Annelise Zwez setzte im Hinblick auf eine Publikation des Emma Kunz-Zentrums 1993/94 mit der Frage auseinander inwieweit Emma Kunz eine Mystikerin war.
„Der amerikanische Physiker und Philosoph Fritjof Capra vergleicht in „Tao der Physik“ (1975) – dem Grundlagen-Text für die „Wende-zeit“ – die westliche Naturwissenschaft mit der östlichen Mystik und kommt dabei zum erstaunlichen Schluss, dass die beiden Er-kenntnis-Wege einander im Kern sehr stark ähneln. Fritjof Capra geht dabei von der modernen Physik aus, die schon anfangs des 20. Jahrhunderts erkannt hat, dass weder Materie noch Raum noch Zeit festgefügte Einheiten sind, sondern Strukturen, die sich in kom-plexester Vernetzung ständig wandeln; eine Physik, die im mikro-kosmischen Bereich nicht mehr grundlegend unterscheidet zwischen Materie und Nichtmaterie. Genau diese Grenzüberschreitung, dieses Wahrnehmen von Welt diesseits und jenseits alltäglicher Sinnes-erfahrung, war seit jeher Ziel der östlichen Mystiker. Und inso-fern können westlich-naturwissenschaftliches Forschen und östlich-meditative Versenkung als zwei vergleichbare Wege mit ähnlichen Erkenntnis-Strukturen bezeichnet werden.
Nicht zufällig zitiert Capra in seinem Buch den indischen Mystiker Sri Aurobindo ( 1872 – 1950), dessen Ziel es war, westliches und östliches Gedankengut miteinander zu verbinden. Sri Aurobindo wusste vom Schaffen und Denken von Emma Kunz und es ist bekannt, dass er sie zu dreien Malen durch Abgesandte einlud, als Meisterin in seiner Stätte der Begegnung in Auroville zu lehren. Offen-sichtlich erkannte er, dass Emma Kunz in ihrem Wirken sowohl auf Feinstofflichkeit ausgerichtete Meditation wie auf die Erkenntnis der sichtbaren Natur angelegte Forschung betrieb. Dass sie also im Sinne Fritjof Capras östliche Mystikerin und westliche Natur-wissenschafterin in einem war. Emma Kunz empfand ihren Weg indes als Einheit und auch als selbstverständlich. Insofern sah sie ihren Platz hier und nicht in Indien, im Christentum und nicht im Hinduismus. Diese „Selbstverständlichkeit“ zeigt sich zum Beispiel in den beiden didaktischen Zeichenbüchlein, die Emma Kunz anfangs der 50er Jahre herausgab, in der Ueberzeugung, dass alle Menschen ihre Methode anwenden und damit neue Erkenntnisse erlangen könnten.
So einfach ist die Sache indes nicht. Emma Kunz in Bezug auf die 40er und 50er Jahre unseres Jahrhunderts als Naturforscherin zu bezeichnen – wie sie selbst es stets getan hat – ist gewagt… aber dennoch richtig. Capra sagt ja gerade – wenn auch 20 bis 30 Jahre später – , dass der westlich-offzielle Weg nicht der einzig mögliche ist. Der grundlegende Unterschied zwischen der empi-rischen Naturwissenschaft von Emma Kunz und der analytischen unserer Universitäten besteht darin, dass Emma Kunz ihr Wissen direkt aus der Natur – Natur als Ganzheit verstanden – bezog und unmittelbar in Tätigkeit umsetzte, sei diese diagnostischer, heilender oder zeichnerisch-künstlerischer Art. Das einzige Hilfs-mittel, das sie dabei einsetzte war das Pendel. Ein Instrument , das – bei meditativer Versenkung des personalen Mediums – immaterielle Energiefrequenzen aufzuzeigen vermag, die unabhängig sind von den individuellen Gegebenheiten der Person, die das Pendel schwingen lässt.
Kommt nun die moderne Physik zur Einsicht, dass alles, ob Materie oder Nichtmaterie, im Innersten komplexen energetischen Strukturen entspricht, die sich als Bewegungen manifestieren, so muss auch das Werk von Emma Kunz, das sie uns in ihren Zeichnungen hinterlassen hat, unter diesem erst heute möglichen Blickwinkel neu betrachtet werden. Denn jeder Pendelausschlag ist eine Bewegung energetischer Struktur. Das zeichnerische Werk von Emma Kunz ist somit bildhafte Umsetzung von Schwingungen wie sie sowohl in der Materie wie der Nichtmaterie – dem für uns Greifbaren und dem für uns Nichtgreifbaren – enthalten sind, mehr noch, diese überhaupt erst bilden.
Seit der griechischen Antike bewegten sich Materie und Geist im europäisch bestimmten Denkfeld voneinander weg. Philosophie, Religion und Naturwissenschaften gingen getrennt Wege. Dass die Gegenwart aufgrund moderner Erkenntisse die Möglichkeit einer „Wende“ bietet, ist faszinierend. Das Werk vom Emma Kunz ist indes ein grossartiges Zeugnis dafür, dass es immer wieder Menschen gab, die unabhängig vom breiten Entwicklungsstrom Visionen zu formu-lieren vermochten, in welchen Materie und Geist als Einheit verstanden wurden. Emma Kunz hätte ihr Schaffen freilich kaum als visionär bezeichnet, sie sprach von Forschung. Zwei Aspekte müssen dennoch hellhörig machen: Das von Emma Kunz immer wieder ausgesprochene Verbot, ihre eigenen – oft wortreichen und bildlich präzisen – Deutungen aufzuschreiben, beinhaltet eine Radikalität, die nur in der Aussage, „mein Werk ist für das 21. Jahrhundert bestimmt“, Antwort findet. In der Ballung ist diese Haltung, analog der Vision, zukunftsgerichtet.
Es gibt indes kein Erkennen, das nicht trotz aller Eigen-ständigkeit Wurzeln in der Vergangenheit hat. Und da gibt es vor allem einen Brennpunkt: Paracelsus. Man weiss, dass sich Emma Kunz aus den Werken von Paracelsus vorlesen liess. Hören, und auch fühlen, waren für Emma Kunz zeitlebens inhaltsreicher als lesen. Paracelsus (1493 – 1541) fasste in sein naturwissenschaftlich orientiertes Denken einerseits das mittelalterliche Selbstver-ständnis einer Einheit von Diesseits und Jenseits, andererseits die neuzeitliche, forschende Sicht auf die Natur; eine Haltung, die spätestens mit Descartes (1596 – 1650) für Jahrhunderte in Vergessenheit geriet und erst heute in ihrer Bedeutung wieder-erkannt wird. Es ist insbesondere Paracelsus‘ Ueberzeugung, dass in aller Materie dasselbe „Licht“ – die östlichen Mystiker würden sagen dasselbe „Tao“ – im Sinne einer sich unablässig wandelnden „Bildekraft“ manifestiere, das in den Pendelzeichnungen von Emma Kunz nachvollzogen werden kann. Ersetzt man „Licht“ durch Schwingung oder Vibration, „Bildekraft“ durch Rhythmus, Mass und Zahl und betrachtet den Wandel als die Dynamik der Form, so zeigen sich die Zeichnungen von Emma Kunz durchaus als paracelsische Bildvisionen des 20. Jahrhunderts.
Kehrt man von hier aus zur Frage zurück inwieweit Emma Kunz eine Mystikerin war, so zeigt sich, dass der westliche Begriff des Mystikers als eines von der Materie Abgehobenen nicht zutrifft und auch der östliche Begriff nur einen Teil, nämlich den die Materie durchdringenden, charakterisiert. Emma Kunz ist es vielmehr auf grund ihrer intuitiven – sich dem Geistigen öffnenden – Kraft gelungen, das Mystische und das Materielle in einer ebenso individuellen wie umfassenden Weltsicht miteinander zu verbinden. Und das macht ihr Werk zum Bindeglied zwischen West und Ost, aber auch zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“