Vier Jahrhunderte durcheinandergewirbelt

„Zeitmaschine“ im Kunstmuseum Bern.Bieler Tagblatt 22. März 2002

Erstaunlich, was in Bern in Sachen Kunst aufbricht: Die Tradition mit Lust über Bord werfende „Zeitmaschine“, welche die Sammlungsbestände des Kunstmuseums atemberaubend durcheinanderwirbelt, ist ein begeisterndes Beispiel.

Seit Jahren wird in den Museen Europas über spannendere Möglichkeiten der Präsentation hauseigener Sammlungen diskutiert. Die „Zeitmaschine“ im Kunstmuseum Bern liegt somit im Trend. Doch das auf deutschen Beispielen fussende Konzept des museumsintern für die Sammlung zuständigen Ralf Beil ist mehr als eine Imitation. Es bespielt das ganze Haus von oben bis unten, scheute nicht davor zurück Wände einzureissen, die bei der Eröffnung des Neubaus versenkten üppigen Bilderrahmen wieder hervorzuholen und so gewagte Kombinationen wie Albert Anker und Annelise Coste, die Berner Nelkenmeister und den Russen Kabakov, Adolf Wölfli und den deutschen Harald Klingelhöller zu inszenieren.

Zeitgenössische Künstler auf die bestehende Sammlung reagieren zu lassen, ist nichts grundsätzlich Neues, auch in Bern nicht. Es sei zum Beispiel an die spannenden Interventionen von Muriel Olesen und Gérald Minkoff vor einigen Jahren erinnert. In der „Zeitmaschine“ geht es auch, aber nicht nur um solche Dialoge, wenngleich Joseph Grigleys aus Sammlungsbeständen zusammengestellten „Conversations Pieces“ zu den Höhepunkten der Ausstellung gehören. Es geht ebensosehr darum in der gesamten Präsentation der Sammlung die Chronologie der Kunstwissenschaft zu durchbrechen und inhaltliche, formale, sinnliche und überraschende Querverbindungen entstehen zu lassen. Und dies nicht auf „Teufel komm raus“. Es wird nicht einseitig auf Kontrast gespielt, es geht nicht nur um „Bilderstreit“, es gibt auch spaziergangähnliche Wechsel. Auf die sattfarbenen Bilder des „Blauen Reiters“ auf gelben Wänden zum Beispiel folgen die nur mit einem Hauch von Erinnerung arbeitenden Aquarellskizzen von Luc Tuymans auf weissem Grund. Wer sie ins Visier nimmt, realisiert wie sich darin nicht zuletzt die farbige Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und die traumatische Verarbeitung von 2.-Weltkrieg-Erlebnissen begegnen.

Auch das Kunsthaus Zürich probte kürzlich in den Haupträumen des Museums die Aktualisierung der Sammlung. „Bilderschatz“ war der Titel und versammelte in kunterbunter Folge die Highlights des Hauses. Ah und Oh herausfordernd, hochkarätig, aber furchtbar langweilig. Wie spannend geht es im Vergleich in Bern zu. Da wird gedacht, gespielt, experimentiert – und selbst ausgehend von kunstwissenschaftlich nicht zu den grossen Top gehörenden Werken ganze Ambiente geschaffen. Etwa im Soussol, das auf einmal nicht mehr mausgrau daherkommt, sondern dunkelgrün und wo – man staune – die jahrelange Enge der Raumabfolgen durch mutiges Abbrechen mehrerer Wände aufgebrochen wurde.

Unterirdischer Blickfang ist eine grossformatige, spätmittelalterliche Leinwand des Berners Joseph Plepp von 1633, ein in konzentrische Kreise eingeteiltes Welt-Theater zwischen Diesseits und Jenseits. Daran angelehnt ein „magischer“ Stab von Andreas Hofer, davor am Boden gerissene Farbpapiere von Adrian Schiess und daneben der riesige Polyurethan-Topf von Fischli/Weiss (alles Arbeiten aus den 1980er Jahren). Kritisch ins Visier genommen von einem „Berner Patrizierkind mit Papagei“ von 1732 (J.U. Schellenberg). Da kommen Zeiten und Gedanken ganz schön ins Rotieren, doch bevor sich die Sinne im Kreise zu drehen beginnen, löst ein helles Pfeifen die Spannung. Anlässlich der Restauration der „Chicago-Wand“ von Dieter Roth wurden die integrierten Tonbänder vereinzelt und klingen nun da und dort durch die Räume, im Soussol als munteres Pfeifkonzert, wobei der Lautsprecher sinningerweise direkt neben einer Serie von Kinderzeichnungen Roths aus den 30er Jahren platziert ist.

Die Kunst-Bestände, die da durcheinanderwirbeln, stammen aus der hauseigenen Sammlung sowie dem Museum zur Verfügung stehenden Stiftungen, die Adolf Wölfli-Stiftung zum Beispiel, aber auch die „Stiftung Kunst heute“. Die relativ dichte, bei Sigmar Polke gar installativ komprimierte Hängung, füllt das Haus randvoll: 450 Arbeiten von 63 Künstler/-innen auf 1912 m2. Wer alles sehen will, muss ganz schön Ausdauer haben. Die vier Jahrhunderte stehen in einem schönen Wechselspiel; der Entwicklung der Kunst entsprechend, dominiert jedoch die Gegenwart. Nicht zuletzt, um den Boden zu bereiten für das geplante „Kunstmuseum Bern Gegenwart“ als Teil des bestehenden Kunstmuseums und um die Bedeutung aktueller Ankäufe zu dokumentieren. Als jüngstes Werk hat eine faszinierende Installation von Markus Raetz (ein Geschenk der Mobiliar-Versicherung) im Rahmen der Ausstellung Première. „Bioscoop“ (holländisch „Kino“) zeigt vor einer dünnen Leinwand ein von hinten angestrahltes Mobile zweier Gesichter, die aufgrund feinster Luftzüge ihren Ausdruck wandeln.

Spezifisch und gewinnbringend für die „Zeitmaschine“ ist auch ihr Bekenntnis zu Bern. Nicht nur im Sinne der Gewichtung von Berner Künstlern von Joseph Plepp über Ferdinand Hodler, Adolf Wöfli, Meret Oppenheim, Franz Gertsch und Markus Rätz. Sondern auch zur Kunstszene Bern. Noch nie wurde die 1983 in einem Kauf/Schenkungs-Deal übernommene „Sammlung Toni Gerber“ in einem Gesamtkontext so gewichtet. Und sie spiegelt, wie nichts Zweites, was sich im Bern der 60er und 70er Jahre an Experimenten abspielte, warum Künstler wie James Lee Byars, Sigmar Polke und andere auch „Berner“ Künstler sind. Dieses Bekenntnis zu Bern hat nichts Provinzielles, im Gegenteil, es zeigt vielmehr, wo der sich in jüngster Zeit anbahnende Aufbruch der Berner Kunstszene ihren Nährboden hat. Wermutstropfen ist und bleibt auch diesmal und trotz der Highlight-Hängung der Werke von Meret Oppenheim (im Verbund mit dem „ägyptisch-vikingischen Flugski“ von Raetz) die krasse Untervertretung der Künstlerinnen im Kunstmuseum Bern.

Katalog ab 26. Mai.