Bern: Psychiatrie-Museum trifft Kunstmuseum. 2001

Bourgeois und Polke treffen Köchli und Kropf

www.annelisezwez.ch     Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 14. April 2001


Es gebe keine Kunst der Geisteskranken, sagt der Leiter der Wölfli-Stiftung, nur Kunst, die unter verschiedenen Bedingungen entstehe. Ein Werk-Dialog im Kunstmuseum Bern prüft die These.

In zwei Sälen links und rechts des Hodler-Saales – einem Kernstück des Berner Museums – trifft sich zur Zeit Ungewöhnliches: Johannes Gachnang grüsst Adolf Wölfli, Pierre Klossowski zeigt sich mit seinem Bruder Oskar Bütikofer, Louise Bourgeois schaut hinüber zu A. Köchli und Meret Oppenheims Blick trifft auf Mandalas von Ernst Bollin. Die einen Werke stammen aus dem Kunstmuseum, die anderen aus dem 1993 eröffneten Berner Psychiatriemuseum in der Waldau. Die einen wurden von Kuratoren gesammelt, die andern – zu Unterrichtszwecken – vom Psychiatrie-Arzt Walter Morgenthaler. Zu seinen Patienten zählte unter anderem Adolf Wölfli, dessen Werk 1975 geschlossen ans Kunstmuseum Bern ging.

Ausgehend von Wölflis fantastischer Welt ist die These des Leiters der Wölfli-Stiftung, Daniel Baumann, wonach es keine Kunst der Geisteskranken gebe, sondern nur Kunst von Menschen unterschiedlicher Befindlichkeit, nachvollziehbar. Und von daher auch das Konzept der Ausstellung, das in zunächst unbeschriftetem Dialog Werke aus den Kunstsammlungen des Museums und der Waldau zusammenführt. Dieses ist auf den ersten Blick spannend und aufschlussreich; dort zum Beispiel, wo es mehrere Blicke braucht, um die leicht bekleideten, weiblichen Mannequins von Oskar Bütikofer von den zeichnerisch-literarischen Obessionen von Pierre Klossowski (dem Bruder von Balthus) zu unterscheiden. Schlussendlich hapert Baumanns These jedoch, da Adolf Wölfli eine vielleicht weltweit nie wieder erreichte Ausnahmeerscheinung ist, dessen Werk darum entstand, weil – tragisches Paradox – die Waldau dem Knecht Zeit dazu schenkte. Ansonsten hinken viele ungefilterte Vergleiche. Es gibt unter Psychiatrie-Patienten prozentual nicht mehr herausragende Künstler/-innen als unter den sogenannt „Gesunden“.

Das heisst nicht, dass das Phänomen, respektive die Berner Ausstellung nicht interessant wäre, nicht dieselbe schöpferische Quelle hier und dort erkennbar wäre. Allerdings eingeschränkt auf Kunst, die mit dem Reichtum unbewusster Bilder arbeitet; surreal im weitesten Sinn des Wortes ist.

Es ist nicht Zufall, dass die erste grosse Welle der Beachtung der Kunst von Geisteskranken – und Outsidern ganz allgemein – in die 60er-Jahre fällt, als der Surrealismus zu seiner zweiten Blüte ansetzte. Und in Bern, dank der Sammlung Morgenthaler, besonders intensiv wahrgenommen wurde, da der Zufall Harald Szeemann und die Waldauschätze zusammenführte und von hier 1963 zu einer der ersten Art Brut-Ausstellungen überhaupt führte. Allerdings – und da täuschen sich jüngere Kunsthistoriker/-innen – wäre es im Outsider-Boom der 60er- und vor allem 70er Jahre niemandem in den Sinn gekommen, das Spezifische der Outside-Kunst auszuklammern – denn man wollte sie ja als „wahre“ Alternative zur Hochkunst (des Bürgertums) verstanden wissen.

Insofern ist das Konzept des jungen Wölfli-Stiftung-Leiters neu, indem er die Ansätze der Ausstellung „Der letzte Kontinent“ (1997 in der Landesbibliothek Bern) schrankenlos mitten ins Hodler-Herz des Berner Kunstmuseums stellt. Und damit die in den 90er Jahren versandete Outside-Kunst-Diskussion neu ankurbelt – just gleichzeitig wie in Stuttgart und Zürich Surrealisten zu neuen Ehren gelangen, das Kunstmuseum des Kantons Thurgau das Werk des Outsiders Hans Krüsi im Überblick präsentiert. Das Kunstmuseum Langenthal (ab Mai) die Art brut-Sammlung des „Lagerhauses“ in St.Gallen zeigt sowie das Kunstmuseum Lausanne Aloïse und Alice Bailly einander gegenüberstellt. Eine Tendenz?