Vernissagerede anlässlich der Eröffnungsausstellung im „Raum für Kunst“ in der Stadtscheune in Mellingen

  1. November 1997

Annelise Zwez

liebe Mellinger, liebe Kunstschaffende

Ich muss Ihnen etwas gestehen: Obwohl Lenzburg, wo ich seit 26 Jahren wohnhaft bin, nur ein paar Ortschaften von hier entfernt ist, bin ich seit Jahren nicht mehr in Mellingen gewesen. Sie können die Geschichte zitieren und sagen, die neu-gläubigen Landvogteien des Berner Aargaus hätten eh nie etwas am Hut gehabt mit den katholischen der Freien Aemter. Doch das ist nicht der Grund. Mein Beruf als Vermittlerin zeitgenössischer Kunst führt mich ganz einfach nur dorthin, wo über „Kunst heute“ nachgedacht wird. Und das war, verzeihen sie mir die Direktheit dieser Aussage, bisher in Mellingen im öffentlichen Raum nicht der Fall. Umsomehr freue ich mich, hier und heute, einen „Raum für Kunst“ – einweihen zu dürfen, wo sich, so scheint mir, heutige Kunst wohl fühlt. Was sie hier sehen, ist keine Kunstausstellung im gängigen Sinn, sondern ein bildnerisches Gespräch zwischen Kunst und Raum.

Und weil der, bis auf ein paar „Unglücksfälle“, eindrücklich renovierte Raum ein ausgesprochen „gesprächiger“ ist, dreht sich das künstlerische Gespräch nicht um „Raum“ an sich, sondern um diesen Raum, diesen Ort, mit allem was er ist und war. Und weil die Vergangenheit ja glücklicherweise gar nicht so bekannt ist, verweisen die Arbeiten der elf hier versammelten Kunstschaffenden aus aargauischen Landen rund um Mellingen auch auf Dinge, die hätten sein können und verbinden so das Gegebene mit dem Möglichen zu dem, was Kunst ist. Felix Stampfli, einer der hier vertretenen Künstler, definierte Kunst kürzlich als Schnittstelle zwischen Frage und Antwort. Dieser Raum, dieses ganze Haus hier, ist voller Fragen. Die Antworten jedoch, die sind wir selbst, die Antworten sind unser Handeln, unser Denken, unser Gestalten. Kunstschaffende machen uns das mit ihren bildnerischen Formulierungen bewusst.

„Suche!“ nennt Hans Anliker das Bild, das er für diese Ausstellung gemalt hat. Es ist das Abbild eines Quadratmeters aus diesem Raum. Abbild? Ja und nein. Das „Suche!“ verweist darauf, dass der Ausgangspunkt zu finden ist, aber das Bild zeigt nicht die Mauer, sondern das, was die Mauer an Lust, an Gefühlen, an Vorstellungen in ihm ausgelöst hat. Es hat ihn so gepackt, dass er gleich noch weiter in die Krümel des Gesteins einstieg und daselbst eine malerische Sprache entdeckte, die fast schon Poesie ist. Ja, diese Mauer, dieses „suche“, dieses „wandle“ – das hat die Kunstschaffenden gepackt, in jedem Werk taucht sie auf und je ganz anders. Das Gegebene und das Mögliche – die Welt im Kopf ist unendlich. Und eigentlich spricht das nicht nur für die Künstler und Künstlerinnen, sondern auch für jene, die den Mut hatten, diese Mauer als Spurensammlung der Geschichte zu belassen, Spuren der Zeit und Spuren des Lebens. Eigentlich drängte es mich jetzt, von den – ich weiss es nicht – Schusslöchern in der Umsetzung von Andreas Holstein zu erzählen, doch damit würde ich – kunstgeschichtlich gesehen – etwas wahllos.

Denn dass ich Hans Anliker als erstes erwähnt habe, hat seinen Grund; seine Annährung an die Mauer ist die uns vertrauteste Umsetzung – denn seit dem Impressionismus haben alte Mauern, alte Fresken auch, die Maler immer und immer wieder zum Wechselspiel zwischen Sichtbarkeit und Interpretation inspiriert. Ich will versuchen, in der Abfolge nicht nur dem Assoziativen zu folgen, sondern auch der Entwicklung der Kunst. Malerei im saftigen Sinn des Wortes gehört auch zu Gabriel Rosenberg, der die überschäumende Wachstumskraft der Natur in Relation zur Kleinheit eines architektonischen Raumes stellt. Während die Mangroven übergross, sinnlich und saftig erscheinen, sind die Blicke in den Raum nur kleine Zellen, als wollte der Künstler uns sagen, das lustvolle Fühlen und Sein sei die Essenz des Lebens, nicht das äusserlich Gebaute. Ich würde Gabriel Rosenberg gerne mit einer Zeitmaschine an den Stammtisch der Brücke-Künstler nach Dresden schicken und hören, was sie miteinander diskutieren, was Rosenberg ihnen zusätzlich zum Gemeinsamen von den Vorzügen der Stilisierung und den Möglichkeiten dialektischer Einschübe erzählt.

Von Malerei ist auch bezüglich der Arbeit von Matthias Blülle zu sprechen, hier nun aber deutlich in den Kontext von Wahrnehmungsstrukturen eingebettet, wie sie die Konzeptkunst ins bildnerische Gestalten eingeführt hat. Denn es gibt nur einen Standort, wo die drei dem Mass der Türe entsprechenden Bildtafeln sich nahtlos in die Raumgegebenheiten einfügen und damit die architektonische Flächenstruktur der Bilder einsichtig machen. Matthias Blülle ist übrigens der Einzige hier, der auf die Einbauten einging, wobei er sie sinnigerweise weiss belässt, während ihn Ausblick, Boden und Seitenmauer zu intensiven, malerischen Gesprächen zwischen Impression und Informel anregten. Damit ist das Kapitel „Malerei“ schon fast abgeschlossen – der Einsatz verschiedenster visueller Medien in ein und derselben Ausstellung ist heutiger Kunstausdruck.

In die Nähe der Malerei, aber mit deutlichen Einschüben von „arte povera“, Konzeptkunst und aktuellem Medientransfer, gehört das mehrteilige Bild von Stefan Link, das Zeit, Ort und Gestaltung dicht verbindet. Alte Schindeln aus dem 18. Jahrhundert kombiniert er mit Kalkputz, nimmt im Raum vorgefundene ornamentale Spuren auf, und konstrastiert die materiellen Zeitebenen mit dem fotografischen Ausblick aus einem der schmalen gotischen Fenster-Scharten, konserviert sie aber gleich mit einer Wachsschicht, und reiht sie damit in die Struktur der „Spuren der Zeit“. Die Zeit ist in einem historischen Gebäude ein faszinierendes Moment, einerseits scheint sich Dauer in der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart zum Moment zu verkürzen, andererseits erscheint sie wie ein Konzentrat, das Impulse in tausend Richtungen aussenden kann.

Letzteres nutzt Bruno Landis für seine geheimnisvolle Arbeit. In der dreistöckigen Vitrine, die quasi der Stadtscheune in ihm selbst entspricht, legt er im „Bibliothek“ Büchlein aus, die ihn mitgeprägt haben – von Wittgensteins Tractatus bis zur Kakteenforschung. Der mittlere Stock – die Kunst-Etage – prägt er durch schreiben und zeichnen, und auf der Museumsebene präsentiert er Beispiele aus dem eigenen Fundus. Es mag erhellend sein, dass Bruno Landis seine Arbeiten in den späten 70er Jahren als „Funde aus Atlandis“ bezeichnete. Dass der Steinzeitforscher, der Landis auch ist, seinen eigenen „archäologischen“ Objekten zwei wirklich alte aus der Stein- respektive Bronzezeit zugesellt,ist ein Stück Brunod Landis. Heimtückisch ist seine zweite Vitrine mit einem roten Schweizerpass und einem schwarzen Kaminfegerbüchlein. Le Rouge et le Noir, nicht von Stendhal, sondern  gleich neben Wohlenschwil und mitten in der Diskussion um EU-Grenzen und -Nationalitäten – ob da noch mancher Kamin wieder einmal zu russen wäre? Bruno Landis liebt das Kleine und die Fülle.

Eigentlich gilt das auch für Arlette Ochsner.Sie  zeigt quasi die abstrakte Struktur dessen, was Landis erzählerisch suggeriert.“Gedanken-Squash“ nennt sie ihre Arbeit, ausgehend von einer zugemauerten Scharte. Sie nahm den Innenraum, die Formen, die Masse, die Proportionen, baute sie im Atelier nach und begann die konstruktiven Wandlungsmöglichkeiten aufzuzeichnen. Statt schliesslich eine gültige zu präsentierten, dokumentiert sie den Prozess des bildnerischen Denkens – Seitenwände, Decken, Simse werden gefächert, gedreht, vervielfacht, vernetzt, übermalt und wieder eingeschoben, aufgestellt, abgekippt. Der Gedanke an die Arbeitsweise von Computer-Software ist im Hause Stampfli/Ochsner gewiss nicht abwegig; gleichzeitig – und spannenderweise – spiegelt ihre Arbeit aber auch die Zeit und ihre Wandlungen. Ganz anders kommt die Zeit in der Arbeit von Valerie Balmer daher. Gemächlicher, naturnaher. Das konzeptuelle Element, das sie einbringt, scheint mir wichtig, denn es erinnert daran, dass Zeit nicht beliebig ist, sondern mit der Natur verbunden. Ihre Arbeiten aus Holz, Pigmenten und Sand zeigen 10 Minuten Sonne, wie sie den Raum hier durch die schmalen Scharten erhellt, wandert und wieder geht. Nur alle 365 Tage scheint dieselbe Form zur selben Zeit wieder auf.

Während sich Valerie Balmer auf Moment und gegebene Gesetzmässigkeit abstützt, scheint Andreas Holstein Gesetzmässigkeit zu schaffen. Ausgangspunkt war ihm ein etwa 2×2 Meter grosses Mauerfeld mit seltsamen Löchern. Wann und warum einst Geschosse in diese Mauer donnerten, wissen wir nicht. Andreas Holstein geht scheinbar nicht darauf ein, sondern untersucht das Punktefeld auf horizontale, vertikale und diagonale Verbindungsmöglichkeiten. Dass in diesem Zufallsfeld so viel Geometrie steckt, ist erstaunlich und faszinierend. Und so geben denn seine bearbeiteten Fotografien keine Antworten, sondern verdoppeln die Fragen. Spannung.

Fragen ganz anderer Art wirft die  konzeptuelle, Medien und Technik auf hohem Stand einsetzende Arbeit von Felix Stampfli auf. Fragen, auf die es Antworten gibt, das Resultat aber nicht Sättigung sondern Mehrwert ist. Die Arbeit heisst „Prétexte III“, was darauf hinweist, dass sich der Künstler seit langem mit der Erscheinungsweise von Oberflächen – vom Bildschirm bis zurück zur Mauer aus dem Mittelalter – auseinandersetzt. Welches Stück er aus der Mauer „herausgeschnitten“ hat, mögen Sie selbst suchen. Das topographisch einer Landschaft ähnelnde Stück Mauer von 30 x 30 Zentimeter wurde von zwei Standorten aus fotografiert, dann mittels eines 3D-Scanners digitalisiert und – einer Landkarte gleich – mit Höhenkurven versehen. Diese Datei diente einer Laser-Schneidemaschine als Ausgangspunkt für ein Metall-Puzzle. Durch Aufkleben einer konventionellen Farbfotografie vom gewählten Feld und durch Reliefierung gemäss den Höhenkurven entstand eine räumliche Landschaft, die sich spiegelbildlich verdoppelt nach unten fortsetzt. Sehen wir das Objekt hier unten räumlich, fällt es von oben betrachtet wieder in sich zusammen und behält gleichzeitig eine ungeahnte Räumlichkeit, wie es auch die frontal von oben aufgenommene Fotografie im oberen Stock zeigt.

Felix Stampflis Arbeit zeigt exemplarisch wie sich unser Blick durch technische Möglichkeiten heute laufend ausweitet. Das Orginal verliert an Bedeutung gegenüber seinen Wandlungen oder anders ausgedrückt, es gibt nicht mehr nur ein Original, umsoweniger als dieses ja nur uns, mit unseren Augen so als Original erscheint. Dass diese Arbeit 90er Jahr-abhängig ist, ist vom Technischen her klar, aber eigentlich auch durch die Selbstverständlichkeit wie der Künstler sich hier nicht mehr als Alleskönner definiert, sondern die Zusammenarbeit mit Fachleuten sucht, um gemeinsam Neues zu erkennen und zu schaffen. Zum Phänomen der Medienvielfalt gehört auch die Tatsache, dass Künstlerinnen und Künstler sich heute nicht mehr an ein Medium klammern, sondern bei Gelegenheiten – wie dieser hier zum Beispiel – andere, für sie neue Ausdrucksformen ausprobieren, wobei Zusammenarbeitsformen ins gleiche Thema gehören. Beda Büchi und Miriam Helle sind weder ein Künstlerpaar noch ein Künstlerteam; was sie für hier erarbeitet haben, ist ein „Viduo“, ein Zusammenarbeitsexperiment. Es zeigt auf wie gemeinsam Gefilmtes, somit am Schnittplatz Gegebenes, sich durch zwei künstlerische Haltungen in zwei Sprachen verwandeln kann. Sie haben sich – vielleicht gegeben durch das Medium und die Spannung des gemeinsamen Tuns – am stärksten vom Raum gelöst und Leben im Raum, zusammen mit vorgefundenen Gegenständen bis hinein ins Museum, neu formuliert. Welche der beiden, nun im stillen Kämmerlein  und je für sich bearbeiteten Sequenzen von der Frau und welche vom Mann ist, brauche ich ihnen nicht zu erklären.

Schauen und Suchen ist angesagt, ich danke fürs Zuhören.