Gedanken zum künstlerischen Schaffen von Sylvia Zumbach
Annelise Zwez
Der Künstler und Publizist Sandro Boccola hat kürzlich eine neue „Kunstgeschichte der Moderne“ publiziert. Sein Blick gilt nicht der formalen Entwicklung, sondern den psychisch- geistigen Triebfedern. Schon 1985 ist in den USA ein Buch über „Das Geistige in der Kunst 1890 – 1980“ erschienen. Solche Sichtweisen öffnen reiche – und beglückende – Denk-Felder. Sie vernetzen die Werke vieler Kunstschaffenden unter neuen, inhaltsbetonten Aspekten.
Auch das Schaffen von Sylvia Zumbach entfaltet Fülle vor diesem Hintergrund. Wenn Sandro Boccola die ungegenständliche Kunst nach 1945 als Formen der Annäherung an immaterielle Kräfte bezeichnet und „geistige Reali-tätsbewältigung“ als Motivation nennt, so trifft er damit auch das Zentrum der neuen Zeichnungen von Sylvia Zumbach. Es geht der Künstlerin um das Erforschen der energetischen Qualität der Linie, einzeln und im Verbund.
Ob Sylvia Zumbach die Linie zögernd und wachsam zugleich vom linken zum rechten Bildrand führt, ob sie das Papier als entschlossene Geste durchmisst, immer geht es um Ausdruck von Energie: meditativer, stiller hier, impulsbetonter dort. Nie ist eine Linie allein, immer steht sie in Beziehung zu anderen Zügen. Da sind es handschriftliche Parallelen, dort verdichten sich die zeichnenden Bewegungen zur vibrierenden Form.
Im künstlerischen Schaffen von Sylvia Zumbach hat in den letzten Jahren eine markante Entwicklung eingesetzt. Im Kern ist ihr Wollen jedoch seit den 50er Jahren fassbar, ja eigentlich schon in der Ausbildung ( 1947 – 1951) angelegt. Sylvia Zumbach besuchte an der Kunstgewerbeschule Zürich sowohl die Textil-Kurse bei Elsi Giauque wie den Malerei-Unterricht bei Otto Morach und das Zeichnen bei Ernst Gubler. Material, Farbe, Form, Linie. In unterschiedlichen Gewichtungen – und vor allem auch Techniken – sind die vier Elemente in allen Werken der Künstlerin bedacht.
Der Tuschestift, der in den Zeichnungen „Augengleiten“ die blauen Luft-Felder beschreibt, ist so bewusst gewählt wie einst die Textur der Stoffe für die Quilts. Und die nach Beschaffenheit und Farbe ausgesuchten Stoffbänder finden ihr Aequivalent in den Linien, deren Zwischenräume Streifen bilden. Und die Präzision der Quilt-Ornamente findet Echo in den Zähl-Strukturen der Haar-Objekte und den nach Menge und Mass konzipierten neuen, grossen Zeichnungen. Sophie Täuber war nicht die einzige Künstlerin, die in den Eigenschaften textiler Kunst einen Fundus für die Entfaltung ihres Schaffens fand.
Sylvia Zumbachs Werk hat sich auf mehreren Ebenen entwickelt. Im Bereich der Malerei fallen in den 70er Jahren die Auseinandersetzungen mit dem Thema des Paares in Form von Doppelporträts auf. Es sind keine Geschlechterkämpfe, wohl aber Formen eines Bewusstseinsprozesses. In den Mohnblätter-Aquarellen, auf feinem, sich kräuselndem Papier, wächst in den frühen 80er Jahren das Sinnlich-Weibliche zur eigenständigen Qualität.
In den Haar-Objekten der Jahre 1989 – 91 verbinden sich die weibliche Intimität und Erfahrungen um die Vergänglichkeit des Lebens mit dem Wunsch, das Erleben und Erkennen zu bündeln, zu Form zu verdichten. Ein Jahr lang zählt Sylvia Zumbach täglich ihre ausfallenden Haare, verknüpft sie zu zehnt und legt sie lose auf ein schwarzes Papier: Das tote, weisse Haar wird zur lebendigen Form und in der Empfindung zum Ausdruck abstrakter Energie.
Haare sind Fäden… und Linien. Es kommt der Moment, da braucht Sylvia Zumbach die Körpernähe des eigenen Haares nicht mehr. Die Zeichnung wird zur Umsetzung des in den Haar-Objekten Erkannten: die Kraft, die Sensibilität und die Sinnlichkeit der Linie, die selbst im feinsten Ausdruck Gestalt ihrer selbst ist; als Seismographin des Individuellen, in der Multiplizierung aber auch als energetischer Prozess hin zur Form.
In zwei Zeichnungs-Zyklen findet Sylvia Zumbach 1994 zu Werken, die quasi visualisieren was die Künstlerin meint, wenn sie in Bezug auf ihr gesamtes Schaffen sagt: „Ich kann nur arbeiten, wenn ich bei mir bin“.
Vier 70 x 100 cm grosse Arbeiten auf Papier zeigen in einer Masseinheit von je 6000 Tusche-Strichen zunächst ein knäueliges Durcheinander von Lineamenten. Dann gibt die Künstlerin den Strichen Richtung, durchmisst mit ihnen das Blatt, bündelt sie leicht gekreuzt. Die Linien kommen aus dem Nichts, manifestieren sich und verschwinden wieder, 6000 an der Zahl. Eine Tabelle auf dem Blatt zählt die Hunderter. Im dritten Blatt ordnen sie sich in die Horizontale. Zuletzt wird das Gebündelte gestrafft, der Start auf der linken Seite festgeschrieben. In einem zweiten Zyklus mit je 3000 Linien definiert die Künstlerin auch die rechte Seite. Die Energie der Linien ist nun in ein vorgegebenes Feld komprimiert. Die Blätter ähneln sich und sind doch nicht identisch. Die Reihen sind Weg vom Einzelnen zum Ganzen, Weg zur Form, Weg zur differenzierten Ordnung auch; und das „bei mir sein“ ist analog ein konzentriertes Gleichgewicht von Geschehen-Lassen, Reflektieren und Erkennen.
Immer wieder sucht die Künstlerin dieses Equilibre und sie experimentiert auch damit. Einige der dichten Strich-Zeichnungen sind teilweise blind entstanden, um den Prozess der Form-Werdung aus einer Vielzahl von Linien aequivalenter Bedeutung nicht äusserlich zu bestimmen, sondern als Kraftfeld aus sich selbst wachsen zu lassen. Andere Zeichnungen markieren eher den Gegenpol, sie suchen die Dichte innerhalb vorgegebener, optischer Parameter.
Die Linie, die nicht Umriss meint, sondern in erster Linie sich selbst, fasziniert die Künstler und Künstlerinnen seit Jahrzehnten. Die Ecriture automatique der Surrealisten war nur eine kurze, experimentelle Episode. Wichtiger war zweifellos Mark Tobey, der in den 40er Jahren mit seinen feinen, mehrschichtigen, meist kantigen Linien-Netzen die „Schrift“ als abstrakten Ausdruck geistiger Konzentration in die Kunst einführte. Die Linie als Seismograph der körperlichen Befindlichkeit hingegen wurzelt im Wesentlichen in den seit den späten 50er Jahren entstehenden Bildäusserungen Cy Twomblys. Seither hat eine Vielzahl von bedeutenden Kunstschaffenden das gestalterische Potential der autonomen Linie weiter bearbeitet, oft, aber nicht immer, als Vernetzung von geistigen und psychischen Impulsen. Die spontane Sprache des Zeichnens hat im Erforschen der Vielfalt der Linie eines ihrer wesentlichsten Themen gefunden.
9. Januar 1995