Nachruf Serge Brignoni

Einst mit Picasso auf Du und Du

www.annelisezwez.ch   Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 8. Januar 2002


Bei der Retrospektive im Kunstmuseum Bern 1997 nutzte Serge Brignoni den Stock mehr, um zu zeigen, als sich abzustützen. Am 6. Januar 2002 ist der Nestor der Schweizer Kunst 99-Jährig gestorben.

Er war vielleicht der letzte, der authentisch von den Malern der Klassischen Moderne im Paris der 20er- und 30er-Jahre zu berichten vermochte. Nun ist auch er nicht mehr. «Bei Picasso», so erzählte er einmal, «hatte man stets das Gefühl, er müsse den Stier erlegen.» Doch nicht nur mit Picasso war er auf Du und Du, auch mit Giacometti, mit Mondrian, mit Breton und vielen anderen. Die Pariser Jahre prägten ihn – was nach der erzwungenen Rückkehr in die Schweiz 1940 folgte, war in gewissem Sinn «nur» die Vertiefung und die Erweiterung des in der Freiheit des surrealen Geistes Erkannte. Wachstum und Wandlung zwischen Mikro- und Makrokosmos blieben lebenslang seine Leitmotive.

Voller Tatendrang brach der in Bern aufgewachsene Tessiner 1922 nach Berlin auf. Doch der Ruf von Picasso lockte ihn schon ein Jahr darauf nach Paris. Durch Kontakte in den Bistros, durch Studien an der Académie André Lhôte befreite er sich von der akademischen Tradition. Um 1930 vermochte er sich auch formal vom Aussenbild zu trennen, um fortan konstruktive und organische Formen ineinanderfliessen zu lassen. Bereits 1927 nimmt er mit der «Ecole de Paris» an der Biennale Venedig teil und hat in der Folge Ausstellungen in Paris, in London, in der Schweiz. 1935 ist er in der Europa und Amerika bereisenden «Exposition internationale de Surréalisme» vertreten; als Maler wie als Plastiker.

Wie spätestens eine 1989 die Schweizer Eisenplastik aufarbeitende Ausstellung in Dietikon zeigte, war Serge Brignoni nicht nur einer der bedeutenden Schweizer Maler des Surrealismus, sondern auch der erste Schweizer Eisenplastiker (ab 1934). Wenn auch zahlenmässig nicht vergleichbar mit der Malerei, so blieb die surreale Skulptur doch mit Unterbrüchen bis in die späten 80er-Jahre wichtig.

1940 kehrt Serge Brigoni mit seiner Frau, der Tänzerin Graziella Aranis, nach Bern zurück; ein schwieriger Wechsel. Umso mehr, als bei einer Überschwemmung das in Paris zurückgelassene Frühwerk zerstört wurde. Und Paris nach dem Krieg nicht mehr das Paris war, das er verlassen hatte. So musste Brignoni in Bern Fuss fassen. Anfänglich war das nur möglich, indem er sich anpasste und gegenständliche Landschaften malte.

Doch spätestens ab den 60er-Jahren (die eine Renaissance des Surrealismus bringen) vermag er wieder einzudringen in seine Träume, in die Bilder innerer und äusserer Natur, in der Figuren, Zeichen und mäandrierende Linien zur Vision sich unablässig erneuernden Wachstums werden. Es entsteht ein grosses surreales Werk, das in der Schweiz sowohl historisch, wie aktuell Beachtung findet, aber international kaum mehr rezipiert wird. Noch bis vor kurzem war Brignoni häufig in seinem Atelier am Falkenhöheweg in Bern anzutreffen. «Gute Geister» halfen dabei. Als er 1996 in einem Interview gefragt wurde, ob er Angst vor dem Tod habe, antwortete er: «Manchmal denke ich: In sieben Jahren wirst du hundert. Wenn du es schaffst, ist es gut; wenn du es nicht schaffst, ist es auch gut».

1988 fand in der Abbatiale de Bellelay eine grosse Retrospektive statt, die insbesondere die Dimensionen seines malerischen Werkes eindrücklich aufzeigten. Kunsthistorisch bedeutsamer war indes die Retrospektive, die 1997 im Kunstmuseum Bern stattfand. Nicht zuletzt weil parallel dazu im ABC-Verlag die erste gültige Monographie (Autor: Fritz Billeter) erschien. Wenn auch das durch die Forschung herauskristallisierte Ziel, die Gleichwertigkeit von Skulptur und Malerei aufzuzeigen, nicht gültig genug zum Tragen kam, so etablierte die Ausstellung den hochbetagten Künstler doch definitiv als einen der grossen der Schweizer Moderne.

Serge Brignoni war nicht nur ausübender Künstler sondern auch Sammler. Über Jahrzehnte hatte er eine bedeutende Sammlung an aussereuropäischen Skulpturen angelegt, die er später als Konvolut dem Museum Heleneum in Castagnola schenkte. Zweifellos hat die Auseinandersetzung mit der für alle Maler der Moderne wichtigen Formensprache archaischer Kulturen auch seine Malerei und sein skulpturales Schaffen beieinflusst.