Kassel: Eine Dokumenta, die dokumentiert 2002

Kunst als politischer Prozess

www.annelisezwez.ch     Annelise Zwez in Mittelland-Zeitung vom 10. Juni und Bieler Tagblatt vom 11. Juni 2002

Die Erleichterung, dass die documenta11 allen Unkenrufen zum Trotz ein Augenerlebnis ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Okwui Enwezor um Radikales geht.

Die grundlegende Richtung, in welche die documenta11 gehen würde, wurde bereits Ende 1998 bestimmt, als mit Okwui Enwezor (39) ein Politikwissenschafter zum künstlerischen Leiter ernannt wurde. Als Nigerianer (mit Wohnsitz in Chicago) musste er die Chance packen, die bröckelnde Kunstdominanz des weissen Westens definitiv zu brechen. Er tut dies nicht nur mit multikulturellen Positionen aus allen Kontinenten, sondern auch mit einer radikalen Absage an die das 20. Jahrhundert bestimmende These der Autonomie der Kunst. Zu oft hätten sich die Avantgarden in Formalismen verloren, sagt Enwezor. Kunst sei indes nur dann von Bedeutung, wenn sie sozial, kulturell und politisch relevant sei und mit ihren Mitteln Position ergreife wider Rassismus, Macht und Repression. Bezogen auf die Gegenwart heisst das für ihn Kunst, die sich gegen die Globalisierung als „mathematische Logik“ des Kapitals respektive für eine das Ende des Kolonialismus respektierende Weltgemeinschaft engagiert.

Indes: so wie der charismatische Intellektuelle mit Co-Kuratierenden zusammenarbeitete ohne dass es zu Eclats gekommen wäre, so setzt auch seine documenta bei aller Klarheit der Zielsetzungen nicht auf Fundamentalismus, sondern auf historisches Bewusstsein. Damit wird trotz der Bedeutung dokumentierender Arbeiten zu Rassismus, Krieg und Unterdrückung ein Klima der Hoffnung quer durch die Ausstellung erreicht. Es wird nicht schwarz-weiss, nicht mit Schock oder Ekel argumentiert, sondern mit Dokumentation, Lebensnähe und sinnlicher Sachlichkeit.

Eigentlich begann die Dokumenta schon vor 18 Monaten mit dem ersten kulturpolitischen Forum in Wien und Berlin, dem weitere in New Dehli, in St. Lucia (Karibik) und Lagos folgten. Die Themen der Plattformen, nämlich „Demokratie als Entwicklungsprozess“, „Wahrheitsfindung und Versöhnung“, „Kreolisierung“ (Integration afrikanischstämmiger Gemeinschaften) und „Urbane Prozesse in Afrika“ bilden auf individuell-persönlicher wie kollektiv-gesellschaftlicher Ebene das Netz für die fünfte Plattform, die Ausstellung in Kassel.

Die 118 vereinten Einzelkünstler/-innen und Gruppen bilden eine Bilanz des Widerständigen, vorab in Film, Video, Fotografie und Installation rund um den Erdball. Geschickt vermeidet Enwezor indes Angriffsflächen indem nichtsdestotrotz alle Stil- und Gestaltungsformen von der Malerei über die Zeichnung bis zur skulpturalen Installation vertreten sind. Beispiele: Zarina Bhimji (39) kehrte mit einer Kostengutsprache der documenta erstmals nach Uganda zurück, von wo sie 1974, als Idi Amin die asiatische Bevölkerung vertrieb, nach London geflohen war. Ihr Film erzählt in einer Abfolge nackter, verlassener Räume suggestiv von der traumatischen Präsenz von Erinnerung, die sie schliesslich durch Feuer zu bannen sucht. – Aus dem Schaffen von Candida Höfer (58) wählte Enwezor Fotos der 12 Abgüsse von Rodins „Bürger von Calais“ an ihren Standorten zwischen Basel und Tokio. Sie stehen im Kontext der documenta11 für Geschichte, für Bürgerinitiative, für Vernetzung, aber auch für Abhängigkeit von der jeweiligen Umgebung. – Tania Bruguera (34) realisierte mit einem Chèque der documenta eine Installation, die ausnahmsweise nicht ihre kubanische Geschichte reflektiert, sondern Kassel als einstigen Rüstungsstandort. Massiv geblendet von Scheinwerfern ist im Dunkel nur mechanischer Waffentakt hörbar. Wer durch den Raum tappt sieht rückwärts wer am Hebel sitzt.

Leider vertraut Enwezor und sein kosmopolitisches Team nur selten auf die Kraft solcherart suggestiv-reduzierter Bilder und lässt auch Humor und Ironie nur selten zu (etwa bei Yinka Shonibares theatralischer Kolonial-Satire). Zu ernst ist ihm die Kunst, zu drängend seine Vision. Doch das führt unweigerlich zur Ermüdung, zur Unmöglichkeit die Vielzahl der Filme, Internetprojekte und Dokumente fundiert wahrzunehmen. Wortlos dankt man Boris Groys für sein Katalog-Statement, worin er das neue Kunst-Schuldgefühl beschreibt, nämlich davongelaufen zu sein und vielleicht das Entscheidende verpasst zu haben.

Trotzdem ist diese documenta eine über weite Strecken überzeugende. Steven McQueens Video, aufgenommen in einer Goldmine in Südafrika, ist in ihrer Umsetzung von Mensch, Maschine, Schweiss und Licht eindringlichst. Annette Messagers Soft-Sculpture-Inszenierung puppenhaft fleischlicher Perversitäten von Macht und Unterdrückung schreibt sich ein. Leon Golubs politisch-expressive Malerei hat nichts an Kraft und Zynismus verloren. Seifollah Samadians filmisches Haiku einer schwarz vermummten Frau im weissen Schneegestöber Teherans ist ortsspezifisch und zeitlos eindrücklich. Raffinierte Kontrapunkte sind die Zeit einem musikalisch-performativen Bogen gleich dehnenden Endlosnotate von Hanne Darboven und On Kawara („One million years“).

Schwieriger ist es dort, wo Enwezor Gerechtigkeit walten lassen will, Künstler/-innen einlud, die im Untergrund kulturpolitische Arbeit leisteten, doch jetzt von der Zeit überholt wurden. Das esoterische Farb-Rad der Amerikanerin Adrian Piper (55), die Dislozierung des Ateliers des Kroaten Ivan Kozaric (81) nach Kassel, die alt 68er-Installation des Brasilianers Artur Barrio (57) sind Beispiele. Problematisch ist die Auswahl auch da wo, Filme und Fotografien nicht über ihre dokumentarische Bedeutung hinauskommen.

Was hingegen positiv wiegt, ist die professionelle, räumlich präzise, niemanden einengende Inszenierung. Die erstmalige Bespielung der alten Binding-Brauerei neben Fridericianum und documenta-Halle erweist sich als Gewinn, auch wenn man den früher so wichtigen Gang in die Karlsaue nicht verpassen sollte. Renée Greens poetische Hör-Pavillons sowie der Audio-Tunnel der US-Gruppe Simprach „erlösen“ vom (allzu) Befrachteten andernorts und erinnern nebenbei, dass es auch noch andere Themen gäbe. Gut für die documenta12.

Schweizer Künstler/-innen sind in Kassel kaum vertreten; die zwei Beispiele sind jedoch gewichtig: Dieter Roth (1930 – 1998) und Thomas Hirschhorn (45); beide eine Art geniale Chaoten. Das „Bataille-Monument“ des in Paris lebenden Aargauers und „Enfant terrible“ der Schweizer Kunstszene wird allseits gelobt, da es gemeinschaftliches Agieren nicht nur dokumentiert, sondern direkt umsetzt. Hirschhorn hat in einem Arbeiterquartier mit viel Karton, Sperrholz und Klebstreifen Baracken und eine Skulptur zu Ehren von Georges Bataille (1897 – 1962) aufgebaut. Der französische Schriftsteller befasste sich in „explosivem“ (T.H.) Bild- und Wortmaterial mit Tabus und deren Übertretung. Zusammen mit Anwohnern betreibt Hirschhorn vor Ort ein TV-Studio, eine Imbiss-Stube und eine Bibliothek. Von Dieter Roth hat man eines seiner als Relikte bisher unangetasteten, masslos vollgestopften Ateliers nach Kassel gezügelt, wo es Einblick in die tragische Unmöglichkeit Zeit, Schöpfung und Verfall in Einklang zu bringen, aufzeigt. Zusätzlich wird das bekannte „Tagebuch“ – 30 Filmprojektoren mit Super-8-Filmen aus dem „Gelebe“ des Künstlers präsentiert.

Dass die Schweizer Präsenz in Kassel mager ist, hat nicht nur damit zu tun, dass das Kuratorenteam wenig Beziehung zur Schweiz hat. Sondern vor allem damit, dass der politische Impakt der documenta in der Schweizer Kunst kaum präsent ist, das kritische Kommunizieren mit der Welt hierzulande nicht eben beliebt ist und wenn schon eher in subversiver, ironischer, zynischer Form daherkommt (z.B. bei Fabrice Gygi) als dokumentarisch. Etwas anders sieht es aus, wenn man schaut, wie breit die an der documenta vertretenen Kunstschaffenden in den letzten Jahren in Schweizer Institutionen repräsentativ gezeigt wurden. Louise Bourgeois, Bruly-Bouabré, Cecilia Edelfalk, Maria Eichhorn, Luc Tuymans, Raymond Pettibon, Meschac Gaba in Bern, Hanne Darboven, On Kawara, Mona Hatoum, Jeff Wall, Candida Höfer, Stan Douglas in Basel, James Colemann in Luzern, Craigie Horsfield, Gabriel Orozco, Pierre Huyghe, Steven McQueen und Juan Munoz in Zürich, wo ab Freitag überdies Eija-Liisa Ahtila zu sehen sein wird.