„Mayday“ im Centre d’art Neuchâtel (CAN) .2000

Die Sekunden vor dem Absturz

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 15.Dezember 1999

Jedes Jahr realisiert das vom Bieler Transfert-Direktor Marc Olivier Wahler geleitete Centre d’art Neuchâtel (CAN) eine Themenausstellung zur Kunst der 90er Jahre: „Mayday“ sucht die Spannung der letzten Sekunden vor dem Absturz.

In einem inhaltlich etwas übersteigerten, nichtsdestotrotz brillanten Text vergleicht Marc Olivier Wahler die Befindlichkeit der Kunst der 90er Jahre mit einem Zustand der Agonie. Kurz vor Umwandlung des Materiellen – somit auch des Menschen – in ein blosses Bildschirmdasein, bleibe dem Künstler nur „Mayday“ zu rufen. „Mayday“, abgeleitet von „m’aidez“, entspricht dem S.O.S – Ruf von Kampfpiloten kurz vor Betätigung des Schleudersitzes. Dieser Zustand der extremen Unsicherheit, in dem alles möglich ist – die Rettung ebenso wie der Tod – ist Thema der Ausstellung im CAN. Wesentlich ist dabei, dass es sich bei den ausgestellten Werken von Künstlern und Künstlerinnen aus aller Welt nicht um Arbeiten handelt, die für diese Ausstellung konzipiert wurden. Sie sind somit nicht Illustrationen eines von Wahler in die Welt gesetzten Themas, sondern – umgekehrt – Fundstücke der Recherche des Ausstellungsmachers.

Allerdings essen die Kunstschaffenden die Suppe nicht ganz so heiss wie sie der Kurator sprachlich bereitet. In der virtuellen Welt des Video ist es kein Problem, jemanden zu erschiessen und danach durch zurückspulen gleich wieder zum Leben zu erwecken (Tony Tasset/USA). Der Galgenhumor ist vielerorten präsent und das ist richtig, denn er lässt beides zu: Das Lachen wie das Schreien. Die Betonung liegt allerdings bei der Spannung. Etwa wenn wir das Experiment „Carmen“ der Amerikanerin Kirsten Mosher am Bildschirm mitverfolgen. Sie legte einen mechanisch aufgezogenen Bleisoldaten, dessen Spielzeugcharakter visuell nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, auf eine Hauptstrasse in New York und filmte anschliessend seinen „Todeskampf“ neben, zwischen, unter den Rädern der vorbeifahrenden Autos. Vom Thema her verwandt hiezu, aber emotional weniger direkt: Sophie Ricketts schwarz-weisse Fotos mit vage sichtbaren Gestalten auf einer nächtlichen Strasse; im Bild so angelegt wie sie uns vor dem Wagen aufscheinen würden, wenn wir auf dieser Strasse unterwegs wären.

„Mayday“ ist glücklicherweise nicht nur eine Video-Schau. Die Ausstellung appelliert – vereinzelt – auch an unseren Tastsinn; dort etwa, wo wir nicht so recht wissen, ob wir mit den Fingern prüfen sollen, ob die zum „Päckli“ zusammengekauerte Frauengestalt mit weit ausgebreiteten, schwarzen Haaren „lebendig“ sei oder nicht.

Verschiedenste Aspekte beinhaltet auch die „Skulpturengruppe“ des Franzosen Olivier Blanckart, welche die berühmte Foto von der Ueberprüfung von Che Guevarras Tod dreidimensional nachbildet. Obwohl wie eine Skulptur im traditionellen Sinn geschaffen ( das heisst, auch handwerklich verblüffend), bestätigt das heimliche Betasten den Verdacht: Alles nur Scotch, alles nur ein temporärer Ausstieg aus der medialen Foto-Realität. Doppelt spannend ist auch die Installation von Abigale Lane (GB), die in einem mit duftender Baumrinde ausgelegten, dunklen Korridor ein paar zuweilen rauchende Frauen-Schuhe in fahlen Licht zeigt. Zum einen ist da die Evokation des Unheimlichen, zum anderen entsteht als Geschichte dazu nicht ein Krimi, sondern ein Märchen.
Mit anderen Worten: Die Thematik der Ausstellung ist eigentlich gar nicht neu, denn die Angst vor dem eigenen Verschwinden – wie auch immer – ist eine Urangst. Analog kann man sich fragen, ob die Kunstschaffenden bei der Konzeption ihrer Werke zwischen 1974 und 1999 wirklich an „Mayday“ in einem existentiellen Sinn gedacht haben. Ob sie nicht vielmehr von der Filmwelt ausgingen, die als Science Fiction schon immer mit Bildern an der Grenze zwischen Leben und Tod Spannung erzeugte.

Nichtsdestotrotz ist Marc Olivier Wahlers Bündelung von Werken zum Thema ausgesprochen spannend und künstlerisch relevant, umsomehr als die Qualität der rund 20 Arbeiten weitgehend gleichwertig ist. Nicht zuletzt weil sie ein uraltes Thema mit Bildern und Medien einfängt, die zu unserer Zeit gehören. Auch wenn der Wandel der Interpretation dabei mitgedacht werden muss. Waren „fliegende Häuser“ bei Marc Chagall einst Ausdruck seiner Traumwelt, ist Peter Garfields mit Fotoshop manipuliertes, fliegendes „Mobilhome“ heute „fotografische Realität“.