49. Biennale der visuellen Künste in Venedig 2001

Akrobatik auf dem Plateau der Menschheit

www.annelisezwez.ch     Annelise Zwez in Bieler Tagblatt 11. Juni 2001

Noch nie war die Biennale Venedig so gigantisch gross. Und noch nie stand der Versuch, Kunst als existenzielle Dimension zu zeigen unter so viel kommerziellem Druck.

Das Timing ist perfekt. Am Samstag (09.06.2001) wurde mit der Biennale Venedig eine der weltweit bedeutendsten Kunstausstellungen eröffnet. Und morgen Dienstag öffnet in Basel die „weltbeste“ Kunstmesse ihre Tore. Was am Lido die Weihe erhält, wird in an der Art vermarktet. Wobei die Venezianer „Preview“-Tage die Grenzen immer fliessender werden lassen. Wer als Galerist – immerhin auf Einladung des Kurators – Geld in die Biennale steckt, will dieses über Verkäufe wieder sehen.

Dass diese unlösbare Verstrickung zwischen Kunst und Kommerz nun auch in Venedig überdeutlich erscheint, ist eine direkte Folge der Aufwertung der „Internationalen Ausstellung“, welche den traditionellen Länder-Vertretungen dieses Jahr noch mehr als 1999 den Boden abgräbt. Nach dem langen Marsch quer über das „Plateau der Menschheit“, das Harald Szeemann im Hauptgebäude in den „Giardini“ und im einstigen „Arsenale“ aufgebaut hat, empfindet man es fast nur noch als moralische „Verpflichtung“ die nationalen Pavillons abzuklappern. Und die Qualität lehrt einen – unbegreiflicherweise – selten eines besseren. Doch während die Länder-Vertretungen – mit 47 Einzel-Präsentationen in den „Giardini“ und zahlreichen Palazzi in der Stadt grösser an Zahl denn je – von den einzelnen Nationen finanziert werden, musste sich die „Internationale“ ihr Budget zusammenkratzen (sogar doppelt nach dem Loch, das die Architekturbiennale 2000 in die Kasse riss). Konkret heisst das, sich in Abhängigkeit von Sponsoren aus Wirtschaft und Kunstmarkt begeben. Richard Serras gigantische Stahl-Spiralen zum Beispiel – ein Highlight der Biennale – ist nur dank Gucchi da, Chris Burdens fliegende Dampfwalze (die Szeemann 1998 schon in Lyon zeigte) wegen Sponsorenmangel überhaupt nicht und viele Arbeiten verweisen, als Tribut für Engagements welcher Art auch immer, mehr oder weniger diskret auf ihre Galerieverbindungen. Zum Teil mit Erfolg. Wie man hört hat Mauritio Cattelans „Papstfigur den Boden küssend“ – sie war letztes Jahr in der Kunsthalle Basel zu sehen – eben einen Käufer gefunden. Preis: 850 000 Dollars. Und auch Stan Douglas‘ Video-Installation „Detroit“ (bis vor kurzem in der Kunsthalle Basel ausgestellt), soll im Wiederverkauf 850 000 Franken gebracht haben. Dennoch: Ilya und Emilia Kabakovs Installation „Not everyone will be taken into the future“ – eine quai-ähnliche Doppel-Plattform mit ungeordnetem Bilder-Schrott darauf und einem abfahrenden U-Bahn-Wagen in der Mitte wird sich mit Sicherheit ebenso bewahrheiten.

Nur ein Kurator von wirklich internationalem Format vermag es, trotz allem durchzuatmen und mit Humor, Engagement und subversiver Lust sich und seine Weltvision zu inszenieren. Dem Berner Harald Szeemann ist das mit „Plateau der Menschheit“ gelungen. Die Kunstkritikeria schimpft zwar bereits, er habe zu sehr seiner Sicht nachgelebt und die Wünsche der Künstler/-innen zu wenig berücksichtigt; sie mag recht haben. Beispiel: Die Bernerin Chantal Michel, welche durch Video-Werk-Wahl und Präsentation zu einer Art „Todesengel“ umfunktioniert wird. Die Qualität der Arbeiten sei äusserst unterschiedlich; auch das stimmt; sie reicht von miserabel bis unvergesslich. Seine „Maskottchen“ habe man nun endlich gesehen; richtig – Szeemann ohne Beuys, Twombly und Marisa Merz geht offenbar nicht, doch tut das kunstgeschichtliche Fundament eigentlich nur gut. Seine Sicht auf die Kunst der Frauen sei immer noch jene eines Machos; nicht von der Hand zu weisen. Auf die Frage einer Amerikanerin, warum er die Besuchenden am Eingang zum Arsenale mit dem herausfordernden Blick einer 5 x 5 Meter grossen, naturalistischen Knabenfigur des Australiers Ronald Mueck (43) konfrontiere, meinte Szeemann an der Pressekonferenz schmunzelnd: Jetzt, da die Frauen die Macht ergriffen hätten, sei es nichts als billig, dass die Sphinx ihr Geschlecht gewandelt habe. Die Arbeit ist übrigens exquisit. Konkret zeigt der Maestro aber dann doch nur den obligaten guten Drittel weiblicher Positionen, worunter viele spannende, aber auch solche mit längst überholten Frauenthemen. Im Extrem: Der mit klinisch sauberen Damenbinden tapezierte „White Cube“ der Südamerikanerin Priscilla Monge (33).

„Plateau der Menschheit“ sei keine thematische Schau, sondern eine Plattform, betont Szeemann im 3,5 Kilogramm-Katalog. Die Ausstellung zeigt tendenziell etwas anderes. Da ist insbesondere die andere Blickrichtung im Vergleich zu „dAPERTutto“ von 1999. Dominierten damals die gesellschaftlichen Strukturen der Globalität im Sinne von Solidarität wie von Konsum-Welt, fokussiert „Platea dell‘ umanità“ die Indvidualität des Menschen zwischen Erfolgsträumen und banaler Alltagsrealität, zwischen poetischer Erotik und fataler Gewalt, zwischen Höhenflügen und fatalen Stürzen. Diese gezielt ausgelotete Polarität ist es, welche die Spannung schafft und welche sich in den Qualitätsunterschieden der Werke quasi selbst spiegelt. Ob, wie Szeemann behauptet, der Ausdruck individueller Existenz die Entwicklung in der Kunst der kommenden Jahre sein wird, ist allerdings fraglich. Umso mehr als die Ausstellung mit ihrer Dominanz von Video- und Fotoarbeiten fast schon wie ein Rückblick wirkt. Dieser „Déja-Vu“-Effekt zeigt sich symptomatisch darin, dass der Chinese Hai Bo (39) in der Szeemann-Ausstellung und der völlig unbekannte Montenegriner Milija Pavicevic (51) im jugoslawischen Pavillon dieselbe Foto-Arbeit zeigen, nämlich sich selbst am selben Ort, vor 25 respektive 45 Jahren und heute. Anders, ähnlich und spannender sind in diesem Kontext die Porträts von Rineke Dijkstra (42), die israelische Soldaten und Soldatinnen in Uniform und als Privatpersonen zeigen. Das Individuelle, gesehen in der Geschichte von Anderen ist, ganz allgemein, wesentlich stärker vertreten als die Ich-Form, was zweifellos mit dem Phänomen Kamera als Blick auf die Welt zu tun hat. Lars Siltberg (33) lässt einen Judoka mit Kugeln an den Füssen und den Händen versuchen, das Gleichgewicht in Wind, Wasser und auf Eis zu halten (ohne Erfolg). Tatsumi Orimoto (51) sucht Grenzgänge der Kommunikation am Beispiel seiner an Alzheimer erkrankten Mutter. Magnus Wallin zeigt virtuelle Krüppel, die mit aller Kraft vor einem sie jagenden Feuer zu fliehen suchen und dabei Stück um Stück verschluckt werden. Die Welt der PC-Play-Stations spiegelt sich in der aktuellen Video-Kunst ebenso wie, zum Beispiel, der Sport. Sei es das GC und St.Gallen für die Kamera der Schweizerin Ingeborg Lüscher in Massanzügen Fussball spielen und dabei die Schizophrenie von Geld-Macht und individueller Lebensfreude zeigen. Sei es, dass Artigas (30) an der (geschlossenen) amerikanisch-mexikanischen Grenze ein Basketball- und ein Soccer-Team aus Tijuana respektive San Diego miteinander spielen lässt. Oder sei es, hintergründiger, dass Zakharov (42) im russisch-orthodoxen Priestergewand mit einem asiatischen Sumo Wrestler kämpft und dabei verliert. Die Fülle ist enorm – unvergesslich bleibt u.a. das kleine, erotische Video von Salla Tykkä (28), das ein junges Mädchen zeigt, wie es einem jungen Mann zuschaut, der sich im Haus seiner Eltern im Lasso Schwingen übt. Oder – in grösster technischer und emotionaler Spannweite dazu – die gänzlich virtuell und romantisch-sanft respektive im Science-Fiction-Fleischeskampf ausgetragenen „Liebesgeschichten“ von Chris Cunningham.

Die Länder-Pavillons versuchen zum Teil durch andere Medien, durch Konzentration auf einen Künstler Kontraste zu schaffen. Gelungen ist das zum Beispiel England, mit der souveränen Präsentation von Mark Wallinger, der sich in einem deutlich englischen Umfeld mit Fragen der Wahrnehmung beschäftigt. Oder Belgien, das mit Luc Tuymans einen auch in der Schweiz hochgeachteten Maler zeigt, der sich in inhaltlich radikaler und malerisch subtiler Form mit der Aufarbeitung der Geschichte Belgiens und des Kongos befasst. Traditionell radikal ist der österreichische Pavillon – diesmal ist es eine Black-Box mit wissenschaftlich fundierten (extrem teuren) Sound- und Licht-Vibrationen. Anspruchsvoll und damit herausfordernd ist auch der US-Pavillon mit der sehr musealen Präsentation von Robert Gober. Doch während da der Minimal-Aspekt ein Rund schafft, fällt der nordische Bungalow mit seiner Klang-Installation und minimalen Architektur-Fragmenten durch. Auch der japanische Auftritt mit der Zelebration des Mac Donald „M“ als weltverbindender Zeichensprache ist nicht erinnernswert. Den stets vielbeachteten deutschen Pavillon mit dem Umbau durch Gregor Schneider haben in den „Preview“-Tagen nur wenige gesehen, da kaum jemand Lust hatte zwei Stunden Schlange zu stehen. Dasselbe gilt für den kanadischen Pavillon. Nachhaltiger eingeprägt haben sich einige Präsentationen in den Palazzi in der Stadt – vielleicht auch nur, weil man nach dedektivischer Suche froh war, die Kunst gefunden zu haben. Als positives Beispiel: Estland, das u.a. ergänzende Arbeiten von Ene-Liis Semper präsentiert, die auch auf dem „Plateau der Menschheit“ mit einem Video vertreten ist, das Selbstmord-Varianten als sich kontinuierlich repetierende und sich wieder auflösende Ornamente zeigt.

Urs Lüthi oder Art for a better life
Es ist eigenartig, dass die Landes-Präsentationen in den eigenen Ländern mehr Echo haben als in Venedig selbst. An der Vernissage im Schweizer Pavillon fühlte man sich wie an einem VIP-Anlass in Bern oder Zürich. Und männiglich lobte, die Schweiz verkaufe sich nach Fischli/Weiss (1997) und Roman Signer (1999) einmal mehr gut. Ob die internationale Presse da gleicher Meinung sein wird, ist fraglich. Urs Lüthis ironische Selbstinszenierung, die zugleich auf seine eigene Star-Zeit in den 60er/70er Jahren („Urs Lüthi weint für sie“) Bezug nimmt wie auf die Banalität der Life-Style-Werbung („Art for a better life“) zeigt die Unmöglichkeit, sich als alternder Casanova nicht täglich auf „jung“ zu trimmen. Köstlich, dass Lüthi im Keff Koons auf die Schippe nehmenden Wachs-Nachbild seiner selbst praktisch dieselbe Pose einnimmt, in der US-Kunststar Vanessa Beecroft auf dem „Plateau“ ihre schöne Schwester im 12-Stunden Rhythmus des Tageslichtes fotografierte. Mag sein, dass die Inszenierung ein bisschen allzu platt ist – die Werbung zu sehr 1:1 aufnimmt – aber, nur damit kommt man an einer Biennale durch und das gehört beim Denker, der Lüthi im Hintergrund immer ist, mit zum Konzept. Schön, wie er damit nicht zuletzt Szeemann persifliert, der im Kern auch nichts anders macht, als sich mit der Jugend (der jungen Kunst) selbst fit zu halten. Bei Lüthi sieht das so aus: Links ein Totenkopf (Fotografie), im Zentrum gleichgeschaltete Videos, die Lüthi auf einem Fitness-Gerät joggend zeigen (bis es ihm zu blöd wird und er aufhört) und rechts ein Gogo-Girl, das Jugend, Liebe und Schönheit verspricht (Werbeplakat). Sehr viel anspruchsvoller gibt sich die Schweiz in der Kirche San Staë – die traditionell von Schweizer Künstlern bespielt wird. Das Ostschweizer Duo Möslang/Guhl füllt die Kirche mit elektronischen Klängen (live aus den Kanälen Venedigs). Wer loslassen kann, mag sie meditativ erleben. Wer zu aufgepeitscht ist, wird sich fragen, warum die dazugehörenden Farb-Frequenzen nur im Katalog zu sehen sind. Populär wird diese Arbeit im Biennale-Sommer wohl kaum.

Die Preise
Mit den goldenen Löwen der 49. Biennale Venedig, die traditionellerweise für Gesamtwerke vergeben werden, wurden Cy Twombly und Richard Serra ausgezeichnet, die beide zum kunstgeschichtlichen Fundament der Szeemann-Ausstellung gehören. Sie sind mit herausragenden, neuen Arbeiten vertreten. Serra mit riesigen, begehbaren Stahl-Spiralen, die sein Werk erstmals in einen symbolischen Kontext stellen; Cy Twombly mit den farbigsten Notaten aller Zeiten – Werke, die in einem mystischen Sinn bereits über die Lebenszeit des 73jährigen Künstlers hinausweisen.

Der Preis für den besten Pavillon ging (einmal mehr) an Deutschland. Für Gregor Schneiders fast unmerklichen Umbau des faschistischen Gebäudes in ein Labyrinth mit Korridor, Treppenhaus, Kaffee-Raum und Liebeslaube.
Die Spezialpreise gingen zum einen an die Kanadier Janet Cardiff und George Bures Miller für ihre Inszenierung zwischen Film und Kino, betitelt „The Paradise Institute“. Hart an der Grenze zwischen Realität und Fiktion, Traum und Leben hebt ihre „kubistische“ Raum und Zeit-Collage die Physik der Wahrnehmung auf. Zum andern an die italienische Künstlerin Marisa Merz (76), deren arte povera Köpfe aus Ton dem Menschsein an der Basis von Form Ausdruck geben. In Venedig sind sie u.a. in Spannung zur kalten Fotoserie amerikanischer Todeszellen von Lucinda Devlin gestellt. Und zum Dritten an Pierre Huyghe, der im französischen Pavillon komplexe Raum- und Zeitebenen als Wechselwirkung zwischen körperlicher und digitaler Wahrnehmung inszeniert.

Die Preise für junge Künstler/-innen gingen an Federico Herrero (23) für seine fragmentierte Bild-Welt im Comic-Stil, an Anri Sala (26) für ihr sehr schönes Video eines einsamen, alten Mannes im Bahnhof von Mailand, an John Pilson (33) für sein humoristisches Video „Mr Pickup“ und schliesslich an den guatemaltekische Künstler A1-53167 (37), der mit Aufnahmen einer Militärparade in Guatemala City politische und poetische Momente verquickt.

Der nicht offizielle Preis der Stiftung Panthalon ging an den Schweizer Urs Lüthi.

Die Schweiz in Venedig
Die Schweizer Kunstschaffenden sind Venedig relativ gut vertreten. Mit Pinselabdrücken von Niele Toroni, mit Com &Coms filmischer Interpretation der Tell-Saga als reiner Promotion-Arbeit (sie war 2000 im Kunsthaus Zürich zu sehen), mit den (aus den 50er/60er Jahren stammenden) Auto-Unfall-Fotos des Polizisten Arnold Odermatt (76), mit dem Fussball-Video „Fusion“ von Ingeborg Lüscher (kürzlich in Zürichs Bahnhofhalle uraufgeführt), einer Video-Boden-Projektion von Chantal Michel und einer langen Reihe von Bronze-Kamel-Köpfen von Not Vital, die – sinnig für das „Plateau“ als Ganzes – bei Ebbe über und bei Flut unter dem Wasser zu sehen sind. Highlights wie vor zwei Jahren (Hersberger, Hirschhorn, Rist, etc.) fehlen.