Sandra Böschenstein Museum Allerheiligen Schaffhausen 2003

Das Wirkliche ist eine Teilmenge des Möglichen

www.annelisezwez.ch     Annelise Zwez in Schaffhauser Nachrichten vom 1.Oktober  2003

Obwohl in der Kunst-Welt von Sandra Böschenstein die verrücktesten Dinge passieren, ist ihre Ausstellung im Museum Allerheiligen gänzlich unspektakulär. Der Brisanz steckt im Detail.

Es ist das von Schreiner Bernhard Sigg nach Massgabe der Künstlerin angefertigte Lesepult, das den Wechselausstellungssaal im Museum Allerheiligen als Objekt räumlich bestimmt. Die feine punktierte Linie, die dem Gedanken, wonach die „kürzeste Strecke für ein Treffen unwahrscheinlich“ sei, folgt und den Raum umspannt, ist auf Distanz nicht sichtbar. Ebenso das Geschehen in den wenigen grösserformatigen Zeichnungen an der Wand. Sandra Böschenstein zeichnet für Leser und Leserinnen.

Ein Konzept wider das Laute in der Welt, ist ihr Werk dennoch nicht. Denn würde die Künstlerin materialisieren, was sie zeichnet, wären das Installationen, Objekte, Skulpturen, Performances von keineswegs kleinem Format. Ihr Zeichnen ist somit eine Art Umkehrung. Weil die Visionen zu raumgreifend sind, packt sie sie ins Kleine, um sie im Kopf virtuell zu konstruieren. Genauso wie das die Sprache auch tut. Und diese spielt – als Inhalt und als Schriftbild – eine wichtige Rolle im Werk von Sandra Böschenstein.

Man kann noch weitergehen und sagen, dass die Kleinformatigkeit der Zeichnungen die Gleichberechtigung mit der Sprache dokumentiert, dass in der Wechselwirkung zwischen Wort (Gedanke) und Zeichnung die Essenz liegt und darum eine gleiche Lesedistanz notwendig ist. Man soll nicht, wie andernorts, hingehen und lesen, zurücktreten und schauen; nein, man soll lesen und schauen gleichzeitig und im Zwischenraum das Hinterhältige, Humorvolle, Fantastische, Paradoxe als Dynamik erfahren.

Den Schlüssel gibt die Künstlerin vielleicht mit ihrem Satz, wonach sie in einer Frust-Situation – noch während der Ausbildung in Bern (1989-95) – die Linie zu ihrem „Material“ erklärte. Ein Material, mit dem man die Welt auf den Kopf stellen kann, Reales und Mögliches ausprobieren, Grundfragen prüfen und selbst Liebesbeziehungen ausleuchten.
Einen zweiten Schlüssel findet man in der Biographie der in Stein am Rhein heimatberechtigten Künstlerin, die 1988 ein Philosophiestudium in Zürich begann und dann eine Kunst-Ausbildung in Bern wählte, weil die (damalige) Integration in die Universität eine Verbindung von Kunst und Philosophie ermöglichte.

Daraus ergibt sich die Vision der Künstlerin, ihr Schaffen zu nutzen, um Gedanken-Gebäude zu bauen. Auf ihre Vorbilder befragt, kommt – unweigerlich – Leonardo da Vinci ins Gespräch. Und die Epoche des Barocks. Doch so weit braucht man nicht zu gehen; speziell in der Schweiz wurde immer viel gezeichnet – von Adolf Wölfli bis zur Innerschweizer Innerlichkeit (André Thomkins, Aldo Walker, Ilse Weber, Philipp Schibig usw.). Doch im Gegensatz zu den 1970er-Jahr-Künstlern geht Sandra Böschenstein – (un)ähnlich frühen Zeichnungen von Mario Sala – ganz stark vom Schauen aus, von Themen des Alltags, von gesellschaftlichen Beobachtungen, wissenschaftlichen Versuchen, Experimenten und nicht von surrealistischen Vorgaben.

Doch gerade da wird ihr Stift spitz und man fragt sich, wie sie ihre „Gebäude“ konstruiert. Ausgangspunkt sind die Arbeitshefte, die sie – wo auch immer – mit Skizzen und Gedanken füllt. Die eigentlichen Zeichnungen entstehen dann aber direkt auf dem Blatt, in der unmittelbaren Konzentration auf das Tun. Vielleicht liegt da der Grund, dass Böschenstein oft nicht mit Linien, sondern mit winzigen Punkten arbeitet. „Die Langsamkeit“, so sagt sie, „gibt mir Zeit“. Wobei die kurzen Kommentare einmal schon da sind, einmal erst während des Zeichnens Inhalt annehmen. Dabei sind die stärksten Erfindungen jene, in denen Wort und Bild eng verknüpft sind und doch nicht gleichgerichtet. Etwa wenn es heisst „Chaos ist ein Stützstrumpf bei Orientierungsverlust“ und ein bestrumpftes Bein-Fragment zu sehen ist, indem Kabelstränge wuchern.

Im Zentrum ihrer Ausstellung – es ist die bisher grösste der 36-Jährigen – steht der Zyklus „Das Mögliche ist – die Geschwindigkeit des Wirklichen“. Daraus ergeben sich „Ereignisse“, „Ereignisstränge“, „Ereignislandschaften“. Damit gab sich die Künstlerin quasi einen Arbeitsweg, eine Denkstrasse, ohne dass die – mit Ausnahme der grösserformatigen „Labors“ – bildergeschichtenartig aufgebauten Blätter aber kausal verknüpft wären. Sie sind „Teilmengen des Möglichen“.

Man kann sich fragen, ob die Reihungen nicht die einzelne Zeichnung mindern. Denn jede ist für sich eine Geschichte – man nehme als Beispiel die „verrückte“ Idee: „dem Bett die Welt zeigen, von der ich jeweils träume“ oder den Gedanken: „Auf Kontinuität setzen und vom Zufall perforiert werden“.

Die Zeichnungen sind die Vorlagen für das gleichnamige, vom Museum herausgegebene Künstler-Buch und man frägt sich, ob Ausstellung und Buch nach denselben Kritierien funktionieren können. Vom Aspekt Ausstellung her sind die grösserformatigen Zeichnungen, die sich auf eine Idee konzentrieren – etwa die Sitzung der „Folgenabschätzkommission“ – oder in den Raum ausgreifen wichtiger, wenn auch nicht tragend. Dasselbe gilt für die feine punktierte Linie, die auf etwa 1.50 Meter Höhe dem Raum entlang zieht, obwohl sie nicht nur selbstreferentiell ist, sondern die Wand mit ihren Unebenheiten thematisiert und schliesslich in winzige räumliche „Inverventionen“ mündet. Die Balance des Möglichen ist – speziell in diesem grossen Raum – nicht ganz gefunden. Nichtsdestotrotz ist es ein Genuss, Sandra Böschenstein zu folgen, um anhand ihrer Zeichnungen die Hirnstränge (endlich) wieder einmal anders zu nutzen. Hoffnungsvoll.