VERNISSAGEREDE FüR DINA WYLER ANLäSSLICH IHRER AUSSTELLUNG IM GEMEINDEHAUS WOHLEN

  1. OKTOBER 1992

 Annelise Zwez

liebe Vernissagegäste

„Im Alltäglichen das Wunderbare sehen“ steht handschriftlich notiert auf einem kleinen Karton über dem Abtropfbrett im Atelier von Dina Wyler – dort, wo die Künstlerin ihre Pinsel auswäscht. Ich denke, sie hat den Spruch dorthin gestellt, um immer wieder daran erinnert zu werden. Um weder in Gedanken noch im Anspruch an die eigene künstlerische Aeusserung die Bäume in den Himmel wachsen zu lassen. „Im Alltäglichen das Wunderbare sehen“ heisst doch nichts Anderes als im Hier und Heute zu leben, im Hier und Heute das Leben zu erkennen. Emma Kunz, die bedeutende Aargauer Künstlerin und Heilerin, hat ihre geometrischen Pendelzeichnungen, in denen sie die Gesetze des Lebens erkannte, oft mit bräunlicher Farbe umrandet oder von brauner oder grüner Farbe wegstrahlen lassen, um damit den Bezug des Irdischen zum Geistigen festzuschreiben. Auch das ist im Spruch vom Wunderbaren im Alltäglichen enthalten. Doch was heisst das nun in Bezug auf Dina Wyler einerseits  und in Bezug auf ihre Malerei andererseits?

In ihrem schönen, luftigen Atelierhaus in Berikon habe ich die Künstlerin gefragt, was sie denn von ihrer Jugend in Indien nach Europa mitgenommen habe. Und da antwortete sie mir unter anderem: „die Bewunderung für die Heiterkeit der Menschen, die ihrem materiellen Elend zum Trotz ihr Leben akzeptieren, weil sie es in grössere Zusammenhänge eingebettet sehen. Also auch da das Wunderbare im Alltag.

Nur, so einfach ist das ja alles nicht. Speziell für uns nicht, die wir überzeugt sind, im Leben ständig Erkenntnisse sammeln zu müssen, seien sie nun naturwissenschaftlicher, technischer, psychologischer oder geisteswissenschaftlicher Natur. Am Werk von Dina Wyler lässt sich das sehr schön ablesen.

Da ist zunächst die Frau, die sich wohlfühlt in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter, die in enger Beziehung zur Familie lebt – etwas, das sie in ihrer Jugend zum Teil vermisst hat. Als Auslandschweizer-Kind lebte Dina Farbstein  – so hiess die Künstlerin vor ihrer Heirat – ab dem Kindergartenalter weitgehend getrennt von ihren Eltern; sei es – noch vor Ausbruch des Krieges – in einem Kinderheim in Aegeri, später in verschiedenen Missionsschulen in Indien oder schliesslich als Gymnasiastin bei der Familie Wyler in Zürich.

Mit diesem gewollten Wohlsein übertünchte Dina Wyler manche Ecken und Kanten. Der Einstieg in die Malerei in der zweiten Hälfte der 60er Jahre signalisierte ein erstes Mal ein Bedürfnis nach Eigen-Ausdruck. Es spiegelt sich darin eine Parallele von Individual-Empfinden und gesellschaftlicher Entwicklung. In den späten 60er Jahren wurde die Stellung der Frau zum politischen Thema. Dina Wyler nahm Malunterricht bei Henri Schmid, doch das Frauen-Schema, das sich Anpassen an den Mann, an den Lehrer, ging ( noch ) mit ihr, bis sie erkannte, dass das Annehmen eines vorgekauten Malstils nicht das war, was sie suchte. Sie wechselte zu Hans Neuburg ins eher abstrakt-theoretische Feld und nahm sich von dort, was Echo in ihr auslöste.

Nachhaltigen Eindruck hinterliess zum Beispiel das Werk von Carlotta Stocker – einer Frau, die sich in ihrer an sich traditionellen Malerei Freiheiten herausnahm, die in konservativen Kreisen ( noch ) nicht erlaubt waren. Da begann sich auch bei Dina Wyler etwas zu lösen, frei zu werden. Motivisch blieb sie indes in ihrem engeren Lebensumfeld. Sie machte die alltäglichen Dinge zum leichten, bunten Fest. Und hatte Erfolg damit. Alle, die das Unbeschwerte suchten – vielleicht weil sie es in sich vermissten – reagierten auf die mit zeichnerischem Können formulierte Fröhlichkeit in ihren freien, häuslichen Stilleben. Diese Freude hat ihre Legitimation. Aber: Zur Kunst gehört nun einmal Entwicklung. Repetition von Erreichtem ist Dekoration.

Nur: wie weiterkommen? Manchmal führt einen das Leben selbst an den „Point of no return“. Für Dina Wyler brach Mitte der 80er Jahre manches auf respektive ab. Der Tod der Eltern, das endgültige Erwachsenwerden der Kinder, das eigene Aelterwerden und das des Lebenspartners drängten lange Zeit besänftigte Fragen mit Vehemenz an die Oberfläche. Und es wuchs – der Zeit entsprechend – die Erkenntnis, dass die Antworten im eigenen Körper, im eigenen Denken, im eigenen Handeln zu suchen sind. In der Kunst brachte dies ein ziemlich abrupte Abwendung von den Dingen hin zu ungegenständlichen, konstruktiven Bildern.

Der Schein trügt indes in gewissem Sinn. Es ging und geht nach wie vor um Elemente, die  zueinander in Beziehung stehen, nur sind sie jetzt nicht mehr mit realen Begriffen zu benennen, sondern heissen: blau, ockergelb, rostrot, weiss, schwarz; heissen Dreieck, Vieleck, Rechteck, Linie und Punkt. Durch ineinanderschieben, überlagern, überdecken, freischieben von Flächen entsteht eine reliefartige Komposition. Die einzelnen Farb-Formen – die Formen, die jeweils eine Farbe tragen – sind in sich nicht langweilig monochrom, statisch; durch die Pinselschrift, durch Collagelemente, die mehr als Struktur, denn als Fläche eingesetzt sind, erhält jedes Element seinen Charakter. Dadurch tritt zur rein kompositionellen Anlage ein lyrisches, ein empfindungsmässiges, ein emotionelles Moment. Wenn ein chrümeliges, gräulich-schmutziges „Weiss“ auf ein sattes, kräftiges, leicht schwarz verflecktes Rot trifft, so ist das etwas ganz Anderes als wenn ein mit weisslichen Spuren aufgelockertes, dunkles Blau sich unter einem lichten, weissen, leicht farbschattierten Streifen schiebt und noch einmal etwas ganz Anderes wenn in ein wolkiges, von der Form her aber kantig hartes Lachsrosa ein fast schwarzer Keil stösst, den das Auge fast automatisch zur spaltartigen „Verletzung“ rechts davon in Beziehung setzt.

Wir sehen:  Diese ungegenständlichen Bilder müssen so exakt gelesen werden wie ein Potpourri von Gegenständen. Nur ist es schwieriger, das Sehen in Worte zu packen – so wie es immer viel leichter ist über etwas Sachliches zu diskutieren als über Gefühle, über psychische Verhaltensweisen. Da wird alles gleich so vielschichtig, so beziehungsreich, dass wir eher ein Bild davon malen können als klare Wortkonturen herauszuarbeiten. Und damit sind wir nun mitten in der Bildthematik von Dina Wyler.  In ihrem neuesten Tryptichon – einer zwölfteiligen Monotypie – führt sie uns wie in einem Lexikon vor, was eigentlich in Ueberlagerungen in allen Bildern stattfindet. Die einzelnen Quadrate tragen nämlich Titel wie „gespalten“, „blockiert“, „in Ruhe“, „heiter“ usw. also alles an sich bildlich leicht lesbare Gemütszustände, die als Summe die verschiedenen Aspekte menschlicher Befindlichkeit ausdrücken.

Diese Monotypie – die jüngste technische Vorliebe der Künstlerin – trägt im Entstehungsprozess die Herausforderung in sich, dass man nie genau weiss wie sich zwei Farben übereinander verhalten, wie sich die Farbdichte auf die nächste Bildschicht – oder präziser – Druckschicht auswirken wird. Im übertragenen Sinn ist das eine Auseinandersetzung mit Unerwartetem, nicht Berechenbarem und somit ein ständiger Lernprozess. Das mag es sein, was Dina Wyler daran fasziniert. Die Frage ist nur – wie steht es mit uns – mit der Rezeption. Können wir diesen Prozess noch nachvollziehen, die wir nur das Resultat sehen? Empfinden wir den entfremdenden Vorgang des Abdruckes als angenehme Distanzierung oder als Kluft zur Künstlerin? Ich weiss die Antwort nicht – ich lasse die Frage darum im Raum stehen.

Es darf hier nicht ausgeklammert werden wie ein grosser Teil der Bilder – nicht der Monotypien – entsteht. Es sind nämlich vom Malprozess her betrachtet keine konstruktiven Bilder. Das heisst: Dina Wyler „spielt“ nicht mit Bausteinen bis die Komposition im Gleichgewicht ist. Sie sucht vielmehr in der realen Welt – und das ist sinnbildlich nicht unbedeutsam – die Bild-Anlage und überträgt sie dann dialoghaft aufs Papier, auf die Leinwand. Im Grunde genommen hat sich – so können wir feststellen –  gegenüber früheren Bildern eigentlich gar nichts verändert, nur dient jetzt nicht das Haus als Füllhorn, sondern Schrotthaufen, Haufen von Weggeworfenem, Kantigem, Wiederborstigem, Verletzungsgefährlichem, Rostigem. Das leicht Revolutionäre in diesem Schritt, in diesem Motivwandel soll nicht übersehen werden. Mit dem Fotoapparat ist Dina Wyler unterwegs – meist jagen sie die Alteisenhändler nach kurzer Zeit wieder fort, weil sie denken, da sei eine „Grüne“ auf Pirsch… nichts gegen kritisches, vielleicht sogar dokumentierendes Schauen, aber da stimmt’s nun wirklich nicht.

In einem zweiten Schritt untersucht Dina Wyler die Fotos mit kleinen quadratischen Rähmchen; sie sucht nach Bildern, nach Situationen, die etwas in ihr auslösen. Unser Auge hat ja die phänomenale Fähigkeit verschiedenste Elemente, Gewichte, Richtungen so miteinander zu vernetzen, dass sich die Empfindung von Gleichgewicht einstellt. Sie kennen das alle: Wenn man, zum Beispiel in einem alten Haus, Bilder aufhängt – ich habe dies diese Woche getan – dann kann man keine Wasserwaage brauchen, sonst wird’s krumm. Man muss nämlich krumm aufhängen, damit’s gerade wirkt.  Das ist das optische Phänomen, das Künstler und Künstlerinnen einsetzen – bei sich und für uns – damit sie und wir im Komplexen, oft sogar Widersprüchlichen, Zerstrittenen schliesslich doch Gleichgewicht spüren und weil Gleichgewicht auch Harmonie heisst und Harmonie etwas „Wunderbares“ ist, wären wir am Schluss wieder am Anfang, beim Leit-Spruch von Dina Wyler, wonach im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen, vielleicht besser zu suchen ist.

Ich danke fürs Zuhören.