Ich muss mich unendlich irren

Eine Annährung an Willi Müller, den Gestalter des Seebutz-Jahresblattes 2002

Annelise Zwez

Eigentlich ist es eine cézannsche Haltung, welche die Malerei von Willi Müller prägt. Was heisst das? Cézanne (1839-1906) versuchte in seinem Spätwerk, insbesondere der Reihe der „Badenden“, die nur schemenhaft bekleideten Figuren mit der sie umgebenden Natur, den Bäumen, dem Schilf, den Pflanzen so zu verbinden, dass sie auf der Ebene des Bildes, in der Pinselhandschrift zu einer Einheit wurden. Auch in der Malerei von Willi Müller, insbesondere in den neueren „Gartenbildern“, ist sicht- und spürbar, dass die oberste, die am gegenständlichsten sichtbare Bildebene eng verbunden ist mit vielfarbigen, hell übermalten Schichten darunter.

Und wie bei Cézanne geht es auch bei Willi Müller nicht nur um das Bild – nicht um die Badeszene respektive um die sich rankenden, gelb blühenden Gurken oder die kreuz und quer im Bild stehenden Malven. Sondern um den Ausdruck einer sehr persönlichen „Landschaft“. Als Cézanne seine „Badenden“ zu Beginn des letzten Jahrhunderts malte, stand das Einbringen des Individuellen in die Handschrift der Malerei noch ganz am Anfang. Darum ist Cèzanne auch ein Pionier. Doch während er noch kaum zu formulieren wusste wie sehr seine malerische Entwicklung mit der Befriedung von inneren Konflikten einher ging, weiss ein Künstler heute – bald 100 Jahre nach Sigmund Freud und C.G. Jung – sehr viel mehr, wonach er sucht und was sich an stummen Dialogen zwischen ihm und dem Bild abspielt.

Es geht um den Vulkan

Willi Müller bringt es auf dem Punkt, wenn er sagt: „Es geht um den Vulkan“. Wenn er in seinem Atelier am Egliweg in Nidau dieselben Leinwände immer wieder hervorholt, um weiter daran zu arbeiten, so heisst das ganz einfach, dass es immer noch brennt (im übertragenen Sinne des Wortes), dass ein Ungleichgewicht da ist, dass das Helle und das Dunkle, das Blühende und das Welkende, das Licht und das Wasser, das Freudige und das Traurige noch nicht zu jener Melodie gefunden haben, die er in sich hört und die er im Bild spielen will. Dieser Prozess ist nicht ein rationaler – oder nur insofern als der Maler um grundlegende Kriterien der Malerei weiss – sondern primär ein intuitiver. „Oft kann ich wirklich nicht sagen, warum ein Bild plötzlich fertig ist“, sagt er und fügt gleich an, „manchmal merke ich es auch nicht und zerstöre den Moment wieder. Dann kann es lange gehen bis ich ihn wieder finde und es ist nicht mehr derselbe.“

Willi Müllers Pinselhandschrift ist nicht diejenige Cézannes. Er darf 100 Jahre Malerei später viel mehr an persönlichem Gestus zeigen, viel mehr auf den Prozess des Schichtens von Bildebenen hinweisen, das Untere im Oberen zeigen, das Übermalte als „unterirdisch“ Wirkendes stehen lassen. Doch im Kern geht es immer noch um dasselbe: Ein Bild zu finden, in dem sich gegenläufige Energien in einem fragilen Gleichgewicht halten und darin vibrieren. „Ich muss mich unendlich irren“, sagt Willi Müller und weist damit auf den zugleich lust- wie schmerzvollen Prozess des Malens und die Schwierigkeit aus der Fülle der Bewegungen des Pinsels auf der Leinwand schliesslich einen verbindlichen Moment, eine „Haltestelle“ zu finden, quasi im richtigen Moment auszusteigen.

Das Sichtbare umsetzen

Dass er Maler werden möchte, wusste der 1951 im aargauischen Wynental geborene schon als Kind, wenn auch noch sehr unbedarft. Einfach darin, dass Zeichnen für ihn eine Möglichkeit war, mit dem Leben zurecht zu kommen. „Er sei ein schwieriges Kind gewesen“ sagt er. Manchmal habe er seine Mutter um eine Schaufel gebeten, um damit ein Loch in die Erde zu graben, so tief und so gross, dass er darin Platz fand. Dann habe er es wieder zugeschaufelt. Man habe ihn gewähren lassen, sagt er rückblickend, dankbar, doch um ans Lehrerseminar gehen zu dürfen, habe es die Überzeugungskraft der Lehrer gebraucht…. Und selbst da habe er noch nicht eigentlich gewusst, was Kunst sei und darum auch, nach drei Jahren als Primarlehrer, die ersten beiden Prüfungen an die Kunstgewerbeschulen von Bern und Basel schlicht „verschlafen“. Erst beim quasi letzten Versuch in Zürich habe er langsam gemerkt, um was es gehe, nämlich darum sich selbst einzubringen, darum das Sichtbare durch Veränderung umzusetzen.

1974 bis 1978 absolviert Willi Müller an der heutigen Hochschule für bildende Kunst in Zürich die Ausbildung zum Zeichenlehrer. Es prickelte damals an der Schule, der Zeit zwischen den Globus-Krawallen (1968) und der AJZ-Bewegung (1980). Lehrer zweier Generationen spannten das Feld zwischen Tradition in der Nachfolge der Gebrüder Gubler und Aufbruch zu einer gesellschaftsbezogenen persönlich-kritischen Haltung im Sinne von Joseph Beuys. Willi Müller hat die Widersprüche durchlebt bis er schliesslich auf einer bewussten, einer persönlich-individuellen Ebene an die (an seine) Tradition anknüpfen konnte. Während für manche Mitstudierenden der Besuch der Dokumenta 1977 mit Beuys‘ „Freier Universität“ zum Herzstück ihrer Ausbildungszeit wurde, war es für Willi Müller eine scheinbar kleine Begebenheit. Aufgrund persönlicher Beziehungen zur Schule, wurden einige Studenten abbeordert, dem Zürcher Bildhauer Hans Josephsohn (geb. 1920 in Königsberg) beim Umzug seines Ateliers zu helfen. Josephsohn, der Einzelgänger, dessen Werk eben jetzt international auf Beachtung stösst, hat zeitlebens an der Wechselwirkung zwischen modellierender Hand, zwischen Oberflächenbeschaffenheit und figürlicher Plastik gearbeitet. „Ein Bildhaueratelier zügeln ist etwas sehr Intimes“ sagt Willi Müller, „als Student all die kleinen, wichtigen Dinge, Skizzen, Modelle eines bedeutenden Künstlers in die Hand nehmen dürfen, das prägt.“ Umsomehr als Josephsohn Interesse für die junge Generation zeigte. Jahre später entstand so etwas wie Freundschaft zwischen Hans Josephsohn und Willi Müller und der Bildhauer besucht heute noch die meisten Ausstellungen Müllers; vor zwei Jahren fand er sogar den Weg ins abgelegene Vinelz.

Es geht hier nicht um „fishing for compliments“, nicht darum einen international weniger bekannten Künstler mit einem „Grossen“ in Verbindung zu bringen, sondern darum aufzuzeigen, wie sich die reiche „Hautarbeit“ Josephsohns, in seinen überlebensgrossen Torsi zum Beispiel, in den Bildern Willi Müllers in gewissem Sinn wiederfindet. Der Künstler spricht davon, dass sich seine Bilder im Malprozess zuweilen „verflüssigen“, die Formen und Motive nicht mehr greifbar sind und dann in einem nächsten Arbeitsgang wieder soviel Gestalt annehmen müssen, dass Lebendigkeit entsteht.

Von Zürich ins Seeland

Nach den „Umwegen“ der 70er Jahre mit Malerei zum einen, installativen Materialarbeiten und Super 8-Filmen (u.a. „Ein Ort: Der Himmel“) zum anderen, zieht Willi Müller aus dem anregenden, aber zuweilen auch „nervigen“ Zürich in die Region Biel. Seine Frau, Dorette Liniger, ist Lehrerin hier und die beiden nehmen Wohnsitz über dem „Café Cyrano“ in Evilard, „eine Wohnung mit traumhafter Aussicht“. Seine Teilzeit-Stelle als Zeichenlehrer am Gymnasium Rämibühl behält er bei. Noch heute reist er mehrfach wöchentlich nach Zürich, führt quasi ein Leben als Unterrichtender dort und als Maler hier. „Die Zugfahrten sind keine verlorene Zeit“, sagt er. „Immer zwischen Solothurn und Aarau zeichne ich.“ Dabei entstehen kleine figürliche, landschaftlich oder stillebenartige Skizzen, mal mit Kohle auf unbedrucktes Zeitungspapier oder mit einem weichen Bleistift in kleine Büchlein. Es sind Fingerübungen, in denen sich malerische Entwicklungen vorbereiten. Irgendwie scheint es nicht ganz zufällig, dass sie zwischen Solothurn und Aarau entstehen. Denn der Aargau respektive seine Kindheit sind ihm nach wie vor wichtig und es gibt sehr wohl Bezüge von seiner Malerei zu jener des Mittellandes von Eugen Maurer (1885 – 1961) bis zu Heiner Kielholz (geb. 1942) und in Parallele zu seinem Malerfreund Peter Küng (geb. 1951).

Obwohl sich Willi Müller seit Anbeginn wohl fühlt im Seeland, hat er nie laut versucht sich in Szene zu setzen – seine Bilder sind ein Spiegel seines Charakters: Eher nach innen, denn nach aussen orientiert, lieber einem einzigen Gedanken nachhängend als einer grossen These. Lieber lesen als grosse Diskussionen führen oder wenn schon, lieber im kleinen Kreis. So kommt es, dass in Evilard und später in Nidau ein namhaftes, malerisches Werk entstanden ist, von dem die Künstlerschaft der Region und ihr Zugewandte zwar Kenntnis haben, aber ohne dass ein grosser Kreis davon weiss. Seine Ausstellungsliste ist eine stetige, aber keine karriereorientierte, seine Malerei eher ein Geheimtipp, auch wenn sich seit einigen Jahren Veränderung, Öffnung, mehr Leichtigkeit ansagt.

Mit dem Umzug ins Seeland veränderte sich der künstlerische Ausdruck Willi Müllers. Weg von Zürich trat die Malerei wieder ganz ins Zentrum. Dabei widmete sich der Künstler längere Zeit primär der Figur respektive der Figurengruppe, den Beziehungen zwischen Körpern, Formen und Farben. Mal war es eher die Form, welche die Rhythmen bestimmte, mal eher die Pinselhandschrift; in Richtungs- und Farbwechsel stehende Schraffuren zum Beispiel. Dabei gab es aber auch stets Landschafts- respektive Naturbezüge und in allem die eigene innere Handschrift.

Neue Motive

In den 90er Jahren dehnten sich die Pinselzüge, wurden breiter, farbbetonter und drängten das Gegenständliche an den Rand: Horizontale und Vertikale bildeten – ohne geometrisch zu werden – die Leitplanken zahlreicher Bildkompositionen. Diese „Befreiung“ gab dem Künstler die Möglichkeit, neue Motive anzugehen und dabei das Offene und das Bestimmte, das Gestische und das Subtile miteinander zu verbinden. Es entstanden (und entstehen) Reihen mit „Einfachen Dingen“ – Tellern, Tischen, Stühlen, Dosen, kleinen Brettchen, Spritzkannen, die indes mehr Form als Motiv sind, nämlich rund, eckig, Raum füllend oder Raum teilend. Den Part spielen nicht die Dinge, sondern die Malerei; das Licht, das einfällt, die Bewegungen der pinselführenden Hand, die Verbindungen von Raum und Materie. Der Ort ist dabei stets näher beim Klang als beim Griff, näher beim Fühl- denn beim Realkörper.

In Parallele entstanden (und entstehen) Bilder, die den Titel „Quartiere“ tragen. Architek-tonische Szenerien, die Raum und Volumen thematisieren, ohne indes urbanistische Tendenzen zu meinen. Willi Müllers Bilder entführen auch hier eher in Zonen der Vorstellung, formen sich eher mit emotionalen denn mit handfesten Materialien.

Die Liebe zum Garten

Willi Müller liebt den Garten des Hauses in Nidau, das er mit seiner Frau und seinen drei Kindern bewohnt, und das Wachsen und Blühen der Pflanzen im Jahreszeitverlauf ist ihm nahe. Schon lange, aber in seine Bilder drang diese Welt kaum ein. „Sie war mir zu nahe, ich konnte sie nicht denken, sie war ja da“, sagt er. Doch mit dem Umzug ins Atelier am Egliweg in Nidau, das hell und geräumig ist, jedoch kaum Blicke in die Natur gewährt, ist das seit einigen Jahren nun anders. Jetzt kann er den Garten, respektive seine Beziehung dazu in Bilder umsetzen. Die Blüten vereinzeln und in den Bildraum stellen ohne dass sie ihren „Duft“ verlieren. Sie durchs Bild ranken, sie aufblühen, verwelken lassen und dann wieder neu schöpfen. „Es ist etwas ungemein Schönes, etwas im Bild entstehen zu lassen“, sagt der Künstler und man spürt im Klang seiner Stimme, dass sie aus dem Innersten kommt. Gerade mit dieser Bildreihe hat Willi Müller eine Öffnung bewirkt, auch zum Publikum hin, das sich im Bereich der Natur gut einbringen und auch die Fragilität als Qualität erspüren kann. Willi Müller weiss um die Gefahr des „Schönen“ und darum entstehen wohl plötzlich auch Bilder, die „Abseits“ heissen. Auch sie sind „Gartenbilder“, doch offensichtlich randständige. Wollen sie nicht vergessen lassen, dass nicht alles wächst, was gesägt oder gepflanzt wird, dass es in Gärten auch wuchert, verdrängt, die eine Pflanze die andere rücksichtslos aus dem Wege schafft? Weder die Natur noch der Mensch ist Idylle. Und gerade diese Spannung ist Willi Müller Motivation für jedes neue Bild und auch die Lithographie, die er im Steindruck-Atelier der Gassmann AG im Bözingenfeld als Jahresblatt des „Seebutz 2002“ geschaffen hat.