Konsumbäckerei Solothurn: Künstler schaffen Denk- u Körperräume 1999

Sind unsere Füsse noch auf dem Boden?

www.annelisezwez.ch  Bis 04.07.1999

Via Netz ist die Welt heute überall. Und wo sind wir? Sind wir im Raum drinnen oder draussen? Und auf der Strasse? Solchen Gedanken gehen Künstler in «Chambresville» in Solothurn nach.

Die zeitgenössische Kunstszene ist im Umbruch. Die jungen Künstlerinnen und Künstler fühlen sich in herkömmlichen Galerien nicht mehr wohl. Sie wollen Freiräume, nicht «Werke» ausstellen. Aus diesem Bedürfnis heraus haben sich «Alternative Kunsträume» entwickelt, die oft von Kunstschaffenden und zugewandten Orten im Team geführt werden. Der «Kaskadenkondensator» in Basel, Das «Hotel» in Zürich, der «Kunstraum» in Aarau, die «Konsumbäckerei» in Solothurn, der «Kunstkanal» in Bern, «Circuit» in Lausanne sind Beispiele.

Spätestens seit die grosse Szenenausstellung «Freie Sicht aufs Mittelmeer» im Kunsthaus Zürich diese Räume als wichtige «Gärzentren» auf den Sockel hob, richten sich viele Blicke darauf. Zum Leidwesen der Engagierten allerdings oft mehr über die Medien als vor Ort.

Ein gute Gelegenheit,die längst gehegte Absicht des Hingehens real umzusetzen, bietet die professionell gestaltete Ausstellung «Chambresville» im Dachstock der einstigen Solothurner Konsumbäckerei, die dem Kunstort den Namen gegeben hat. Was das Team mit Hannah Külling und Hubert Dechant, Anita Breiter, Raffaela Chiara und, last but not least, Christoph Lichtin hier seit November mit den eingeladenen Künstlern und Schriftstellern konzipiert und realisiert hat, weist die Gedankentiefe und die Bedeutung einer Kunsthallenausstellung auf.

Die Ausstellungen der letzten Jahre habe ihnen den Eindruck vermittelt, so das Team, dass für viele Kunstschaffende der Raum als statischer, sozialer, gesellschaftlicher Ort im Innern wie im Aeussern zu einem zentralen Thema der Auseinandersetzung geworden sei. «Chambresville», das in Nadine Olonetzkys Text zur «Stadt der Zimmer» wird, setzt sich darum mit dem Phänomen des Raumes auseinander. Nicht der Kunst im Raum, wie längst bekannt, sondern unserer Befindlichkeit in den realen und virtuellen Räumen, in denen wir uns tagtäglich bewegen.

Sieben Kunstschaffende – Eric Hattan, Christina Hemauer, Jürg Hugentobler, Hannah Külling, Boris Rebetez, Manuel Stagars und Hanna Züllig – haben sieben Räume gebaut, inszeniert, medial vervielfacht, von innen nach aussen, von aussen nach innen geführt. Und sieben Schreibende – Birgit Kempker, Nadine Olonetzky, Melchior Prisi, Urs Richle, Frieda Stamm und Bruno Steiger – haben Worträume geschaffen: Vernetzte, Assoziative, Experimentelle, Manipulierte, Traumverwandte.

Räume sind relativ geworden, über Internet reisen wir am Bildschirm um die Welt. Innenräume sind Aussenräume geworden, scheinbar. Vielleicht ist gerade darum der Aussenraum, der Stadtraum, die Strasse für viele Junge zum realeren «Zuhause» geworden. Ueber Räume nachzudenken, – in Worten, in bildnerischer Gestaltung – trifft einen Nerv der Zeit.

Eine der spannendsten Umsetzungen hat der Solothurner Jürg Hugentobler geschaffen. Seit langem beschäftigen ihn – als Plastiker und als mit Fotografie Schaffender – reale und fiktive Räume in bezug auf ihre psychische Wirkung. Nun hat er einen schiefen Raum ins Gebälk gebaut, der nur einseitig den Boden berührt; ein Unsicherheitsraum. Geht man hinein, fällt man beinahe; das Wahrnehmen von Proportionen gerät aus dem Gleichgewicht. Was an sich ein naturwissenschaftliches Phänomen ist, wird im Kontext zum eindrücklichen Sinn-Bild, das Kopf und Körper zugleich in Bann zieht.

Vieldeutig und rätselhaft sind Hannah Küllings «Alpha-Räume» zu Beginn des Ausstellungsrundganges. Ausgehöhlte Computer verwandelt sie in «Theaterbühnen» und bestückt sie mit miniaturisierten Baumaterialien. Als Arbeitsstationen inszeniert, werden die Digiboxen zum Paradox. Scheinbar zufällig stossen die Besucher am Ende des Parcours auf eine Abstellkammer, wo Hannah Külling die ihr als Vorbild dienenden Baumaterialien, diesmal in Originalgrösse, deponiert hat.

Ein Kontrastpaar bilden die Arbeiten von Eric Hattan und Manuel Stagars. Der kritische Basler schuf in Paris ein Video in einem verbarrikadierten Abbruch-Haus. Das Doppelband wird im Kontext zum Raum-Bildfür Existenz und Zerstörung. Dem Realitätsbezug Hattans stellt Stagars eine entrückte Welt in Rot, mit sphärischen Klängen und parfümierter Duftwolke entgegen. Einen Boden unter den Füssen braucht es da (scheinbar) nicht.

Mit der Raum-Projektion von Züllig, dem «Kino» von Rebetez und den «Stadtwanderungen» von Hemauer weitet sich die Ausstellung zum Ganzen. Schade fehlt ein «Leseraum», der den zweiten Teil des Konzeptes – das Buch (Edition Fink) mit den sieben Wort-Beiträgen – besser integriert hätte. Denn die durchaus analogen Ansätze der Bildenden und der Schreibenden bezüglich Realität und Fiktion, Wachsein und Träumen, sind gerade in der Wechselwirkung besonders spannend.

Buch: ISBN 3-906086. Fr. 28.-.