns Betrachtenden gewendet. Man muss nicht Psychologie studiert zu haben, um zu erkennen, dass der Künstlerin da gleichsam ein Bild für ihre langjährige Beschäftigung mit den Werken  ihres Gross- und Urgrossonkel Leo Paul und Paul André Robert im Umfeld der „Stiftung Sammlung Robert“ im Museum Neuhaus in Biel zugefallen ist. Ihnen waren ja bekanntlich Vögel, Schmetterlinge und Käfer die wichtigsten Motive, real und gleichzeitig auch in einem übertragenen Sinn. Es ist – so scheint mir das Blatt zu sagen – gleichzeitig eine lichterfüllte „Liebes“-Beziehung, aber natürlich zugleich auch eine, die den Blick einengt, keine Möglichkeit mehr gibt, anderes zu sehen. Zeitweise hat sich Marie-Françoise ja wirklich mit Haut und Haar für die Stiftung eingesetzt und der Preis für ausserordentliche kulturelle Verdienste, den die Stiftung jetzt im Dezember von der Stadt Biel zugesprochen erhält, gilt auch ihrer Arbeit.

Doch mehr als dieses biographische Moment irritiert mich natürlich wieder einmal das Medium Collage. Denn fast unbemerkt, hat sich die Malerei und die Zeichnung in ihre Collagen eingeschlichen. Und natürlich so raffiniert, dass es fast nicht zu eruieren ist. War dieser Schatten nun wirklich schon auf der Vorlage? Und was ist mit den winzigen grünen Unschärfen? Aber wie kommt es, dass der Käfer auf den Stofffalten sitzt? Ich weiss es nicht. „Ein bisschen Geheimnis muss sein“ hat Marie-Françoise gesagt als wir vor ein paar Tagen gemeinsam hier waren und über ihre Kunst gesprochen haben.

Dieses vermehrte Nutzen der Kombinationsmöglichkeiten von Collage und Malerei ist meiner Ansicht eine sehr positive Entwicklung, denn das kann die ab Bildschirm gedruckte Collage nicht, es sei denn der junge Künstler nutze sie als Untergrund für weitere Schritte. Es gibt nichts, das es nicht auch gibt. Hier aber scheint es mir ein Spiel, das die Souveränität der Künstlerin spiegelt, die heute nicht mehr vor der eigenen Präsenz zurückschreckt, sich nicht mehr hinter den Bildern der anderen versteckt, sondern weiss, dass sie heute alles darf.

Das zeigt insbesondere auch die Serie der „Schöpfungsversuche“, die nurmehr minimal „Collage“ sind, vor allem aber Zeichnung, mit einem weissen Gel-Stift wirkungsvoll auf schwarzes Tonpapier gesetzt.

Hier setzt die imaginäre Vorvergangenheit nicht 1439 ein, sondern in der Ursuppe vor Milliarden von Jahren und wer weiss, was sich in einer imaginären Zukunft daraus entwickeln wird, vielleicht schon längst entwickelt hat, nur (noch) nicht sichtbar für uns.

Ich danke fürs Zuhören.

Ausstellung bis 23. Oktober 2010